6565581-1949_44_01.jpg
Digital In Arbeit

Glauben auf der Flucht

Werbung
Werbung
Werbung

Während in England die Labourregierung mit dem Staatssozialismus experimentiert und die Politiker über die revolutionären Wege einer neuen Welt, die große soziale Umwälzung, debattieren, schreibt Bernard Shaw, der ewige Zweifler, der ewige Zyniker: „All das, was Attlee und seine Leute wollen, ist eine überholte, verspätete Sache. England hinkt auf der großen Straße der Welterlösung müde hinter den anderen, vorgeschritteneren Nationen einher.“ — Er sagt fast, England hätte diesen Ruhm den Russen überlassen. — „Wir sind müde, wir sind alt!“ ruft der frische, dreiundneunzigjährige Sozialprophet. „Die amerikanischen Blätter reden von uns bereits als von dem .kranken Mann an der Themse. Beinahe so, wie man gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der Türkei Abdul Hamids gesprochen hat’“

Aber nicht nur Bernard Shaw allein steht den neuen Methoden der Weltverbesserung so skeptisch gegenüber. Andere Größen des englischen Geistes sind schon so müde, daß sie selbst daran nicht glauben, was ihnen Bernard Shaw als Vorbild hinstellen möchte. Schriftsteller, Wissenschaftler, die Reformapostel des geistigen und sittlichen Lebens, sie alle fühlen, wie die Welt auf neuen, wilden Pfaden mit wachsender Geschwindigkeit auf eine schreckliche Chimäre, auf das alles in sich verschlingende Sklaventum des Termitenstaates zusteuert.

„Keine Rettung“, sagt Aldous Huxley mit der Verzweiflung der literarischen und künstlerischen Persönlichkeit, „vor dem Leviathan!“ Ja, er geht sogar noch weiter und zeichnet uns dieses Bild in einem seiner Romane „Brave New World“, und dann übertrumpft er diese Vision noch mit einer anderen Utopie „Ape and Essence“, in dem die Herrschaft des Satans über die zum Affen verwilderten Menschen prophezeit wird.

„Es gibt keine Rettung“, sagt Aldous Huxley, „höchstens im persönlichen Einsiedlertum, weit weg, irgendwo in der Tiefe des tropischen Urwalds, inmitten von Südseeinseln. Oder im stolzen Beiseitetreten, in der Abgeschiedenheit der seelischen und geistigen Einsamkeit — allerdings nur für jene, die sich diesen Luxus oder diese Askese leisten können. So wie einst die ersten Christen, der heilige Hilarion und seine Gefährten, vor dem Unglauben des verfallenden Römischen Reiches, vor seiner seelischen Hoffnungslosigkeit, vor seiner krankhaften Verschwendung, seiner Dekadenz in die Wüsteneien Ägyptens, auf die Inseln des Nils flohen, in Höhlen und in die Seligkeit eines neuen Glaubens."

Die englischen Apostel des Humanismus und Pazifismus verkünden bereits: Es gibt nur eine Rettung: der Politik den Rücken zu kehren, dem Kampf der Parteien und Regierungen, so wie es einst die Griechen taten im Schatten der römischen Herrschaft — müde und beiseitegeschoben, mit dem schwer lastenden Erbe einer glänzenden Vergangenheit — auch weiterhin nur der Kultur, dem Schönen, den Ideen, den Künsten und der Philosophie lebend.

„Zurück zur Erde!“ verkünden andere. „Zurück zur Natur, zu dem Bekenntnis eines neuen Rousseau, zur Einfachheit und darüber hinaus: zur persönlichen Freiheit!“

„Der Staat ist an allem schuld, die Idee des Staates selbst, in jeder Form. Diesen alles verschlingenden, sklaventreibenden Tyrannen, den muß man stürzen!“ sagen Herbert Read und der brave D. L. Sawage. „Wir lehnen den Staat ab und verleugnen ihn! Wir brauchen ihn nicht, in keiner Form!“ George Orwell verkündet den „Aufstand der Intellektuellen“ gegen den das Individuum vernichtenden Phalanster- staat.

