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Urangst vor den Widersprüchen

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Es ist schon wieder rund 45 Jahre her, da kam ich eines kühlen Sommernachmittags ins „Vesu-vio”, Ecke Columbus und Adler. Im Lokal war an einem Tisch Platz, an dem saß Jack und so setzte ich mich zu ihm. Er sah intensiv ins Leere, das respektierte ich und trank mein Bier mit meinen eigenen Gedanken. Zwanzig Minuten später hob er sein Haupt, und seine Hände mit den Flächen nach oben, und sagte langsam und deutlich „Alles ist” und danach kam ein Laut, der ein wenig wie ein nicht ganz gelungener, gequälter, trockener Gurgler klang.

Wir hatten damals alle unser erstes Vierteljahrhundert und irre Erlebnisse in einer Welt hinter uns, die sich gerade erst vom Krieg erholte und waren, gewissermaßen, am Aufarbeiten des philosophischen Bohmaterials. Jack hatte es mit Zen am Hut und mir war das auch irgendwie sympathisch. So meditierte ich denn über, also ich würde sagen, über den Laut der nach dem „Alles ist” kam. Ich war an sich einverstanden. „Ja” zu sagen entsprach aber nicht dem Stil von Jacks Aussage. Eine Wiederholung des „Alles ist” wäre auch zu billig. Ich hatte aber im Augenblick Halsweh und wußte nicht ob der Laut bei mir richtig herauskommen würde. Schließlich riskierte ich's. Ich hob meine Hände, ebenfalls mit den Flächen nach oben, den Kopf, und machte einen Versuch zum obigen Laut. Also, es kam eher fettig heraus und irgendwie mit Blasen. Das war wegen meinem Hals. Ein wenig hatte ich schon Sorge, daß Jack das als Gegenaussage auffassen könnte.

Zuerst passierte nichts. Dann beobachtete ich, daß Jacks Augen einfielen und langsam rötete sich sein Gesicht. Schließlich sprang er auf, rannte ohne ein Wort aus dem Lokal und ließ mich die drei Glas Bier zahlen, die er ge-trutfken hatte. Die ganze Zeit, die ich noch in San Francisco blieb, sprach Jack nie wieder ein Wort mit mir. Wenn wir uns auf einer Party oder im Vesuvio oder im Purple Eye trafen, wandte er sich langsam, und so, daß jeder das auch bemerkte, von mir ab. Die dreißig Cents, die ich für seine drei Gläser Bier bezahlt hatte, die blieb er mir schuldig.

All diese Jahre hatte ich nicht begriffen, wo für Jack Kerouac das Problem lag. Erst das Buch „Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters” von I lerbert Pietschmann öffnete mir die Augen. Jack wollte damals in neue Dimensionen des Geistes vordringen. Wie Eierschalen einem Küken hing ihm jedoch die Denkweise an, die er ablehnte. Pietschmann geht es in seinem Buch um die Aufhebung solcher unvereinbarer Gegensätzlichkeiten, zuerst und vor allem auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Pietsch-mann nimmt „den Leser mit auf eine e'nzigartige Reise in die Geschichte der Gedanken. Anhand anschaulicher Anekdoten ... aus der Wissenschaftsund Kulturgeschichte erzählt er, wie ”n laufe von Jahrhunderten das naturwissenschaftliche Weltbild unse-^r Zeit entstanden ist.” Weil die Neue Wissenschaft, nach ihm, Widersprüche nicht anerkennen will, *'rd in unserem naturwissenschaftlichen Zeitalter' ein auftauchender neuer Gedanke, eine neue wissenschaftliche Hypothese, als Widerspruch zur abgesicherten Wirklich-c't auf einer ersten Stufe geleugnet, auf einer zweiten Stufe ausgeklammert und abgetrennt. Wenn der Wi-erspruch immer noch nicht verschwunden ist, wird er auf der dritten Stufe in irgendeine freie Lücke gequetscht und dabei nach Möglichkeit verfälscht. Hat sich die These schließlich doch genügend durchgesetzt, wird sie, einschließlich der notwendigen Abänderung des Weltbildes, in der Gesamtstruktur aufgelöst. Die fünfte Stufe, auf der in einer Synthese der Widerspruch aufgehoben wird, wäre das Wunschziel, um aus der Sackgasse unserer Neuen Wissenschaft herauszukommen. Wobei Aufhebung eben nicht Ausmerzung bedeute, sondern Offnen eines neuen Gegensatzes der höheren Art, ein Hinaufheben. „Wenn es uns aber nicht gelingt, neben der naturwissenschaftlichen Logik den Widerspruch zuzulassen, steht die Apokalypse unmittelbar bevor.” Für das Jahr 2.000, gestatte ich mir zu vermuten.

