"Am Anfang stand die Tat"

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Mit Galileo Galilei wurde der Mensch zum Naturwissenschafter. Wodurch geschah dies, und in welches Zeitalter geht die Wissenschaft nach der Jahrtausendwende?

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Mit Galileo Galilei wurde der Mensch zum Naturwissenschafter. Wodurch geschah dies, und in welches Zeitalter geht die Wissenschaft nach der Jahrtausendwende?

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die furche: Das heute selbstverständliche naturwissenschaftliche Weltbild hat sich im Laufe des vergangenen Millenniums entwickelt. Wann ist der Mensch zum Naturwissenschafter geworden?

Herbert Pietschmann: Den Zeitpunkt kann man genau benennen: Es war im 17. Jahrhundert, das als Ganzes durch diesen Übergang geprägt war - mit Kepler, Descartes und Galilei, später dann mit Newton und Leibniz.

die furche: Und wodurch ist dieser Umbruch gekommen?

Pietschmann: Das Mittelalter war ja mit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu seinem natürlichen Ende gekommen, weil die Methode, Wahrheit dadurch aufrechtzuerhalten, dass man alle, die von ihr abweichen, verbrannt hat, nicht mehr durchzuhalten war. Ich betrachte 1492 da als genau den richtigen Zeitpunkt, weil nämlich mit der Tat des Kolumbus, der ja nicht Amerika entdecken wollte, sondern den Seeweg nach Indien suchte und auch gefunden zu haben glaubte, eine völlig neue Methode zur "Wahrheitsfindung" da war - wobei sich dann herausgestellt hat, das es nicht um Wahrheit sondern um Allgemeingültigkeit ging.

Kolumbus behandelte die Frage, ob die Erde eine Scheibe oder eine Kugel ist, nicht mehr - wie im Mittelalter üblich - durch scholastische Diskussion oder Rekurs auf Aristoteles, sondern durch eine Tat: Er ist hingefahren. Dadurch wurde erstens die Allgemeinverbindlichkeit von der Wahrheit getrennt, und die Denkansätze wurden durch eine Handlung überprüft. Zweitens ging die Methode der Inquisition ins Leere, denn es hätte nach der Rückkehr von Kolumbus überhaupt keinen Sinn gehabt, ihn auf den Scheiterhaufen zu setzen: Seine Erkenntnisse waren ja nachprüfbar.

Das Kriterium, dass Allgemeinverbindlichkeit nicht mehr durch Denken allein oder durch Rekurs auf Autoritäten - sei es Heilige Schrift oder Aristoteles - hergestellt wird, sondern durch die Tat, ist das Grundelement der Naturwissenschaften: Bekanntlich ist in der Naturwissenschaft das einzige Kriterium für die Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen, das Experiment - nicht die Theorie. Die Tat des Kolumbus war ein erstes Aufbrechen des alten Schemas der ersten Jahrtausendhälfte. Und dieses Aufbrechen hat bewirkt, dass sehr bald nachher ein Reformator, der die heilige Wahrheit des Glaubens in Frage gestellt hat, nämlich Martin Luther, nicht mehr verbrannt werden konnte. Jan Hus wurde - vor 1492 - noch verbrannt. So ist der Anspruch der Kirche in Rom, alleinige Verwalterin der Wahrheit zu sein, aufgebrochen. Allerdings ist Europa zunächst in die Blutbäder der Glaubenskriege gestürzt worden. Mitten im 30-jährigen Krieg hat dann die unglaubliche Sehnsucht der Menschen nach einem neuen Zugang zur Wahrheit, der nicht sofort ins Schädeleinschlagen übergeht, zur Entstehung der Naturwissenschaft geführt.

die furche: Ist naturwissenschaftliches Denken ein europäisches Phänomen?

Pietschmann: Sogar ein ur-europäisches! Bekanntlich sind die großen philosophischen und religiösen Systeme der so genannten Hochkulturen etwa gleichzeitig entstanden, und zwar in der - wie Karl Jaspers sie nannte - "Achsenzeit" der Menschheit vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden. In all diesen Hochkulturen sind Glaube und Wissen als Einheit geschaffen worden: Buddha, Laotse, Konfuzius, Zarathustra waren zugleich Philosophen und Religionsgründer. Das Christentum ist - wenn man vom Islam absieht - die einzige Weltreligion, die nicht in der Achsenzeit entstanden ist.