So spricht das müde England, besser gesagt: so sprechen die Müden Englands. Und das ist nicht mehr die Stimme des Königs der Meere. Nicht die Stimme jener Pioniere, die Amerika, die beiden Indien oder Australien erobert haben. Das sind die Grübeleien eines Marc Aurel.

Immer neue und neue Wellen von Barbaren stürmen von Osten her die Grenzen des Römischen Reiches. Wilde, rohe, kriegerische Völker, die weder durch eine überlegene Philosophie noch durch eine bequeme, verfeinerte Kultur verdorben sind. Der Kaiser ist genötigt, Krieg gegen sie zu führen, gleichzeitig aber verabscheut er Blut und Gewalt, den Krieg. Er sitzt in seinem Zelt im Scheine des Öllämpchens und sinnt darüber nach, wohin man vor dem Greuel fliehen könnte’?

Wohin kann man also noch flüchten? In den Mond, bitte! Oder auf einen anderen wohnlicheren, gemütlicheren Himmelskörper. Die heutige Tragweite der Raketengeschosse läßt dies schon erhoffen — besagt eine amerikanische Meldung — und in acht bis zehn Jahren wird diese Reise keine Sensation mehr sein. Die Erdkugel schrumpft ja sowieso endgültig zusammen. Seit der Postkutsche tut sie nichts anderes mehr. Eine Reise in den Mond wird in Kürze einem Wochenendausflug gleichkommen, mit Rückfahrkarte. Die amerikanische Meldung jedoch besagt, daß man bald auf anderen Planeten auch nach geeigneten Landungsplätzen wird Ausschau halten müssen.

Was geschieht aber, wenn wir auf diesen Sternen noch termitenhaftere Verhältnisse finden, vor denen ein dortiger Rousseau und Aldous Huxley wiederum auf die Erde flüchten möchten!?

Rousseau und seine Anhänger flohen seinerzeit vor den unerträglichen Rang- und Klassenunterschieden, aus den Ketten feudaler Vorrechte einer in Formen gezwängten Gesellschaft zurück zur Erde, zur Natur, um dort die Einfachheit, die Gleichheit zu suchen. Wir, oder sagen wir: Aldous Huxley, würden vor derselben fürchterlichen Gleichheit fliehen, von der Rousseaus Zeitgenossen als von einer Verwirklichung menschlichen Glücks, einer idealen Staatsund Gesellschaftsordnung träumten ‘

Der die Spartaner nachahmende Kollek- tjgrstaat eines Malby oder die nationalen Arbeitssiedlungen eines Louis Blanc stammelten bereits die Sprache dieses Leviathans, dieser neuen Welt. Cabet, um all dies praktisch zu verwirklichen, floh nach Mexiko, nach Texas und gründete dort seinen eigenen kleinen kommunistischen Staat mit dem schönen Namen Ikaria; die begeisterten Siedler jedoch flohen alsbald selber aus ihrem Lande. Wohin würden sie jetzt, vor dem Roboterstaat des Atomzeitalters fliehen?

Denn seit Rousseaus Zeit hat sich das kopernikanische Weltbild mit Hilfe der neuen Teleskopwunder und der kosmischen Strahlen auf das Hundert- oder Hunderttausendfache seiner ursprünglichen Größe ausgedehnt. Aus dem enggeschlossenen, kleinen „unendlich“ des Koperniküs zu einer wirklich fast unendlichen Unendlichkeit. Der Weltraum, oder doch wenigstens jener, in dem wir leben, ist nicht unendlich. Wahrscheinlich ist jedoch, daß es mehrere, ja vielleicht unzählbare Welträume gibt. Der Durchmeser unseres Weltraums beträgt 2000 Millionen Lichtjahre. In diesem Weltraum ist die Sonne ein Stern von Untergeordneter Bedeutung. Der mit Hilfe eines Teleskops noch erreichbare entfernteste Spiralnebel befindet sich von uns auf 500 Millionen Lichtjahre entfernt.

Der Weltraum bewegt sich und ist dabei in ständigem Wechsel der Ausdehnung und des Zusammenschrumpfens begriffen. Wir befinden uns jetzt in der Periode der Ausdehnung. Sein Radius wächst alle 1300 Millionen Jahre auf das Doppelte seiner eigenen Länge. Wo ist die Phantasie, die imstande wäre, diesen Raum zu durchfliegen? Und trotz seiner Lichtjahre, Teleskopwunder und seiner Spiralnebel ist unser Weltbild doch ,nicht viel mehr als nur eine’kindliche, kleinliche Vorstellung von der wahren, aber unfaßlichen Größe der Schöpfung!

Wir können nur zum Glauben, zum lieben Gott, zur Kirche flüchten, sagen die, die in der Weltkatastrophe, in den Niederlagen mächtiger Reiche, in der Erniedrigung stolzer Völker, in den Millionen Hungernder, in niedergebrannten Städten und Dörfern, in den von Land zu Land gehetzten, heimatlosen Menschenherden überall seine rächende Hand fühlen. Wir können nur zu Ihm flüchten — sagen sie —, denn wenn wir auch auf andere Sterne fliegen, vor seiner Gnade oder seiner Strafe können wir uns nicht verstecken, ihr können wir nicht ausweichen.

Wennwirlhnaberinuns selbst, im eigenen Herzen nicht finden, dann suchen wir Ihn auch im ganzen Weltall, im ganzen Weltraum vergeblich’

Inmitten des Verfalls, der inneren Verkommenheit und der ethisch-moralischen Gleichgewichtslosigkeit des römischen Reiches war der neue Glaube schon im Werden, um auf den Ruinen der Alten Welt eine neue zu errichten, die auf dem Fundament des Christentums, des Evangeliums stehen sollte. Es ist dieselbe Welt, die heute ihrer Wiedergeburt, ihrer Erneuerung entgegengeht, auch wenn es heute viele noch nicht sehen oder vorerst nur die Geburtswehen zu spüren bekommen.

Hinter dem Toben der Kriege, hinter dem Haß, in dem sich die Völker gegenseitig zerfleischen, hinter dem Zusammenbruch von Weltreichen, dem Ausrotten ganzer Völker, hinter den Millionen obdachloser und heimatloser Bettler, hinter den unmenschlichen Greueltaten der Horden der Sieger, über Tausenden von Ruinenstädten, hinter dem brüllenden Orkan die Welt seligmachender Lügen und dem Pharisäertum und Geflüster wichtigtuerischer Weltpolitiker, hinter den zu keinem Ruhepunkt gelangenden Entdeckungen der Technik und der Naturwissenschaften, hinter den Weltraum immer, weiter ausdehnendem oder immer kleiner werden lassendem Wissen und hinter den Sensationen, die die Welt des Atoms zum Weltraum werden lassen, inmitten eines sich aus alldem nährenden menschlichen Hochmutes und menschlichen Unfriedens, hin und her geschleudert, zwischen den Polen des Alles-tun-Könnens und der Machtlosigkeit, hinter dem Sieg, hinter einer die Welt und die Geheimnisse der Schöpfung erobernder Vermessenheit und gleichzeitig hinter unerfüllten Sehnsüchten und Anstrengungen dämmert bereits über-all das gleiche Endziel und wird die gleiche Erlösung geboren.

Ein neues Christentum ist unterwegs, das sich in der Einheit seines neuen Weltbildes und dessen göttlicher Harmonie erneuert hat und nur eine solche, durch das Evangelium geläuterte Menschheit kann den Versuch unternehmen, die neue, bessere Welt aufzubauen.

Jenseits der Gräber, jenseits der Wunder der Atomwelt, jenseits der Geheimnisse des Weltraumes, hoch über der Unendlichkeit von Lichtjahren und Weltsystemenwinktdasfreund- liche Licht des Sterns von Bethlehem der leidenden Menschheit’

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung