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Die Botschaft Pascals an die Gegenwart

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Es ist gefährlich, den Menschen zu sehr merken zu lassen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm seine Größe zu zeigen. Es ist auch gefährlich, ihn zu sehr seine Größe fühlen zu lassen, ohne ihm seine Niedrigkeit zu zeigen. Es ist noch gefährlicher, ihn über beides in Unkenntnis zu lassen. (Pascal)

Dem Mathematiker ist B 1 a i s e Pascal, als Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung vom Pascalschen Dreieck her geläufig, der Physiker dankt ihm unter anderem die Erfindung der hydraulischen Presse, die literarische Welt schätzt ihn als geistreichen Aphoristiker, und in theologischen Kreisen neigte man zeitweise dazu, ihn für einen Einzelgänger im Glauben hart an der Grenze der Häresie zu halten, wahrend ihn Kirchengegner sogar — seiner angeblichen Kritik an den Jesuiten wegen — als einen der Wegbereiter Voltaires feiern.

Aber das ist nur die schillernde Folie um den wahren, den eigentlichen Pascal: den einzigartigen Kenner der Menschenseele und ihr£r Tiefen und Untiefen, den glühenden Apologeten des religiösen Bewußtseins, den hemmungslos Liebenden, den unermüdlich Gottsuchenden, der sein Leben, das mit Begabung so außerordentlich beschenkte und zum Worte berufene, in gewolltem Schweigen asketischer Versenkung beschloß; kurz, jenen existentiellen Christen und Be-k e n n e r, wie er zeitlos in großen und säkularen Gestalten immer wieder in Erscheinung tritt: von Augustin bis herauf zu Newman und Haecker.

Das ist der wahre Pascal, und es darf uns nicht wundern, wenn er den Generationen eines gesicherten Daseins verborgen bleibt. Wer ihm aber ähnlich ist, ringend und suchend wie er, in allen Ebenen des Seins heimatlos und gefährdet, vom großen Elend des Menschen durchdrungen und doch zu noch größeren Hoffnungen bereit, der kommt an diesem Pascal schwerlich vorbei, und er wird seine große Entdeckung. — Und dürfen wir nicht Gleiches für uns geltend machen, die wir, erschüttert bis in die Wurzeln unserer Existenz, die Schamröte eines fast hundertjährigen geistigen Irrwegs im Antlitz, erst wieder zur Besinnung dessen gelangen müssen, was wir eigentlich sind und was wir von uns zu halten haben?

1623 in Clermont geboren, wächst der junge Pascal in jenes Jahrhundert hinein, in dem sich erstmalig neben dem christlichen das Weltbewußtsein zu konstituieren beginnt. Es trägt für ihn zwei Gesichter, das eines wissenschaftlichen Vernunftglaubens, wie ihn Descartes vertrat, und die weltmännisch überlegene Skepsis eines Montaigne. Beide sprengen zwar noch nicht den Rahmen jenes christlichen Bewußtseins, wenn sie sich ihm auch gefährlich entfremden. Will sich dieses nicht kampflos geschlagen geben, so muß es sich zur Selbstverteidigung rüsten. So erklären sich die zahlreichen Reform-bestrebjingen, wie sie die christliche Substanz von ihren anfechtbaren Zutaten allzu menschlicher Auslegung zu reinigen und ihre Jünger in strafferer Bindung zu sammeln bemüht waren: so auch der für unseren Denker so bedeutungsvolle Jansenismus.

In beiden Lagern also ist Pascal zu Hause und von beiden wird er überaus reich dotiert; aber es wäre dennoch verfehlt, ihn allein aus diesem Erbe verstehen zu wollen, ohne die unwägbare Eigenart seiner Person mit einzurechnen. — Gewiß ist Pascal als Mathematiker und Physiker seinem großen Zeitgenossen Descartes verpflichtet, ja sogar viele Elemente der Cartesianischen Philosophie finden sich in seinem Denken wieder: die streng wissenschaftliche Haltung, der Zweifel, das dualistische Menschenbild, das auch den Gottesbegriff nicht ausläßt. — Und doch, welche Welt liegt zwischen beiden! Pascals Zweifel gleicht mehr dem radikalen, dem verzweifeltenZweifel Kierkegaards als einem methodischen Ansatz; den statischen Dualismus der Substanzen hat er in einen dynamischen letzter religiöser Wertspannungen umgedacht, und sein Gott ist nicht mehr der offenkundige der geometrischen Wahrheiten, sondern der verborgene Gott im Sinne des Cusaners, ein Gott aber der Liebe und des T r o s t e s.

