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Sowohl-als-auch als Denkprinzip

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Der Mathematiker und Physiker Ernst Peter Fischer zieht in einem Buch aus dem naturwissenschaftlichen Grundsatz der Komplementarität die philosophischen Schlüsse.

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Der Mathematiker und Physiker Ernst Peter Fischer zieht in einem Buch aus dem naturwissenschaftlichen Grundsatz der Komplementarität die philosophischen Schlüsse.

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In der Geschichte des menschlichen Denkens kann man zwei Grundhaltungen unterscheiden. Die kritisch-rationale Einstellung, die um Verstehen bemüht ist, steht der mystisch-irrationalen Einstellung gegenüber, die sich um Erlösung bemüht. Zwi-

sehen diesen beiden Positionen sah der große Physiker Wolfgang Pauli eine tiefe Verbindung, die er wie folgt beschrieb:

„In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen, und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils in sich tragen. Dadurch entsteht eine Art dialektischer Prozeß, von dem wir nicht-wissen, wohin er uns führt. Ich glaube, als Abendländer müssen wir uns diesem Prozeß anvertrauen und das Gegensatzpaar als komplementär anerkennen; wir können und wollen das die Welt beobachtende Ichbewußtsein nicht gänzlich opfern, wir können aber das Einheitserlebnis als eine Art Grenz fall oder idealen Grenzbegriff auch intellektuell akzeptieren. Indem wir die Spannung der Gegensätze bestehen lassen, müssen wir auch anerkennen, daß wir auf jedem Erkenntnis- oder Erlösungsweg von Faktoren abhängen, die außerhalb unserer Kontrolle sind und die die religiöse Sprache stets als Gnade bezeichnet hat.“

Für Pauli ist Komplementarität also nicht nur eine mögliche Eigenschaft zweier Beschreibungen oder Erklärungen, er sieht hierin auch eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, die ausgehalten werden muß und deren Konsequenz nur Toleranz sein kann. Die Spannung der beschriebenen Gegensätze muß hingenommen werden und darf nicht unbeachtet bleiben.

Dabei hat es im Lauf der Geschichte immer wieder Versuche gegeben, eine Synthese zwischen der wissenschaftlichen und der mythischen Grundhaltung herzustellen. Angefangen hat dies mit den Pythagoreern im sechsten Jahrhundert vor Christus, deren mystische Elemente Plato in seiner Ideenlehre übernommen hat Auch Plato schätzte die Kontern-

plation noch höher ein als die Sin- neserfahrung. Die empirische Forschung begann ihren Siegeszug erst mit dem Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, die sich mit Newtons Hilfe rational von allen mystischen Elementen lossagten und eine klassische Physik entstehen ließen, die das Ideal eines objektiven Verstehens zu liefern schien. Diese Einstellung fand dann ihre Grenze im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, als das Rationale auf Wirklichkeiten stieß — das Atom und das Unbewußte etwa -, die zwar sinnlich nicht mehr wahrnehmbar waren, die sich aber nach außen sehr konkret auswirkten.

An dieser Grenze der rationalistischen Einstellung tauchte die Idee der Komplementarität auf, die alle unsere Tätigkeiten als von zwei Polen bestimmt sieht, die durch unterschiedliche Extrapolationen zustande gekommen sind.

Pauli spricht im Grunde über den Zusammenhang von naturwissenschaftlicher und religiöser Wahrheit. Beide erweisen sich dabei als komplementär zueinander. Beide sind gleich wahr und stehen nicht im Gegensatz zueinander. Jeder Versuch, sie einfach zu vermischen, schwächt die jeweiligen Aussagen. Religiöse Denker können naturwissenschaftliche Wahrheiten nicht abweisen, und Physiker und Chemiker dürfen ethische Forderungen, die einem religiösen Denken entspringen, nicht in Zweifel ziehen. Die auftretenden Widersprüche im Denken sind dabei - ganz im Sinn einer Komplementarität — durch unser Handeln aufzulösen.

Einstein hat dies ähnlich gesehen, wie er in den Überlegungen „Aus meinen späteren Jahren“ notierte: „Naturwissenschaft und

Religion… sind komplementäre Seiten unseres Bildes vom Kosmos. Sie bedingen einander.“ Und weiter schrieb er: „Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.“

Bei der Schöpfungsidee laufen die Vorstellungen von Religion und Wissenschaft natürlich am weitesten auseinander. Wer Auskünfte über den Anfang der Welt einholt, lernt bei einem Wissenschaftler den Urknall kennen, während ein gläubiger Mensch von der Schöpfung Gottes spricht Eigentlich sind diese Aussagen nicht komplementär zueinander, denn sie beziehen sich auf unterschiedliche Ereignisse (und ha ben also keine gemeinsame Referenz). Zum Urknall können die Physiker nur etwas sagen, nachdem ein Minimum an Zeit verstrichen ist. Diese Zeit mußte aber erst ex nihilo von einem Gott geschaffen werden. Entsprechendes gilt für die Konzepte der „Erschaffung des Menschen“ und die „Evolution des Menschen“. Gottes Schöpfung braucht keine Zeit, und die Evolution kommt ohne Zeit nicht aus.

