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Der rote Kolumbus

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Am 3. August 1492 segelt Christoph Kolumbus von Palos gegen Westen, entdeckt am 12. Oktober eine der Bahamainseln, dann Kuba und Haiti, das er für Japan (Cipangu) hält: Kolumbus zog aus, um im Fernen Osten zu einer großen militärischpolitischen Allianz zu gelangen. Er wollte nach Indien, zu dem sagenhaften Priesterkönig Johannes, um im Bunde mit ihm von Ost und West den Weltfeind Nr. 1 der Christenheit, den Islam, in einer Zangenoperation zu fassen und zu vernichten. Kolumbus dachte sich die Erde als eine Birne oder als Apfel mit Busen: auf seiner Höhung liegt das irdische Paradies. Zum Ende wollte er in Jerusalem das Weltreich des Friedens begründen.

Der rote Kolumbus, besser, sein erster Repräsentant im Weltraum, Juri Gagarin, sieht am 12. April 1961 die Erde unter sich als einen Ball, der von einer wunderschön leuchtenden blauen Aura umgeben ist.

Zwischen dem ersten und zweiten Kolumbus stehen der Domherr aus dem polnischen und deutschen Grenzraum, Kopernikus, und der Italiener im Dienste der österreichischen Herzogin von Toskana, Galilei. 1616 wird Kopernikus indiziert, am 22. Juni 1633 wird Galilei kirchlich abgeurteilt. Es dauert rund 300 Jahre, bis sich Rom und das christliche Abendland von ■ihrem Schrecken erholen, nicht mehr räumlich das Zentrum des Kosmos zu sein. Im 19. Jahrhundert wird die Indizierung von Kopernikus und Galilei aufgehoben.

Während der Schock über den sowjetischen Weltraumerfolg vom 12. April 1961 vielen Nichtrussen und Antibolschewiken iri die Glieder fährt und sie zu einem verlegenen Stammeln verführt, anerkennen am 14. April 1961 der Vatikansender und der „Osservätore Romano“ den ersten Weltraumflug eines Menschen als ein großes Ereignis in der Geschichte der Wissenschaft. Der Chefredakteur des „Osservätore Romano“, Manzini, bekennt:

„In diesem Sinne feiert jeder Mensch und jedes Volk, so verschieden sie in ihrer Struktur und ihrer Ideologie auch sein mögen, dieses Ereignis: und auch die Völker, die in einer schon fortgeschrittenen Phase der Vorbereitung gleicher Eroberungen stehen, begrüßen es. Die wissenschaftliche Wahrheit kennt keine Grenzen, und die technische Eroberung ist, soweit sie im Guten angewandt wird, ein gemeinsames Gut.“

Der Vatikansender kommentiert ferner: dieses Ereignis, obwohl erwartet und durch eine lange Reihe geglückter. Versuche vorbereitet, habe dennoch überrascht und das tiefe Freudengefühl erweckt, das große Unternehmungen hervorrufen, die Marksteine in der Geschichte der Menschheit sind.

Das ist eine Stellungnahme, würdig Menschen, die sich als Mitglieder der Familie des Menschen, der „family of man“, wissen, und würdig Katholiken einer thomasischen Vernunft, die mit Thomas von Aquin bekennen: „Aller Freiheit Wurzel ist in der Vernunft eingegründet“ (totius libertatis radix ėst iri ratione constituta).