Und das Abendland ist die einzige Hochkultur, die Glaube und Wissen aus zwei verschiedenen Quellen schöpft: Jerusalem und Athen. Gleichzeitig ist die abendländische Kultur die einzige, die in ihrem philosophischen Ansatz mit Aristoteles die Widerspruchsfreiheit als Hauptprinzip des Denkens angesehen hat. Der Widerspruch zwischen den beiden Quellen Athen und Jerusalem war es, der im 17. Jahrhundert die Situation zwischen Glaube und Wissen so eskalieren ließ, dass es zum Kampf um den Glauben und zum Kampf um das Wissen über die Natur - der dann in der Person des Galilei gegipfelt hat - gekommen ist, sodass die Naturwissenschaft entstanden ist.

die furche: Aber gerade am Anfang des Millenniums kamen die ersten Spuren der Wissenschaft aus dem Morgenland, aus dem islamischen Raum ...

Pietschmann: Es gibt am Beginn des Millenniums ein Ereignis, das die Situation plastisch schildert. Im Jahr 1054 gab es nicht weit vom Sonnensystem eine Supernova: Über diesen neuen, ganz hellen Stern ist in den abendländischen Schriften nichts zu finden. Wir kennen dies nur aus den chinesischen Quellen, die das sehr genau beschrieben haben: Am Anfang des Millenniums war im Abendland bei der Naturbeobachtung Funkstille.

Die Wissenschaft ist damals in den Händen der Araber gelegen. Die Araber haben die griechische Wissenschaft - Aristoteles! - übersetzt, sie haben die indische Mathematik adaptiert. Das griechische Wissen haben also die Araber zu uns nach Europa zurückgebracht. Als dieses Wissen - zusammen mit der Kunst, Papier herzustellen - wieder nach Europa gekommen ist, ist Europa erwacht; eigentlich sind es ja unsere Wurzeln, die da über die Araber zurück gekommen sind.

Das Erwachen war gleichzeitig ein unglaubliches Erschrecken, weil die Menschen die vollkommene Beschreibung der Natur durch Aristoteles mit ihrem Glaubensbild nicht in Einklang bringen konnten. Einige haben damals versucht, eine Theorie der zwei Wahrheiten zu entwickeln: Die Wahrheit bezüglich der Natur und die Wahrheit bezüglich des Glaubens. Thomas von Aquin konnte dann ja diese beiden Weltbilder zu einem einzigen vereinen. Das war eine so gewaltige Leistung, dass in den folgenden Jahrhunderten die Kirche Roms sagte: Jetzt haben wir endlich eine einzige Wahrheit, die müssen wir jetzt um jeden Preis festhalten - und sei es um den Preis der Vernichtung der Abweichler.

die furche: Welche Spuren der Entwicklung hin zu Newton sind da schon im Mittelalter zu finden?

Pietschmann: Kurz nach der Rückkehr des Aristoteles - via Araber - nach Europa, wurde die Idee der Universität geboren. Man glaubte damals, man könne durch reines Denken dem lieben Gott auf die Schliche kommen: Wie hat er die Schöpfung gemacht? 1119 ist in Bologna die erste Universität gegründet worden, 1150 Paris, 1200 Cambridge, 1365 Wien. Diese Universitäten waren die Vorläufer dessen, was sich später im naturwissenschaftlichen Zeitalter entwickelt hat.

die furche: Durch Galilei und Newton hat sich das Wissen dann vom Glauben unabhängig gemacht?

Pietschmann: Es wird immer vom Prozess des Galilei gesprochen, als wäre das das wichtigste Ereignis gewesen. In Wirklichkeit hat es Galilei verstanden, sich mit der Kirche so weit zu arrangieren, dass ihm nichts passiert ist. Natürlich war der Prozess unangenehm und furchtbar, aber es ist ihm - außer Hausarrest und Verwarnung - nichts passiert. Wenn man bedenkt, dass damals rundherum ständig Leute verbrannt wurden, kann man das so sagen.

An sich wollte sich Galilei nicht in Glaubensfragen einmischen. Aber er hat in sehr dialektischer Weise immer darauf bestanden, eine neue Methode zu haben. Er sagte: Das, was für unser Seelenheil notwendig ist, ist Sache des Heiligen Geistes. Ich aber habe eine Methode, um zum Wissen über die Natur zu gelangen. Diese Unterscheidung zwischen der Wahrheit des Heiligen Geistes und der Kenntnis über die Natur war die Geburt der Naturwissenschaft. Aus dieser Unterscheidung ist später eine Trennung geworden. Ein Jahrhundert später, in der Aufklärung, haben dann Menschen - gar nicht die Naturwissenschafter selbst, sondern Interessierte wie der französische Aufklärer Voltaire - propagiert, nun auf die Kirche verzichten zu können, denn sie hätten nun die neue Religion Newtons, - wie Voltaire sagte - eine "Religion des Lichts zur Erleuchtung der Heiden".

die furche: Hatte diese Entwicklung aber nicht zur Folge, dass man eine ganzheitliche Sicht der Welt und des Menschen ersetzt hat durch eine fragmentierte? Dass Newton das Licht mit dem Prisma in seine Bestandteile zerlegte, ist da ein sprechendes Zeichen.

