6561770-1948_52_05.jpg
Digital In Arbeit

Der „Sieg der fortschrittlichen Biologie” in Rußland

Werbung
Werbung
Werbung

Gegensatz zu den Erfolgen der Züchtet hinweist, so liegt darin doch eine große Gefahr. Die Erfolge der russischen Züchter wurden ja zum großen Teil durch die richtige Verwertung der wissenschaftlichen Grundlagen erreicht und eine Vernachlässigung der Grundlagenforschung oder deren diktatorische Beschränkung muß zu einer Verarmung und Irreleitung des wissenschaftlichen Fortschritts führen, der sich zwar nicht sofort, aber wohl im Laufe von Jahrzehnten auch im Zurückbleiben der angewandten Genetik und damit in der Landwirtschaft äußern muß.

Worin besteht nun der Konflikt Lysenkos mit der wissenschaftlichen Vererbungslehre, soweit man aus den bisher zugänglichen spärlichen Quellen schließen kann? Lysenko behauptet, experimentelle Beweise für eine echte Vererbung erworbener Eigenschaften gefunden zu haben. Er hat eine in einigem Widerspruch zu gesicherten biologischen Kenntnissen stehende Theorie für ihr Zustandekommen ausgearbeitet, wie er überhaupt auch sonst recht abwegige biologische Anschauungen vertritt, zum Beispiel über die Vorgänge bei der Befruchtung. Er sieht in der Vererbung der durch Umwelteinflüsse bewirkten Änderungen den Weg der natürlichen Artbildung und der praktischen Sortenzucht. Er stützt sich dabei vor allem auf Pfropfungsversuche. In diesen wurden die Eigenschaften des Pfropfreises durch die Unterlage verändert — eine der Wissenschaft schon vertraute Erscheinung. Diese Änderungen wurden nun durch die Samen des Pfropfreises auch auf die Nachkommen mehr oder weniger übertragen, und dies wird als Vererbung erworbener Eigenschaften gedeutet. Die Vererbungswissenschaft verfügt über ausgedehnte Erfahrungen über die Änderung erblicher Eigenschaften (Mutationsauslösung) durch äußere Einflüsse, vor allem Röntgenstrahlen, Temperatur, chemische Wirkungen. Es scheinen auch gewisse Mutationsschritte durch bestimmte chemische Einwirkungen bevorzugt aüsgelöst zu werden. Dies alles hat jedoch gar nichts zu tun mit der „Vererbung erworbener Eigenschaften” im Sinne des Lamarckismus, also der erblichen Fixierung von durch Umwelteinflüsse bewirkten Eigenschaftsausprägungen im Sinne einer.

Der vorliegende Bericht stützt sich auf Artikel in der Zeitschrift „Unter der Fahne des Marxismus” von 1939/40, auf Berichte in der „Iswestija” und der „Prawda” vom August und September 1948, auf Artikel im „österreichischen Tagebuch”, der „Brücke”, der „Volksstimme” von 1948, auf ein Buch T. Lysenkos von 1944, das in wortgetreuer englischer Übersetzung erschien, und auf einen Augenzeugenbericht des englischen Botanikers E. Ashby von 1945.

Der „Sieg der fortschrittlichen Biologie” in Rußland ist ein Phänomen, das weit über die Fachkreise hinaus Beachtung verdient und von großer geistesgeschichtlicher Bedeutung ist. Ihm gingen länger als zehn Jahre dauernde Kämpfe innerhalb der russischen Wissenschaft voran. Die Vererbungslehre wurde in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Rußland außerordentlich gefördert, sie war durch zahlreiche Lehrkanzeln und Institute vertreten und durch eine Reihe von hervorragenden Forschern, deren Namen international bekannt sind und die durch ihre bahnbrechenden Arbeiten auf manchen Teilgebieten der Genetik führend waren. Viele von ihnen haben jetzt der Treue zu ihrer wissenschaftlichen Überzeugung alles zum Opfer gebracht. So wurden die Genetiker Dubinin, Schebrak, Sere- browsky, Schmalhausen und der Botaniker Nawaschin abgesetzt und ihre Institute geschlossen oder umorganisiert und viele andere Forscher wurden gemaßregelt. Doch auch Rektoren und Dekane mancher Universitäten wurden öffentlich gerügt, auch viele Leiter von landwirtschaftlichen Instituten wurden abgesetzt, die leitenden Stellen der wissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Akademien und die Redaktionsstäbe der wissenschaftlichen Zeitschriften wurden umbesetzt. Alle Lehrbücher und Vorlesungsprogramme, die ganze wissenschaftliche und züchterische Ausbildung soll im Sinne der neuen Richtung reformiert und die Gleichschaltung und Säuberung soll bis in die letzten Gliederungen der wissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Betriebe weitergeführt werdet?. Die Initiative, die die staatlichen und die Parteibehörden zu diesen so umfassenden Maßnahmen veranlaßt hat, ging von einer Schule aus, die von dem Mitschurin-Schüler T. Lysenko geführt wird, der nun die höchsten Machtbefugnisse in seiner Hand vereinigt.