Das Freudengefühl, den Jubel des russischen Volkes kann nur verstehen, wer weiß und sich erinnert: hier ist das tiefste und stärkste Motiv russischer Glaubenskraft und Denkkraft angesprochen worden, die Sehnsucht und der Wille, den Kosmos zu erlösen, zu erobern, zu vermenschlichen. Der russische Mathematiker Ziolkowski, der vor einem halben Jahrhundert lehrte, die Menschheit werde nicht ewig auf der Erde bleiben, sondern im Drang nach Licht und Raum zaghaft über die Grenzen der Atmosphäre vordringen und sich dann den ganzen Raum um die Sonne erobern, steht bereits in einer großen, vielhundertjährigen Tradition. Für sie hier nur einige für sich sprechende Zeugnisse der letzten 100 Jahre: Der Philosoph Nikolai Fjodorow (1828 bis 1903), der von großem Einfluß auf Solowjow wurde, ein Mann, politisch ultramonarchistisch, der äußersten Rechten angehörend, in seinen Angriffen gegen den industriell-kapitalistischen Westen jedoch radikaler als manche Stalinisten, war der Überzeugung: Der Mensch ist verpflichtet, aktiv ins Weltall einzugreifen, um es zu vermenschlichen und zu vergotten. Aufgabe des Menschen ist es, „nicht nur zu besuchen, sondern auch zu bevölkern alle Welten des Universums“. Wladimir Solowjow (1853 bis 1900), der größte russische religiöse Denker jüngerer Zeit, lehrt: „Die Schöpfung ist eine fortschreitende und hartnäckige Bewegung“, sie besteht „in der immer tieferen und vollkommeneren Vereinigung der materiellen und anarchischen Kräfte, in der Verwandlung des Chaos in Kosmos.“ Der Mensch hat den Auftrag, das Chaos im Weltall ih Kosmos, mensch- und gottdurchformte Wirklichkeit zu verwandeln. Bedeutsam meint Solowjow: „Das Werk-des Christus wird auf Erden zu einem großen Teil durch jene ausgeführt, die Christus in ihrem Bewußtsein leugnen und ablehnen.“

Der frühbolschewistische Messianismus, besonder® eindrucksvoll durch seine Dichtung verkörpert, knüpft mit tausend Fäden an die kosmische Religiosität der Russen an. Kirillow besingt den „eisernen Messias“: „Hier ist er, der Erlöser der Erde, der Beherrscher titanischer Kräfte, im Geräusch der Drähte, dem Funkeln der Maschinen, dem Glanze elektrischer Sonnen. Man glaubt, er komme im Sternenkleid, im Heiligenschein göttlicher Mysterien. Doch er kam im Rauch von Fabriken und Vorstädten …“ Gastew singt: „Der Erdball, unter Eisen geschmiedet, wird zum Kessel des Weltalls werden. Und wenn … die Erde nicht mehr aushalten kann und ihre Schale aus Stahl sprengen wird, dann wird sie neue Wesen gebären, deren Name nicht mehr Mensch sein wird. Die Neugeborenen werden dann den kleinen und niedrigen Himmel nicht mehr bemerken; er wird sich in der Explosion ihrer Geburt verloren haben. Sofort werden sie die ganze Erde in einen neuen Kreis rücken, die Karte der Sonnen und Planeten vermischen, neue Stockwerke über den Weltallen schaffen … und Harmonien unbekannten Ursprungs werden immer weiter iber die undenkbar und unsichtbar weiten Horizonte erschallen,“

Sergej Jessenin (von dem eben, lurch den Altösterreicher Paul Celan übersetzt, in Deutschland eine kleine Auswahl Gedichte erschienen ist) sieht der Herstellung von Verbindungen zwischen den Planeten entgegen, „nachdem die Menschen die Ehe zwischen Erde und Himmel begriffen laben werden“. Jessenin schneidet sich im Dezember 1925 die Pulsadern lurch, schreibt sein letztes Gedicht nit seinem Blut. Er steht mitten in dereihe jener Dichter und Sänger der rühen Revolution, die in Hunger und Verzweiflung zugrunde gehen, nicht suletzt gemordet durch den Stalinis- nus.

Es gibt mehrfach Anzeichen dafür, daß man heute in der UdSSR zur Gläubigkeit des Frühbolschewismus, der sich von einem vielhundertjährigen christlichen Messianismus nährte, zurückkehren und die lieblose, tötende, pedantische und bürokratische Orthodoxie der stalinischen Ära überwinden möchte. Gleichzeitig aber gilt nach wie vor das Credo Stalins („ Antwort an Genossen“, Prawda, 2. August 1950): „Der Marxismus ist die Wissenschaft von den Entwicklungsgesetzen der Natur und der Gesellschaft die Wissenschaft von der Revolution der unterdrückten und ausgebeuteten Massen, die Wissenschaft vom Siege des Sozialismus in allen Ländern, die Wissenschaft vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft.“

