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Zur Krise der Physik

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Das Schlagwort von der „Krise der Wissenschaft“ ist zwar keineswegs neu. Dennoch hat es an Aktualität wohl kaum etwas eingebüßt. Wir erinnern uns alle noch des Übeln Mißbrauchs, den der Nationalsozialismus damit getrieben hat, indem er daraus das Recht zu „bewußt subjektivem“ Wissenschaftsbetrieb ableitete. Wenn ein ehemaliger Nobelpreisträger (Lenard) eine „Deutsche Physik“ meinte herausgeben zu müssen, so ist das ein erschreckendes Zeichen dafür, wie tief selbst bei manchen sonst ernst zu nehmenden Gelehrten die Achtung vor dem objektiven Wahrheitsgehalt ihrer Wissenschaft ohne Ansehen der Rassezugehörigkeit der einzelnen Forscher gesunken war. Wir dürfen hoffen, daß die jeder wahren Wissenschaft widersprechende Verirrung endgültig abgetan ist. Aber trotz der in weiten Kreisen verbreiteten, allerdings oft recht oberflächlichen Kenntnis technischer Anwendungen der Physik fehlt es nicht an sonstigen Mißverständnissen dessen, was man „Krise der Physik“ genannt hat, und eine kurze Orientierung darüber düifte daher willkommen sein.

Der Ausdruck hat oder hatte zweifellos volle Berechtigung. Denn etwa seit der letzten Jahrhundertwende ist in der Physik mehr geschehen, als eine bloße Fortsetzung der seit dem Anbruch der Neuzeit ununterbrochenen Folge wichtiger Entdeckungen und Erfindungen. Wie zu den Zeiten der Kopernikus, Galilei und Newton hatte sich abermals die Notwendigkeit ergeben, die Grundlagen des physikalischen Weltbildes von neuem zu prüfen und zu berichtigen. Man darf das keineswegs bagatellisieren, wozu manche Vertreter der reinen Philosophie mitunter geneigt sein mögen. Wenn gewisse überkommene Begriffe der philosophischen Kosmologie mit den neuen Erkenntnissen der Physik nicht in Einklang 1 Zu bringen sind, so wird dies gewiß nicht die Physik zum Rückzug bewegen. Vielmehr ist zu untersuchen, ob nicht ein scheinbar a priori gegebenes Begriffssystem in Wahrheit von einem früheren physikalischen Weltbild abstrahiert war, und nunmehr mit diesem einem neuen Platz machen muß.

Für eine gewisse Zurückhaltung gegenüber schwebenden Problemen haben die Physiker naturgemäß volles Verständnis. Viel bedenklicher als eine Uncerschätzung der „Krise“ ist daher eine Uberschätzung und 'Übertreibung -ihrer Tragweite. Ebenso wie Krisen in der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung Stufen zu neuer Festigung des Charakters sind, so ist auch die Krise der Physik eine zwar einschneidende, aber ai den besten Erwartungen ermutigende Phase in ihrem Entwicklungsfortschritt. Nichts wäre verfehlter, als daraus die Berechtigung zu grundsätzlicher Skepsis und Agnosis, sei es nur im Bereich der Naturwissenschaft, sei es im allgemeinen, ableiten zu wollen. Es zeugt aber auch (gelinde gesagt) von völligem Mißverstehen, wenn Weltbildverbesserer alier Art mit Berufung auf die Krise der Physik ihre Zeit gekommen glauben. Es kann nich* entschieden genug betont werden, daß Phantasmen vom Schlage der „Hohlwelttheorie“ und ähnliche „Lehren“ überhaupt nicht in Vergleich gesetzt werden können mit dem selbstkritischen Ringen einer ganzen Generation ernster Physiker, Chemiker und Astronomen um ein wissenschaftlich gesichertes physikalisches Weltbild. Sie geben nicht vor, wie vielfach jene, alle Probleme mit einem Schlag gelöst zu haben, sondern sie wissen, daß es nur ein allmähliches Fortschreiten, niemals aber in der ungeheuren Fülle der Erscheinungswelt ein Alleswissen für den menschlichen Geist geben kann.