Der 1935 verstorbene große russische Züchter J- W. Mitschurin war ein genialer Gärtner, ähnlich dem berühmten Amerikaner Burbanks, und ein energischer Organisator. Ihm und seiner Schule verdankt Rußland unendlich viel. Durch seine großen Erfolge in der Sortenzucht von Kulturpflanzen tragen jetzt tausende Hektar Boden in Sibirien reiche Obsternten, wo vorher niemals ein Obst reifte. Wein wird mit Erfolg in Gegenden gebaut mit bis 40 Kältegraden im Winter. Von Mitschurin eingeführte und jetzt auch in anderen Ländern geübte neue Methoden im Getreideanbau haben geholfen, das russische Volk in den schlimmsten Jahren vor dem Hungertode zu bewahren. Mit Recht wird sein Andenken in höchsten Ehren gehalten und mit Recht genießt sein kongenialer Schüler und Nachfolger T. Lysenko hohes Ansehen. Wenn aber Lysenko in seinem Kampf gegen die wissenschaftliche Genetik immer wieder auf deren praktische Fruchtlosigkeit im „somatischen Induktion”. Den Bemühungen von Tausenden von Forschern der letzten Generationen ist es nicht gelungen, eine echte Erblichkeit von umweltbedingten Änderungen (Modifikationen) nachzuweisen. Schwerwiegende Bedenken gegen eine solche Möglichkeit ergeben sich auch aus unseren heutigen allgemeinen Kenntnissen von der Struktur und Wirkungsart der Erbmasse. Trotzdem steht die Vererbungswissenschaft dem Gedanken an diese Möglichkeit nicht dogmatisch ablehnend gegenüber, wie überhaupt eine aufstrebende, rein empirisch eingestellte Naturwissenschaft jeder neuen Experimentalerfahrung, jeder Hypothese von heuristischem Wert stets aufgeschlossen ist. Nur muß sie experimentielle Beweise fordern, die allen Ansprüchen ihrer bewährten Methodik genügen und die Möglichkeit einer Nachuntersuchung bieten. Allgemeine Behauptungen, einseitige Berichte über polemische Diskussionen und eine wortreiche Propaganda voll von Verdächtigungen und Beschimpfungen der Wissenschaftler sind keine geeignete Grundlage zur Entscheidung erfahrungswissenschaftlicher Fragen. Als Kerkis, ein russischer Kritiker Lysenkos, einmal an diesen die Frage stellte, warum Nachuntersuchungen . seiner Pfropfungsversuche negativ ausgefallen seien, antwortete dieser: „Wenn Sie ein bestimmtes Ergebnis erreichen wollen, dann werden Sie es auch bekommen. Ich kann nur solche Menschen brauchen, die das erreichen, was ich haben will.” („Unter der Fahne des Marxismus”, 1939, Heft 11.) Lysenko bedient siela auch in seinem Buch vielfach einer emotionell betonten Sprache, er findet die Diskussion seiner Gegner kalt und blutleer. Die Behandlung erfahrungswissenschaftlicher Fragen ist nun aber eine Sache des nüchternen Verstandes. Wenn sie Sache der politischen Leidenschaften werden sollte, dann wäre es wohl besser, das Wort Wissenschaft rechtzeitig aus unserem Sprachschatz zu streichen. Es ist außerordentlich bedauerlich, daß die russischen Genetiker der Lysenko-Schule nicht am diesjährigen internationalen Kongreß für Vererbungsforschung in Stockholm erschienen sind, um über ihre Arbeiten zu referieren. Es wäre dringend zu wünschen, daß endlich die Experimentalarbeiten Lysenkos und seiner Schüler in vollem Umfang der internationalen Wissenschaft zugänglich und ihre Erfahrungen zum Gegenstand ausgedehnter, methodisch einwandfreier Untersuchungen gemacht würden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß ein so erfolgreicher Züchter und ausgezeichneter Experimentator wie Lysenko sehr interessante neue Wege beschritten hat, wenn auch seine theoretischen Deutungen vorläufig als nicht akzeptabel erscheinen.