Ebenso verfehlt aber wäre es auch, diese abweichende Sonderstellung allein auf den Einfluß Montaignes zurückzuführen. Richtig ist, daß er durch diesen, dessen Essays er im Pariser Salon kennenlernte, zum Studium des Menschen geführt wurde und sich hier, angewidert von den abstrakten Wissenschaften, zunächst in erstaunlich kurzer Zeit volles Heimatrecht erwarb. Richtig ist weiterhin, daß er die Grundhaltung des Zweifels von diesem übernahm, aber doch nicht als einer letzten existentiellen Position. Unbestreitbar hat er sogar manches von seinem Lehrer in voller Wörtlichkeit übernommen und doch zugleich in einer Weise vertieft, daß es ein völlig anderes Gesicht erhielt. — Kein Zweifel, die bescheidenen Ansätze einer Wissenschaft vom Menschen, wie sie Montaigne nicht zu bieten hatte, sind erst im Kopfe Pascals in einer ungeahnten Tiefe und Fülle aufgegangen.

Aber auch seiner schicksalhaften Begegnung mit dem jansenistischen Geist der Abtei Port Royal bei Paris darf kaum mehr Bedeutung beigemessen werden als der eines auslösenden Moments. Die religiöse Krise, die sie einleitete und von der das berühmte, in Pascals Rockfutter eingenähte „Memorial'* Zeugnis gibt, war ohne Zweifel in seiner Entwicklung längst vorbereitet. Sie hat sein Suchen nach einer letzten, dem Menschen wirklich gemäßen Wissenschaft in die entscheidende Richtung: auf das Religiöse und Gott hingelenkt. Damit vertiefte sich sein Bewußtsein ins christliche und seine Philosophie vom Menschen erhielt ihre letzte Verankerung im. Glauben.

Es mag hier zweckmäßig sein, das Frühere vom Späteren vorsichtig zu trennen: daß der Mensch als Gegenstand einer Wissenschaft eine inkommensurable Größe sei, über die man nur in Paradoxen und Widersprüchen reden dürfe, wenn man die Totalität des Gegenstandes adäquat wiedergeben wolle, gehört wohl zum älteren Bestand. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die geniale Unordnung der „Pensee s“, die jeden Herausgeber vor „zahllose Schwierigkeiten“ stellt, nicht ganz so absichtslos, wie man zunächst vielleicht meinen mag. Die Wissenschaft vom Menschen, diesem „Sujet de con-tradiction“, widerstrebt eben ihrem Wesen nach jeder Systembildung. — Hieher muß man wohl auch den Gedanken beziehen, der dem Menschen im Reich des Seins die überaus gefährdete Mittelstellung zuweist: im Hinblick auf das All sei er ein Nichts, vom Nichts aus gesehen ein All. Menschliche Existenz gleiche so der labilen Position zwischen zwei Extremen, die stets unter der Möglichkeit einer Störung stehe.

Erst mit dem volen Durchbruch des christlichen Bewußtseins aber geht Pascal das religiöse Fundament jener menschlichen Zwiespältigkeit auf, und zwar in einer Klarheit, die ihn niemals auch nur einen Augenblick an der Vorrangsstellung der christlichen vor den anderen Religionen hat zweifeln lassen. Im Sündenfall ist das Chaos in die Ordnung des Seins eingebrochen und hat dessen Einheit durch einen unheilbaren Riß zerstört. Hier liegt die Ursache jener unglückseligen „Disproportion“ aller menschlichen Verhältnisse, jener zentralen Spannung zwischen „Misere“ und „Grandeur“, dem Elend und der Erhabenheit des Menschen, auf der Pascal nunmehr sein christlich vertieftes Menschenbild aufbaut. Er wird nicht müde, den Menschen in all seiner Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit aufzuzeigen, aber er unterläßt es auch nicht hinzuzufügen, daß dieses Elend das Elend eines großen Herren, ja eines entthronten Königs ist. Die Größe des Menschen aber sieht er in der Möglichkeit — man achte auf die dialektische Zuspitzung des Verhältnisses — sich selbst in seiner Niedrigkeit zu erkennen. Hier liegt der entscheidende Ansatzpunkt für das Verständnis des Pascalschen Denkens. Das methodische Mittel dieser Selbsterkenntnis eben ist die „pensee“, der Gedanke (und von ihm hat sein Werk mit gutem Recht den Namen erhalten). Was Pascal unter „pensee“ versteht, läßt sich nicht mit rationalistischen Kategorien ausmachen. Es erinnert vielmehr an die Art, wie etwa 200 Jahre später Kierkegaard seinen existierenden Denker schildert. „Penser“ ist kein „raisonner“, kein theoretisches Philosophieren über ein existentiell mehr oder weniger gleichgültiges Objekt, sondern ein In - die - volle-Entscheidung -Treten angesichts der Probleme, die letzten Endes immer um die beiden Fragen nach dem zeitlichen Tod und dem ewigen Heil kreisen. Auf dem Feld der Theorie ist Pascal (wie Montaigne) durchaus Skeptiker, für den die Wahrheit eine „so feine Spitze“ ist, daß alle Instrumente der Vernunft sie entweder verfehlen oder aber zerquetschen. Denn die Ordnung des Geistes ist zwar eine Unendlichkeit höher als die des Stoffes, so nämlich, daß „alle Körper zusammen, das Himmelsgewölbe, die Sterne, die Erde und ihre Körperreiche nicht an den geringsten unter den Geistern heranreichen, der das alles kennt und sich selber auch“, während die Körper nichts voneinander wissen. Der Abstand des Geistes zur höchsten Ordnung jedoch, der des liebenden Willens, des Glaubens, der „Ordre du coeur“ ist noch unendlichmal größer. Die niedrigere kann die höhere Ordnung niemals begreifen. Deshalb müssen die metaphysischen Systeme am Übernatürlichen „wie Seifenblasen unter dem Druck der anwachsenden Atmosphäre“ (Schaukai) scheitern. Pascal verachtet sie, wie er auch von den Gottesbeweisen nicht viel hält. Nur so verstehen wir es, wenn er die Chance des Glaubens, von der Vernunft aus betrachtet, unter dem gewagten Gleichnis der Wette faßbar zu machen sucht. Das heißt nichts anderes als: wenn die Entscheidung nicht mit in den Akt der Erkenntnis eingeht, wird diese niemals vollzogen werden. „Penser“ bedeutet also letzten Endes: i n diese Entscheidung treten, und es ist Pascals großer Kummer, die Menschen vor ihr in die Zerstreuung, den Betrieb, ja sogar in die Sorge fliehen zu sehen, nur um der Nötigung zur Einkehr zu entgehen.

Aber diese Glaubensentscheidung steht nicht außerhalb, sondern über der Vernunft, sie widerspricht ihr nicht, sondern führt vielmehr über sie hinaus (damit ist zugleich der scharfe Trennungsstrich zwischen Pascals Zweifel und der Verzweiflung der „dialektischen Theologie“ gezogen). „Der letzte Schritt der Vernunft ist die Erkenntnis, daß es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen.“ In seinem Vollzuge aber nimmt der Mensch, ringend und stets vom Verfall bedroht, seine letzte große humane Chance wahr; kann man sie eindringlicher schildern, als wenn man die trostlose Lage des Menschen ohne sie, das heißt ohne Gott aufzeigt? Ihm ist vom verlorenen Glück „eine ganz leere Spur zurückgeblieben, die er sinnlos mit allem auszufüllen sucht, was ihn umgibt“, ein hoffnungsloses Unterfangen, „weil der unendliche Abgrund nur von einem unendlichen Gegenstand, das heißt von Gott selbst, ausgefüllt werden kann“.

So weisen alle zentralen Linien im Werke Pascals über die Wissenschaft vom Menschen, von der er nach anfänglicher Begeisterung zweifelnd sagte, ob sie auch wirklich die dem Menschen gemäße Wissenschaft sei, ins Göttliche hinaus. Aber damit erhält jene zugleich ihre letzte Sinngebung. Jetzt erst wird völlig durchsichtig, warum der in Gott verwurzelte Mensch (und für Pascal gibt es keinen anderen) stets ein „Sujet de contradiction“ bleiben muß. Jene Ebene des Glaubens, auf der sich der Mensch ganz erfüllt, läßt sich eben nur spürbar machen in der Uberwindung der Vernunft durch die Vernunft, deren methodische Form das Paradox ist. Darum mußte also das Werk Pascals „Pensees“ bleiben, das heißt Gedanken über den Menschen, oder besser: über den Menschen hinaus! Unter diesem Gesichtspunkt verliert auch der frühe Tod Pascals seine betont tragische Note. Auch ein längeres Leben hätte wohl kaum die Vollendung des Unvallendbaren gebracht; und doch ist auch damit noch nicht das Letzte gesagt: denn in einer höheren Weise verstanden, hat der Christ Pascal den Denker vollendet. Das letzte Wort in seinem Werke hatte das Schweigen der Einkehr und der tätigen Liebe. Es gibt wohl keine schönere Verifizierung einer Lehre als dieses einzigartige Lebensende im Dienste der Caritas.

Was also hat uns Pascal zu bedeuten? Ohne Zweifel ist er einer jener Schweilenden Brände an der Wurzel unserer Zeit, an denen sich unser christliches Bewußtsein über Verfall und Verwirrung ganzer Jahrhunderte hinweg immer wieder zu entzünden vermag.

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