Was ihren eigenen Aufgabenkreis angeht, kann die Physik über alle Arten von Mißverständnissen Außenstehender hinwegsehen. Tm Tnteresse der gesamten menschlichen Kultur wäre es aber unbedingt erstrebenswert, daß Philosophie und Physik (und alle übrigen Wissenschaftszweige) sich mehr als in den letzten Jahrhunderten wieder als verstehende Freunde begegnen möchten. Darüber hinaus aber sollten auch möglichst weite Kreise außerhalb der Gelehrtenwelt wenigstens eine Ahnung davon bekommen, daß gerade die jetzt lebende Physikergeneration eine höhere Aufgabe in ihrem Wirken sieht, als nur Diener der Technik (schon gar nicht einer Vernichtungstechnik!) zu sein. Sie ist sich vielmehr bewußt, daß die Ergebnisse ihrer Forschungen einen wertvollen Beitrag zur wirklichen Wahrheitserkenntnis zu liefern berufen sind.

Vom Grundsätzlichen her müßte gerade der gläubige Christ, Geistlicher wie Laie, Gelehrter oder Mann des praktischen Lebens, dies am besten zu würdigen wissen. Wir sind ja überzeugt davon, daß Natur und Übernatur einen und denselben Gott zum Urheber haben, so daß zwischen beiden kein unlösbarer Widerspruch - bestehen kann. Viele Stellen der Heiligen Schrift belehren uns darüber, daß die sichtbare Welt nicht bloß uns zum Nutzen dienen, sondern uns auch zur natürlichen Erkenntnis Gottes hin führen, also der übernatürlichen Offenbarung den Weg bereiten soll. Es dürfte aber andererseits nicht mehr vorkommen, daß umgekehrt in irgendeiner Weise religiöse Argumente (Stellen der Heiligen Schrift und ähnliche) in die Auseinandersetzung um rein naturwissenschaftliche Fragen geworfen werden. Der Schaden, den unerleuchteter Eifer zur Zeit der ersten abendländischen Krise der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert durch 'derartige Mißgriffe angerichtet hat, steht als eindringliche Warnung vor uns.

Kommen wir, um gleich ein vielerörtertes Beispiel heranzuziehen, zur Relativitätstheorie. Es sollte niemanden mehr geben, der bei deren Nennung Komplexe von Relativierung ethischer Werte oder dergleichen vor seinem Geiste aufsteigen sieht. Es soll nicht verhehlt werden, daß auch für den Fachmann noch manches hier einschlägige Problem der Klärung harrt, und wir wollen dem Leser keineswegs zumuten, in die schwierige mathematische Theorie einzudringen, ohne die ein vollkommenes Verständnis der Zusammenhänge nicht möglich ist. Aber der Ausgangspunkt läßt sich auch ohne Mathematik begreiflich machen: Der Versuch, durch scharfsinnig erdachte und mit größter Sorgfalt ausgeführte Experimente Bewegungen gegenüber dem hypothetischen „absoluten Raum“ festzustellen, hat zu eindeutig negativen Ergebnissen geführt. (Es ist eine durch ein Mißverständnis entstandene Fabel, daß Einstein selbst seine ganze Theorie widerrufen hätte!) Folgerichtig mußten alle Naturgesetze, die vorher irgendwie auf den absoluten Raum bezogen waren, derart umgestaltet werden, daß sie nur noch Bewegungen „relativ“ zu irgend:inem Beobachter enthielten. Dabei zeigte sich nun, daß zwangsläufig auch die Zeit ihres absoluten Charakters verlustig ging. Man fand, daß beide Kategorien nicht völlig unabhängig nebeneinander bestehen, sondern so eng zusammen gehören, daß sie als mehrere reelle und eine imaginäre Koordinate eines in einem höheren Sinn „geometrischen“ Konti-nuums zugleich gedacht werden müssen. Die weitere Entwicklung der Relativitätstheorie wies dann darauf hin, daß Materie und Energie in der Raumzeit nicht nur „enthalten“ sind, sondern bestimmend sind für deren Struktur Ja, die Materie selbst erscheint gewissermaßen als eine besondere Form der Energie, so daß schließlich Energie, Raum und Zeit in einer noch nicht restlos ergründeten Weise zur Einheit der sieht baren Welt zusammengefaßt sind.