Pietschmann: Die neue Methode des Galilei besagte: Kriterium für die Allgemeinverbindlichkeit ist eine Tat, das Experiment. Dieses Experiment ist durch Reproduzierbarkeit und Messbarkeit genau definiert.

Ein weiteres Kriterium lautet: Die Welt, in der wir leben, ist so komplex, dass eine allgemein verbindliche Beschreibung nicht möglich ist. Aristoteles hat sich in seiner Physik dieser Erkenntnis so entzogen, indem er die Welt geteilt hat in die Sphäre des Himmels, für die wir allgemeine Gesetze (Kreisbewegung der Gestirne ...) finden, während auf der Erde andere Gesetze gelten. Und er hat dafür auch Gesetze gefunden, die tatsächlich die Phänomene der Physik beschreiben, sodass wir heute noch Schwierigkeiten haben, die galileische Physik zu unterrichten, denn die aristotelische Physik ist viel stimmiger, weil sie auf Erfahrung beruht.

Aristoteles sagt zum Beispiel: Schwere Körper fallen schnell, leichte Körper fallen langsam, feuerförmige Körper steigen auf. Das kann jeder Spaziergänger im Wald beobachten: Kastanien fallen schnell, Blätter fallen langsam, Rauch steigt auf. Newton sagt demgegenüber: Alle Körper fallen gleich schnell - was völlig gegen unsere Intuition ist. Newtons Vereinheitlichung der Gesetze des ganzen Universums (etwa das Gravitationsgesetz: die Kraft, die den Apfel vom Baum fallen lässt ist dieselbe, die den Mond in der Erdumlaufbahn hält), hat den Preis, dass wir nicht die Welt beschreiben, in der wir leben, sondern eine vereinfachte Version davon.

Der große Wurf der Naturwissenschaft besteht darin, zu sagen: Wir verzichten auf die Beschreibung der Welt, in der wir leben, weil das nicht geht. Und: Aus der Welt, in der eine allgemeine Beschreibung möglich ist, können wir wiederum rückschließen, wenn wir zwei Dinge tun: * erstens die Welt, in der wir leben, neu konstruieren - das haben wir mittlerweile getan: Wenn man etwa Eisenbahnen oder Straßen baut, dann hat das unter anderem auch den Sinn, die Reibungskräfte zu minimieren; * und zweitens ein Verfahren entwickeln, das, wenn der Unterschied zwischen der beschriebenen Welt und der Lebenswelt zu groß wird, genau angibt, was man jetzt machen muss, um sich schrittweise an die gewünschte Genauigkeit anzunähern. Ein Beispiel: Jeder von uns hat gelernt, dass nach dem 1. Keplerschen Gesetz die Bahnen der Planeten Ellipsen sind, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Ich kann Ihnen aber mit der ganzen Autorität eines Ordinarius der Theoretischen Physik versichern, dass es im ganzen Universum keine Planetenbahn gibt, die eine Ellipse ist. Denn das Keplersche Gesetz hätte nur dann Gültigkeit, wenn es im ganzen Universum nichts anderes als eine Sonne und einen Planeten gäbe, die außerdem noch streng kugelförmig sein müssten.

Das Gesetz hat aber dennoch Sinn, um zunächst zu einer groben Vorstellung des Planetensystems zu kommen. Wenn die nicht mehr ausreicht, wissen wir, wie wir weitergehen, und letzten Endes muss man, wenn man eine Raumsonde durch das ganze Sonnensystem schicken will, riesige Computer aufbauen, die immer besser und besser rechnen.

die furche: Diese Art des naturwissenschaftlichen Denkens hat die industrielle Revolution bis zum Ende des 19. Jahrhunderts möglich gemacht. Als man aber in den Mikrokosmos der Atome vorgedungen ist, hat sich das Denken wiederum verändert.

Pietschmann: Die naturwissenschaftliche Denkweise hat den naiven Realismus als ihre philosophische Grundlage gewählt, das heißt die Annahme, dass die Welt in zwei Teile getrennt werden kann, in Materie und Geist, und dass man den Geist vernachlässigen kann. Die Naturgesetze sind also eine Abbildung der materiellen Welt.