Offensichtlich sind also die Religion und die Wissenschaft gut beraten, wenn sie aufeinander hören und ihre eigenen Erkenntnisse durch die Einsichten des jeweils anderen ergänzen. Beide Wahrheiten gehören zusammen.

Ebenso, wie sich die wissenschaftliche und die religiöse Wahrheit gegenüberstehen, können sich auch die geschaute und die gefundene Wahrheit gegenübertreten und komplementär zueinander verhalten. Hierfür gibt es ein großes und immer wieder diskutiertes Beispiel aus der Geschichte der Naturwissenschaften, als diese noch jung waren. Gemeint sind die sich entge genstehenden Analysen der Farben von Goethe und Newton. Ihre besondere Art der Komplementarität zeigt sich deutlich, wenn man vergleicht, was Goethe und Newton in diesem Zusammenhang jeweils unter „einfach“ verstehen. Für Newton ist das Licht einfach („simple“), dessen Strahlen gleichartig gebrochen werden. Dies ist monochromatisches Licht wie zum Beispiel reines Blau.

Dieses einfache Licht kommt in der Natur kaum vor, es muß im Gegenteil durch höchst raffinierte Apparaturen erst einmal künstlich hergestellt werden. Für Goethe ist dieses Licht kompliziert; ihm erscheint das natürliche weiße (also gemischte) Licht einfach. Dies wiederum wird beim Durchgang durch ein Prisma auf so komplizierte Weise gebrochen, daß dieser Vorgang erst 150 Jahre nach Newton von den Physikern verstanden werden konnte. Was also Goethe für einfach hielt, war für Newton kompliziert; und was Newton als einfach ansah, erschien Goethe kompliziert.

Newton ging in seiner Beschreibung der Farbe von einem eng begrenzten und einfarbigen Lichtstrahl aus, der nur durch komplizierte technische Einrichtungen realisierbar und also weit von unserer Anschauung entfernt ist. Goethe ging dagegen von dem weißen Tageslicht aus, das uns umgibt und uns immer vor Augen ist. Newton betrachtet dies als zusammengesetzt, konnte er es doch durch ein Prisma zerlegen. Goethe hatte sich zwar ein Prisma beschaffen lassen, ließ es aber bis zu dem Tag unbenutzt liegen, als es wieder abgeholt wurde. Dann sah er zu seiner Überraschung mit einem Blick, daß durch ein Prisma nicht irgendwelche Flächen, sondern deren Ränder farbig aussahen. Goethe zog den Schluß, „daß eine Grenze notwendig ist, um Farben hervorzubringen“. Farben entstehen für ihn nicht mehr aus dem Licht allein, sondern aus der Vereinigung von Hell und Dunkel.

Es ist witzig zu sehen, wie die moderne Physik — die elektrodynamische Beschreibung der Dispersion - an diesem Punkt die Komplementarität der Vorstellungen Goethes und Newtons dingfest macht. Newton glaubte, daß die Farbe des Lichtes ebenso wie seine Brechung im Glas ausschließlich eine Funktion der Frequenz ist. Dagegen betonte Goethe, daß „die Farbe zugleich von dem Lichte und von dem, was sich ihm entgegenstellt, hervorgebracht“ werde. Diesen Anteil an der Lichtbrechung beschreiben die heutigen Physiker durch Resonanzfrequenzen des brechenden Mediums. Auf diese Weise erweist sich Goethes spezielle Kritik an Newton als berechtigt, die Besonderheiten eines Versuchs für das Phänomen zu ignorieren.

Die wesentliche Komplementarität der beiden Farbenlehren erkennt man aber, wenn man nach der Rolle des Subjektes fragt. Während Goethe es selbstverständlich in den Mittelpunkt stellt, nimmt Newton es ganz aus der Beschreibung heraus. Es ist heute aber nach der Lektion der Atome, die Komplementarität heißt, klar, daß beide extremen Ansichten im Auge zu behalten sind.

Wieder finden wir zwei Wahrheiten, die sich ergänzen. Goethe bietet die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die mittelbare Wahrheit der Wissenschaft Newtons auf. Newton hat die Anschauung („den reinen Menschensinn“, wie Goethe sagen würde) hinter sich gelassen, die Goethe verwendet, um Klarheit über die Natur zu erlangen.

Gekürzt aus: „Sowohl als auch — Denkerfahrungen der Naturwissenschaften“ von Ernst Peter Fischer. Rasch und Röhrig Verlag, Hamburg 1987. öS 296,40.

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