Ein weiterer Ansatzpunkt zu Mißverständnissen betrifft das Kausalgesetz. Unser ganzes Handeln und Denken von den einfachsten Verrichtungen des täglichen Lebens bis zur wissenschaftlichen Forschung gründet sich auf die Gewißheit, daß jede Erscheinung eine zureichende Ursache, und jede Ursache eine angemessene Wirkung habe Daß beide aber absolut eindeutig aufeinander bezogen sein müßten, liegt sicher nicht in unserer ursprünglichen (verwissenschaftlichen) Vorstellung dessen, was dieser Satz aussagt. Die exakten Naturwissenschaften haben jedoch in dem Maße, wie sie die Mathematik in ihren Dienst stellten, darin mehr und mehr eine Gleichung gesehen, deren eine Seite sich ausrechnen läßt, wenn die andere gegeben ist. Es ist eine der folgenreichsten Entdeckungen der neuen Physik, daß es auch mit völlig fehlerfrei arbeitenden Meßmethoden grundsätzlich unmöglich wäre, die Zustands-größen eines Systems (zum Beispiel der Flektronen in einem Atom) mit einer Genauigkeit zu messen, welche eine mathematisch exakt angebbare Grenze unterschreitet; (die Fachgenossen mögen die der Kürze halber absichtlich etwas unpräzise Ausdrucksweise entsdiuldigen!) und weiter ist auch die Berechnung des Zustande zu einem beliebigen Zeitpunkt der Vergangenheit oder der Zukunft nur insoweit möglich, daß sich die mathematisdie Wahrscheinlichkeit dafür angeben läßt, daß jedes der betrachteten kleinsten Teilchen an einem bestimmten Ort und in bestimmtem Bewegungszustand angetroffen werde. Wenn wir uns den „Weg“ eines Teilchens im Raum-zeit-Kontinuum als eine Linie vorstellen, so heißt dies, daß wir schon bei dem Versuch, einen bestimmten Punkt dieser Linie ganz genau ins Auge zu fassen, bildlich gesprochen an der „Dicke“ der Linie eine un-übersteigliche Unbestimmtheitsgrenze finden. Wollen wir dann den weiteren Verlauf der Linie nach vor- und rückwärts errechnen, so gelingt es uns nur, einen allmählich immer breiter werdenden Fächer anzugeben und zu igen, daß die Linie am wahrscheinlichsten längs dessen Mitte, mit entsprediend geringerer Wahrscheinlichkeit aber auch näher dem Rande verlaufen könne. Diesem im tiefsten so rätselhaftem Gesetz der Wahrscheinlichkeit (weniger treffend auch „Gesetz des Zufalls“ genannt) ist es zuzuschreiben, daß im großen gesehen jene scheinbar absolut streng gültigen „ehernen“ Naturgesetze beobachtet werden, auf die sich das heute nicht mehr haltbare „mechanistische“ Weltbild eines vermeintlich unausweichlichen Determinismus aufbaute. Die alten Naturgesetze sind demnach nicht schlechthin „falsch“, sondern man hat eine gewisse, früher übersehene Grenze ihres Geltungsbereiches erkannt. Und ebenso ist nicht das Kausalgesetz an sich „falsch“, sondern nur die Überspitzung, daß Ursache und Wirkung in einem streng berechenbaren Verhältnis zueinander stehen.

Übrigens spricht vieles für die Auffassung, daß die eigentliche „Krise“ in der Physik bereits überwunden ist. Denn es sind nicht nur die alten Anschauungen ge-. stürzt, sondern allenthalben bereits brauchbare neue an ihre Stelle gesetzt worden. Ohne Zweifel wird die Forschung auch in Zukunft noch vieles zu ergründen haben. Aber die Richtung ist durch die Feststellung der engen Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit, der letztlich erkennbaren Wesensgleichheit von Materie und Energie, und schließlich durch die Klärung des Kausalbegriffs mit solcher Bestimmtheit gewiesen, daß man das Kommende wohl in Parallele zum Ausbau der sogenannten „klassischen“ Physik im 18. und 19. Jahrhundert setzen darf. Das eben genannte Beiwort bezeugt übrigens zur Genüge, wie weit die jetzigen Physiker von einer Mißachtung und völligen Verwerfung der Leistungen ihrer Vorgänger entfernt sind. So wenig der Klassiker Goethe „falsch“ ist, weil es nach ihm einen Rilke gegeben hat, so wenig sind Kopernikus oder Newton ..falsch“, weil nach ihnen Planck und Einstein und viele andere die von jenen gefundenen Gesetze ergänzt, verfeinert oder in ihrer Gültigkeit eingegrenzt haben

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