Der Ansatz ist zu naiv gewesen: Den zum einen kann man ja den Geist nicht einfach weglassen, denn sonst gäbe es ja auch niemanden, der nach Naturgesetzen fragt. Und zum anderen ist die materielle Welt, in der wir leben, nicht einfach so, wie wir sie erkennen. Am Ende des vorigen Jahrhunderts ist das System daher an seine Grenzen gestoßen.

Den eigentlichen Durchbruch diese Denkens hat Einstein mit seiner Relativitätstheorie vollzogen, indem er - im Gegensatz zu Newton - gesagt hat: Es gibt keine absolute Zeit, weil sie nämlich grundsätzlich unmessbar wäre. Und was grundsätzlich nicht festgestellt werden kann, hat in der Beschreibung der Physik nichts verloren. Dieser Ansatz wurde von der Gemeinschaft der Physik akzeptiert. Wenig später hat dann auch die Quantenmechanik mit der Heisenbergschen Unschärferelation gezeigt, dass das, was ich grundsätzlich nicht messen kann, nämlich die Bahn eines Atoms, in der Physik nichts verloren hat: Man kann daher nicht sinnvollerweise von Elektronenbahnen im Atom sprechen.

die furche: Warum lernt dann heute noch jeder, dass es Bahnen gibt, in denen Elektronen um den Atomkern kreisen?

Pietschmann: Bei mir lernt man das natürlich nicht, leider aber immer noch in der Schule. Dafür habe ich nur eine psychologische Begründung: Das Modell für das Atom mit solchen Bahnen ist ja auch das Symbol von sehr bedeutenden Institutionen wie der Internationalen Atomenergieagentur. Das rührt daher, dass es das letzte Modell ist, das dem klassischen abendländischen Denken entspricht, nämlich der ursprünglich auf Aristoteles zurückgehenden Forderung der Widerspruchsfreiheit. Das kann man dann weiterentwickeln zur Forderung, sich von allem anschauliche Modelle zu machen. Die Quantenmechanik ist aber mit der strengen aristotelischen Logik nicht mehr vereinbar, und führt daher notwendigerweise zu einer Unanschaulichkeit und daher zu einer gewissen Unsicherheit bei den Lehrenden.

die furche: In unserem Gespräch ist bis jetzt die ethische Dimension ausgespart. Doch die Naturwissenschaft - die ja über den Atomkern und den Zellkern hinaus vorgedrungen ist - stößt doch auch an ethische Grenzen.

Pietschmann: Immanuel Kant hat gesagt: Die wesentlichen Fragen kann man eigentlich immer auf drei Fragen zurückführen: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Das sind die Fragen nach der Erkenntnis, nach dem Glauben und nach der Ethik. Nun wurde in der Naturwissenschaft die Gewissheit in der Erkenntnis nicht auf das Denken, sondern auf das Tun durch das Experiment zurückgeführt. Dadurch ist es bei diesen Fragen zu einem Kurzschluss gekommen: Was kann ich wissen, und was soll ich tun? wurde zu: Was kann ich tun? Das Was soll ich tun, wurde vergessen.

Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat diese Tatsache so formuliert: Die Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung der Wissenschaft ist. Die Wissenschaft erzielt also ihren Erfolg daraus, dass sie gewisse Fragen nicht stellt. Diese Fragen sind diejenigen nach dem Sinn und nach der Ethik. Wir können jetzt aber nicht von der Naturwissenschaft fordern, dass sie diese Fragen jetzt stellt, sie verliert sonst ihre Erfolgsbedingung. Wir können aber auch nicht diese Fragen ausklammern, weil wir damit uns selbst ins Verderben führen.

Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir einerseits auf die Naturwissenschaft nicht verzichten können, in der wir andererseits aber uns wieder darauf besinnen müssen, dass Mensch sein mehr heißt als erkennen, und dass dieses Mehr an Erkennen wieder aufleben muss, denn wir habe es über mehrere Jahrhunderte verdrängt. Und wir haben keine Methode dafür - die müssen wir erst schaffen. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass dies einem Übergang in ein neues Zeitalter gleichkommen wird.

die furche: Wenn somit eine Zeitenwende naht: Gibt es Spuren, die dann zu einem neuen Kolumbus oder einen neuen Galilei führen?

Pietschmann: Diese Spuren sind zunächst einmal negativer Natur. Auch von der Tat des Kolumbus bis zur "Erfindung der Naturwissenschaften" durch Galilei hat es etwa 150 Jahre gedauert. In diesen Jahren hat zunächst einmal Chaos geherrscht. Ich sehe ähnliche Übergänge auf drei Gebieten - in denen mich auch persönlich engagiere: * Da ist der Gesundheit des Menschen: Wir stehen nämlich vor der logischen Ausweglosigkeit, weil wir einerseits nicht auf die naturwissenschaftliche Medizin verzichten können, sie aber nicht darauf reduzieren dürfen. Es gibt je heute viele Komplementärmethoden, von Akupunktur über Ayurveda bis zur Homöopathie, die wieder aufleben. Gegenwärtig sind wir aber noch nicht soweit, dass wir entscheiden können, wann welche Methode sinnvoller ist.

* Einen zweiten Aufbruch sehe ich in der Wirtschaft: Im streng kapitalistischen Wirtschaftssystem kommt es auf die Befindlichkeit der Menschen, der Arbeitenden nicht an. Heute erkennt man aber, dass etwa auch das Betriebsklima wichtig für den Erfolg ist. Auch hier gibt es eine logische Ausweglosigkeit: zunächst hat das eine nichts mit dem anderen zu tun, muss aber doch auf einen Nenner gebracht werden.

* Das dritte ist unser Bildungswesen: Es wird ja immer offensichtlicher, dass das Bildungssystem nicht mehr imstande ist, junge Menschen zu bilden. Leider wird Bildung nach wie vor technomorph gesehen, das heißt, man betrachtet das Bildungswesen analog dem Programmieren eines Computers. Da sehe ich am wenigsten Licht am Horizont.

die furche: Zwischen Kolumbus und Galilei lagen 150 Jahre. Durch die physikalischen Fortschritte ist die Menschheit soweit, das sie sich mittels Atombombe selbst ausrotten kann, im biologischen Bereich gibt es bei der Gentechnik ähnlich gefahrvolle Szenarien. Haben wir überhaupt diese 50, 100 Jahre noch, die notwendig sind, damit eine neuen Zeitalter greift?

Pietschmann: Wenn man die Analogie zum Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit zieht, dann kann man daraus lernen: Wir dürfen nicht erwarten, dass der Wechsel noch in unserer Generation vollendet wird. Wir dürfen uns dadurch aber nicht entmutigen lassen. Ein Beispiel: Ich habe viele Menschen hinter dem Eisernen Vorhang gekannt, die sich nichts Sehnlicheres gewünscht haben als den Fall der Berliner Mauer. Viele von denen sind vor 1989 gestorben. Hätten sie aber nicht diese Sehnsucht gelebt, dann wäre es nie dazu gekommen.

Das andere ist die Frage: Werden wir es schaffen? Diese Frage dürfen wir nicht stellen. Denn auch hier stehen wir vor einer logischen Ausweglosigkeit: Ob wir Optimisten oder Pessimisten sind - in jeder Hinsicht hat die Antwort negative Wirkungen. Wenn wir optimistisch meinen, wir werden es schon schaffen, dann verlieren wir Impetus - und werden es nicht schaffen. Wenn die Antwort ist, wir werden es nicht schaffen, dann können wir es ja gleich aufgeben. Diese Frage darf nicht gestellt werden. Das ist in unserer Kultur schwierig, weil wir ja glauben, alle Fragen beantworten zu müssen.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

Zur Person: Physiker mit enormen Interessen 1971 wurde der 35-jährige Herbert Pietschmann als Ordinarius ans Institut für Theoretische Physik der Universität Wien berufen, dem er heute auch vorsteht. Sein Fachgebiet umfasst unter anderem die Physik der Elementarteilchen und deren Kräfte. Pietschmann ist auch mit zahlreichen Arbeiten über westliche und östliche Philosophie sowie Geschichte der Naturwissenschaften hervorgetreten. Bücher wie "Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters" (Wien 1980/Stuttgart 1995), "Aufbruch in neue Wirklichkeiten - Der Geist bestimmt die Materie" (Stuttgart 1997) oder "Gott wollte Menschen" (Wien 1999) machten ihn über die Fachkreise hinaus bekannt.

Daneben beschäftigt sich Pietschmann mit der Entwicklung verbesserter Lern- und Lehrmethoden. Ein weiteres Betätigungsfeld stellen Grundfragen der Medizin dar, auch darüber publizierte Pietschmann. Zusätzlich unterrichtet der ausgebildete Gruppendynamiker am "Hernstein International Institute" Spitzenkräfte der Wirtschaft. Pietschmann gehört zahlreichen physikalischen, naturwissenschaftlichen, ganzheitsmedizinischen und philosophischen Institutionen an. Er ist auch Gründungsmitglied des "Vereines zur Verzögerung der Zeit", engagiert sich in Friedens- und Entwicklungsfragen und hält Vorträge über klassische Musik. ofri

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