Um den Weg aus der Sackgasse klarer darzustellen, schließt er „Andere Weltbilder” in seine Betrachtungen ein. Nicht ohne Berechtigung liegt ihm die Lehre des Tao besonders am Herzen, ja findet er in ihr den besonders klaren Ausdruck seines Anliegens. Schließlich hat man nirgendwo die Funktion des Gegensatzes im Leben der Gesellschaft so eindringlich formuliert wie in der Lehre des Tao von Lao Dse. Man denke an den alten Taoisten Mao Dse Dung, der die stalinistische These vom Ende aller Widersprüche im Kommunismus absurd fand und seine taoistische Gegenthese von der Permanenz des Widerspruchs als Motor des Lebens auch im Kommunismus, in seiner Umsetzung in praktische Politik bis zum Bruch mit der Sowjetunion trieb. Wenn auch in extremer Form und unter dem Deckmantel des angeblichen marxistisch-leninistischen Monopols auf Wahrheit und Fortschritt ist die Weigerung Stalins, Widersprüche anzuerkennen, wohl wesensverwandt mit der Situation in der Wissenschaft, die Pietschmann beschreibt. Beide wiederum sind Atavismen, wesensverwandt mit der Ur-Angst des Hordenmenschen vor der Ungewißheit.

Doch habe ich den Eindruck, Pietschmann rutsche mit seinen „Anderen Weltbildern” in die modische postmoderne Idealisierung der außereuropäischen Kulturen ab. Alle diese Weltanschauungen entstanden, wie unsere, aus dem Versuch, wegzukommen vom kleingruppenbezogenen Weltverständnis der Stammesgesellschaften, das die Anderen als NichtMenschen ausgrenzte. Die verschiedenen, Großreiche bildenden Gesellschaften versuchten, zum Verständnis des Einzelmenschen als Teil einer Vielfalt zu kommen. Das führte bei uns schließlich zu einer sehr weitgehenden Aufwertung der Individualität. Der tief im Menschen sitzende Drang nach Sicherheit über die Ausgrenzung des Anderen wurde auf die Kleinstgruppe beschränkt, bei zumindest theoretischer Aufhebung des Widerspruchs zwischen allen Anderen, den ethnischen Gruppen. Der zu liebende Nächste ist jeder Mensch. In der Praxis versucht die atavistische Stammesweitsicht immer wieder, durch's Hintertürl hereinzukommen, in den letzten dreihundert Jahren mit Aufstieg und Niedergang des Nationalismus. Andere W7ege wurden im Orient beschritten. Die zwischenmenschliche, wenig individualisierte Beziehung der Stammmesge-sellschaft zum Einzelnen wurde wenigstens teilweise über buddhistischkonfuzianische Verwandlungen in die Großgruppe der Sprach- und Kulturgemeinschaft übernommen, übernommen auch die absolute Macht des Herrschers über Tod und Leben. Damit einher geht aber auch die Ausgrenzung all derer, die nicht Mitglieder der Großgruppe sind, der Anderen, der Nicht-Chinesen, Nicht-Japaner, der Pariahs. Statt der Aufhebung der Ausgrenzung wird die Ausgrenzung nach Außen verschoben. Daher vom „Tao der Liebe” unkritisch als Ideal zu sprechen, ist ein bißchen weltfremd.

Gerade weil das Individuum so wenig zählte, beschäftigte sich der im Orient stets total abhängige und meist ebenso total innerlich in Opposition zur Macht stehende, sich als ,vorbild-liches Unikat' empfindende Denker, mit der Essenz des Einzelmenschen in einer Weise, die dem prinzipiell in seiner Individualität abgesicherten Denker im Okzident kaum je notwendig erschien. Man muß tief im System der axiomatischen Logik verankert und dazu noch oberflächlich informiert sein, um solch einen Teilaspekt als die Essenz des orientalischen Wesens zu interpretieren.

Trotz allen Bemühens scheint Pietschmann, wie der jugendliche Jack Kerouac, nicht imstande, die Zwangsjacke der Verinnerlichung axiomati-scher Logik in seinem Denken zu überwinden.

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