Es ist die Aufgabe der nichtkommunistischen Welt, die, wie Kennedy am 14. April 1961 in seinem politischen Kommentar zu Juri Gagarins Weltraumflug sagte, für einen großen Teil dieses Jahrhunderts den Kommunismus als großes gegnerisches System neben sich haben wird, durch den Erweis eigener Leistung gerade den Russen klarzumachen: gerade ihr „Marxismus“ ist keine Wissenschaft, sondern ein Glaube, der sich wissenschaftlicher Mittel bedient, um die Welt und den Kosmos zu erobern.

Kennedy erläuterte bedeutsam: „Ich glaube, wir befinden uns in einer Periode langhingezogener Prüfungen, welches System haltbarer ist — nicht besser, sondern haltbarer.“ Das ist ein; gerade für europäische Christen, die von Weltangst, Weltuntergangsangst und einer falschen Geschichtstheologie geplagt und verwirrt sind, wichtig, zur Kenntnis zu nehmen: Besteht die große Gefahr der Verführung zu Kurzschlußdenken und Kurzschlußhandlungen für die Sowjetrussen darin, daß sie meinen, ihre politische Doktrin sei eine alle Menschen verpflichtende, allgemeingültige Wissenschaft, der sich nur Abergläubige, Narren, Böswillige und Verbrecher zu entziehen versuchen, während alle anständigen Menschen sich früher oder später zu ihren Segnungen bekehren müssen, so besteht die korrespondierende Gefahr der Verführung zu einem falschen Denken und Handeln für Christen darin, daß diese meinen, ihr „Glaube" verpflichte sie zur totalen Ablehnung alles dessen, was jene „Ungläubigen“ denken und tun, so daß sie, statt zunächst einmal die völlig andere Wirklichkeit anderer Menschen kennenzulernen, kurzatmig aburteilen und sich in Schockreaktionen selbst die Zukunft verstellen.

Schlicht und klar ist also dies zu sehen: Die Regierung und weite Teile des russischen Volkes, die, beide, immer noch an Minderwertigkeitskomplexen dem technisch-industriellen Westen gegenüber leiden, sehen im Vorsprung der russischen Weltraumforschung einen Sieg der „wissenschaftlichen" Weltanschauung ihres Systems, einen Erfolg ihrer Regierung.

Die mögliche Renaissance frühbolschewistischer Gläubigkeit, der Versuch, die Jugend und Intelligenz des sowjetischen Imperiums mit dem großen Atem eines kosmischen, kommunistischen Humanismus zu durchbluten und wachcurufen, wirft große Probleme auf…

Ost und West werden jedoch sehr bald dies in erster Linie in Rechnung stellen: Das Schicksal des Menschen wird nach wie vor, und auf lange Sicht, auf dieser Erde entschieden. Es bedarf keiner Stationen im Weltraum, um sich gegenseitig zu vernichten. Dazu gehören, hier und dort, die Raketen und Mittel, gestapelt im Schoß der Erde. Wohl aber bedarf es hier wie dort neuer Menschen, die den riesenhaften Anforderungen gewachsen sind, die dem Menschen gestellt sind, will er Hirt und Herr, statt Zerstörer und Selbstmörder im Kosmos sein. Im Wettbewerb um die Bildung und Erziehung neuer Menschen, die nicht nur den Strapazen des Weltraumfluges, sondern auch den Auseinandersetzungen auf dieser Erde gewachsen sind, werden Ost und West . außerordentliche Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Mit dem 12. April 1961 ist, nach dem 6. August 1945 (Abwurf der ersten Atombombe auf Menschen), ein zweites Wegmal gesetzt worden: die offene Erde) deren atomare Kräfte erschlossen' wurden, und der offene Kosmos bedürfen eifies offenen Menschen, der die „Allberührung“ und Allkommunikation leistet, die Adalbert Stifter 1857 im „Nachsommer“ fordert: wird sie geschaffen, dann „wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden.“

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