Der Konflikt Lysenkos mit der wissenschaftlichen Genetik geht aber leider noch tiefer. Er und seine Schule lehnen mit Entschiedenheit die Chromosomenlehre der Vererbung, die Bedeutung der Mendelschen Gesetze für die Erbanalyse, die Gentheorie und die Mutationsforschung als verderbliche Irrtümer ab. Die Polemik über diese Fragen unter den russischen Biologen war außerordentlich heftig und die siegreiche „fortschrittliche” Biologie verfügte die Ausmerzung dieser wesentlichen Bestandteile der Vererbungswissenschaft aus Forschung und Unterricht. Die Argumentation Lysenkos ist vornehmlich philosophisch-weltanschaulich. Der verpönte „Mendelismus, Weismannis- mus und Morganismus” wird eine „idealistische, reaktionäre, mystische” Lehre genannt, ihrer Unterdrückung wird politische Bedeutung beigemessen. Dem steht der abendländische Beobachter zunächst völlig verständnislos gegenüber. Sind doch die allgemeinen Formulierungen der Bastardspaltung nach Mendel und der Chromosomenlehre nach Morgan nichts anderes als nüchterne, logisch einwandfreie Darstellungen von zahlreichen speziellen experimentellen Erfahrungstatsachen. Die Aussage „Die Morgansche Chromosomenlehre ist idealistisch und reaktionär” klingt für uns ebenso sinnlos wie etwa die Aussage „Die Newtonschen Gravitationsgesetze smd blau”. Lysenko nennt die wissenschaftliche Vererbungslehre „formale Genetik” und wirft ihr vor, daß sie die Lebensvorgänge künstlich in mathematische Formeln pressen wolle. Die Forderung nach statistischer Sicherung der Resultate wird von seiner Schule als „unbiologisch” und „unwissenschaftlich” abgelehnt. Nun sind aber doch die mathematischen „Formeln” der Vererbungslehre nichts anderes als die denkökonomisch und logisch einzig einwandfreie Form der Wiedergabe zählbarer Versuchsresultate und die Forderung der statistischen Sicherung der Verhältniszahlen eines Versuches ist eine Forderung der reinen Logik, nicht aber etwa ein Versuch, Lebendiges mit mathematischen Untersuchungsmethoden zu behandeln) was niemandem einfällt.

Wenn man versuchen will, das Phänomen der „fortschrittlichen,Biologie” zu verstehen, so ist eine Berücksichtigung der soziologischpsychologischen Verhältnisse in Rußland unerläßlich. Neben dem Bestreben, eine spezifisch russische Richtung der „westlichen, bourgeoisen” Wissenschaft entgegenzustellen, ist vor allem der fanatische Glaube an den unbegrenzten Fortschritt ein populäres Argument der neuSn Lehre. Der Züchter muß das Bewußtsein haben, durch seinen Einfluß jede gewünschte Sorte züchten und damit jede landwirtschaftliche Aufgabe erfüllen zu können, und darf sich nicht durch den Gedanken gehemmt fühlen, auf die Selektion und Kombination der im Material gegebenen erblichen Möglichkeiten angewiesen zu sein. Dann muß man sich mit dem unbedingten, bei uns unbekannten Autoritätsglauben vertraut machen, der gewissen biologischen Autoren des 19. Jahrhunderts entgegengebracht wird, zum Beispiel Darwin, während merkwürdigerweise die wahren geistigen Väter der Richtung, Lamarck und Spencer, nicht genannt werden. Dieser Autoritätsglaube erklärt auch den leidenschaftlichen Kampf gegen Weismann, der uns als ein Kampf gegen Windmühlen erscheint, denn die Lehren Weismanns sind, sosehr sie auch seiner Zeit heuristisch wertvoll waren, längst überholt. Das wichtigste ist jedoch die Fundierung alles Denkens und damit auch aller Wissenschaft in den Grundsätzen des dialektischen Materialismus. Die neue Genetik glaubt nun — uns nicht ganz verständlich, warum — mit der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften und mit der Ablehnung der Chromosomenlehre, der Mendelschen Gesetze und der Gentheorie den Dogmen des dialektischen Materialismus besser zu entsprechen. Damit werden die Vorgänge in der russischen Biologie zu einem Ereignis von größter geistesgeschichtlicher Bedeutung. Denn hier wird, zum zweitenmal in der Geschichte der modernen Biologie, der Versuch gemacht, von einer philosophischen Position aus einen wohlfundierten Teil einer Erfahrungswissenschaft zu leugnen, beziehungsweise zu bekämpfen. Bezeichnenderweise wurde von der Akademie der Wissenschaften die Abteilung für Geschichte der Philosophie (!) beauftragt, sich mit der Kritik des „Morganismus” und der Propaganda für die neue Lehre zu befassen. Hiezu muß man bedenken, daß die auf der Mendelschen Erbanalyse und der Zytologie basierte Chromosomenlehre keineswegs etwa eine Theorie, sondern ein Teil der exakten Naturbeschreibung mit dem höchsten Grad von Evidenz ist. Sie ist auf einem ungeheuer großen Versuchs- und Beobachtungsmaterial gegründet, das nicht etwa nur an der Fliege Drosophila, sondern an vielen hundert verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, von einzelligen Algen bis hinauf zu den höchsten Blütenpflanzen, zu den höchsten Tieren und dem Menschen gewonnen worden ist. Auch wenn alle Behauptungen Lysenkos und seine theoretischen Annahmen von der Vererbung erworbener Eigenschaften richtig sind, so kann das niemals etwas an der Bedeutung dieses großen Erfahrungsgutes ändern, das als Basis für jeden weiteren Ausbau der Vererbungswissenschaft feststeht. Nur wer bedenkt, in welche Tiefe die philosophische Schulung im Sinne des dialektischen Materialismus das russische Geistesleben durchdringt, kann ermessen, welche Bedeutung der philosophischen Argumentation zukommt, auch dann, wenn das Argument der Erfahrung widerspricht. Damit scheint allerdings eine Spaltung in der Biologie unvermeidlich geworden zu sein, geradezu unbegreiflich in einer Wissenschaft, in der allein die Erfahrung Maßstab und Richtschnur der Forschung sein kann. Der amerikanische Nobelpreisträger H. J. Muller, der selbst zwischen den beiden Weltkriegen viele Jahre in Rußland arbeitete und dem viele russische Genetiker ihre Ausbildung verdanken, hat nach dem „Sieg der fortschrittlichen Biologie” die Mitgliedschaft der russischen Akademie der Wissenschaften zurückgelegt und soll dabei Lysenko einen Scharlatan genannt haben. Das trifft bestimmt nicht zu. Lysenko ist kein Scharlatan, sondern von seiner Sendung zutiefst überzeugt, mit jener religiösen Begeisterung, die dem dialektischen Materialismus in Rußland über seine philosophische Bedeutung hinaus die weltanschauliche, messianische Kraft verleiht.

Für uns Christen ist Gott die Quelle aller Wissenschaft. Wir glauben, daß der menschliche Geist, von Gott nach Seinem Bilde geschaffen, nicht notwendigerweise in sich widerspruchsvoll sein kann. Aus dem Fundament des Glaubens erwächst uns die tröstliche Gewißheit, daß Glaube und Wissen, Philosophie und Erfahrung einander nicht wirklich widersprechen können und daß dort, wo ein solcher Widerspruch sich zu ergeben scheint, nur menschliche Unvoll- kommenheit, die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, die Ursache sein kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung