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Europäischer Humanismus und amerikanische Demokratie

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Auf die „Amerikanischen und europäischen Human'smus“ gegenüberstellende Betrachung in der „Furche“ vom 26. Juli 1946 (Nr. 27) ging dessen Verfasser eine Entgegnung von privater Seite zu. Diese bringt an Deutlichkeit der Formulierung nichts zu wünschen übrig lassend, eine Problemstellung von allgemeinstem Interesse und von symptomatischer Bedeutung zur Diskussion. Teil gebe zunächst eine kurze Zusammenfassung der Hauptthesen dieser Entgegnung:

Bei der Darstellung des modernen amerikanischen Humanismus „dürfe ein recht entscheidender Faktor nicht übersehen werden, nämlich die innere Verbindung und zeitliche Entsprechung der Entstehung des nur auf den Menschen bezogenen Humanismus und der reinen Demokratie ib der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“. In dieser Zeit lägen auch die Wurzeln „der modernen Wirtschaft und ihrer lockeren Lebensverhältnisse“. Damals habe sich in Nordamerika die Bildung einer vöilig „neuen Welt“ vollzogen, die sich von der alten, abendländischen grundlegend unterscheide. Der Humanismus Amerikas sei nur als Ausdruck dieser „Neuen Welt“ zu betrachten.

Obwohl nun der europäische Llumanis-mus „auf einem Gotterleben beruhe, in der Religion verwurzelt“, also von grundverschiedener Art sei, habe uns dieser Humanismus Amerika1; nur scheinbar wenig zu sagen. In Wirklichkeit sei den heutigen Bestrebungen, die religiöse Grundlage des europäischen Humanismus mit neuem Leben zu erfüllen, als „einzige Möglichkeit, Europa aus der seit etwa 1900 dauernden Krise herauszuführen“, die Frage entgegenzuhalten: „Ist eine solche Ordnung nicht auch eine totalitäre?“ Und, deutlicher werdend: „Gehören nicht zur Demokratie ein Glaube und eine Weltanschauung, die auf Totalität und Verwurzelung im Göttlichen verzichten und den Menschen zum Mittelpunkt machen und ihm es ganz allein überlassen, wie er sein Verhältnis zu Gott gestaltet?“

Die beiden Weltkriege und die totalitären Systeme unserer Zeit seien nicht zufällig auf dem Boden der „Heiligen Allianz“ von 1815 entstanden. Die amerikanischen Lebensformen seien für uns Europäer von 1946 „unumgänglich nötig“; als ihre Folge würde sich das Christentum „auf das ethische Gebiet konzentrieren“ und nicht mehr „die kapitalistische und die sozialistische Ordnung vor das Gericht des christlichen Naturrechts . . . laden“. (Hier verwies der Verfasser auf das Programm der diesjährigen „Salzburger Hochschulwochen“!) — „Sollen wir noch einmal erleben müssen, daß um weltanschaulicher Fragen willen unsere Städte zerstört werden, über Millionen ein unabsehbares Elend hereinbricht, bloß weil wir uns um geistiger Fragen willen den Weg zur Ordnung verbaut haben?“

Zunächst erscheint es als nicht richtig, den Beginn der Herrschaft eines „nur auf den Menschen bezogenen Humanismus“ in Amerika so früh anzusetzen. Diese falsche Beobachtung beruht auf einer rückwirkenden Überschätzung von Symptomen der Jetztzeit, die sich in den Lehren von Theoretikern — wie McLeish und Perry — nicht aber im Lebensstil der großen Mehrheit des Volkes der Staaten, für jeden Laien ersichtlich aus den Reden amerikanischer Staatsmänner der gegenwärtigen Epoche, wie F. D. Roosevelt oder Präsident Truman, äußern.

Ein Beispiel für die genannte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts: der Unabhängigkeitserklärung von 1776 läßt sich entnehmen, daß sich für ein Volk alle Rechte „aus dem Naturrecht und dem Wesen Gottes“ ableiten, daß das Individuum „vom Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet“ sei, daß die Kolonien zuerst in „Demut“ versucht hätten, sich mit den „britischen Brüdern“ zu einigen. „Wir rufen deshalb den höchsten Richter der Welt an für die Reinheit unserer Absichten . . . und im festen Vertrauen auf den Schutz der göttlichen Vorsehung verpfänden wir . . . unser Leben“ usw.

Es erscheint mehr als fraglich, ob der Geist der cinundvierzig Pilgerväter, die als gläubige Puritaner in der Kajüte der „May-flower“ am 2. November 1620 ihre Demokratie konstituierten, aber auch des gläubigen Quäkers William Penn und des gläubigen Katholiken Lord Baltimore, des Initiators der Besiedlung von Maryland (Marienland), die alle ausgefahren waren, um eine im christlichen Sinn „Neue Welt“ zu begründen, in der Zeit der Unabhängigkeitserklärung bereits mumifiziertes, nur aus ..Pietät“ übernommenes Gedankengut darstellt.

Im Gegenteil: daran kann nicht gezweifelt werden, daß die amerikanische Demokratie nicht mit dem anthropozentrischen Humanismus der genannten Theoretiker der Gegenwart wesensverwandt oder gar identisch ist, sondern aus einem neuen Erlebnis der christlichen, das heißt auf Gott bezogenen, an die Ordnung Gottes gebundenen Freiheit erwachsen ist; einer Freiheit, die mit einem heiligen Pathos verkündet und leidenschaftlich verteidigt wird — ist sie doch das Ziel in Jahrhunderten der Sehnsucht, der in Unterdrückung und Leiden aufrechterhaltenen und dadurch geläuterten Sehnsucht nach der „Neuen Welt“ der Offenbarung Johannis, verwirklicht auf dem jungfräulichen Boden Amerikas. Und hierin, in dieser Verwechslung des christlichen Begriffes der Freiheit, gelebt von glühenden und bewußten Christen aller Bekenntnisse, mit der Ungeprd-nethe't, der autonomistischen Ungebunden-heit, dem „Laissez faire, laissez passer“ des heutigen, allzu lockeren, strukturlosen Ge-füges von Leben und Wirtschaft im innerlich nahezu erstarrten Europa, liegt die symptomatische Bedeutung auch der weiteren Einwände des Verfassers der Entgegnung für unsere ganze Epoche und für ihn selbst.

Wir Europäer sollen unseren traditionellen Humanismus — der nach der fortschreitenden Entchristlichung der letzten Jahrhunderte allerdings nur mehr in Spuren und Entartungen lebt! — aufgeben und uns d?m — falsch verstandenen — amerikanischen in die Arme werfen, der den „einzigen Weg zu wahrer Demokratie“ darstellt. Dieser Flucht aus der geistigen Konkursmasse des Abendlandes in das imaginäre „gelobte Land“ folgt myi auch der Angriff des Renegaten auf das verlassene sinkende Schiff.

Er wird gestartet aus jener unheilvollen — und nur aus der Innensituation eines Europäers unserer -Zeit erklärlichen — „Gleichschaltung“ von aus Gott — diesem ganz anderen! — heraus alle Dinge und das ganze Sein begreifender, ganzheitlicher Lebenshaltung und deren dämonischer, widerchristlicher i m i t a t i o in den irdisch-totalitären Systemen des Faschismus. Wir erkennen unschwer die geistigen Väter dieses Irrtums in jenen falschen Aposteln von der „Selbständigkeit des Politischen“ und der „Impeccabilität des Staates“, damit aber seiner Entchristlichung (C. Schmitt, H. Freyer, K. Mannheim), die in der Phase zwischen den beiden Weltkriegen „mit Kirche und Lehrsystem hantieren, nachdem man sie ins Korsett des neuen Staates gepreßt hat“ (Huizinga). In diesem „Abfall vom Geist“ wird den blindgewordenen Kindern dieser Welt Christus zum Machtmenschen, die Kirche zur Machtinstitution, damit aber zur Widersacherin des für omnipotent erklärten Machtstaates. Der homo religiosus wird, getreu dem Testament der liberalen Welt und dessen Vollender und Vollstrecker Alfred Rosenberg, auf das Prokrustesbett des „homo politicus“ gespannt und sodann aus dem sicheren Amerika der Angriff auf das wehrlos gemachte Opfer, die endlich entdeckte Wurzel alles Übels, eröffnet.

Übereinstimmend mit seinen sonstigen „Erkenntnissen“ beginnt die Krise des Abendlandes für unseren Kritiker erst um 1900 — also mit dem Knistern im Gebälk des Sekuritätsgehäuses des liberalen europäischen Bürgertums in den Wehen des ersten Weltkrieges. Krise bedeutet ihm nicht Kulturkrise, sondern das Schwinden bürgerlichen Wohllebens und

„lockerer Lebensverhältnisse“, das Ende der „Ersatz“-Freiheit des Europäers in seiner entchristlichten, ihm allein hörigen, von Gott autonom gewordenen Welt. Daher auch der dringende Wunsch nach Neuerrichtung dieser Herrschaft nihilistischen Ungeordnetseins, maskiert in der Terminologie der „für uns unumgänglich nötigen“ amerikanischen Lebensverhältnisse.

Soweit die Diagnose am Angreifer. Sie wäre aber unvollständig und unchristlich, folgte ihr nicht die am eigenen Leibe.

Unsere Betrachtung müßte kaum noch fortgesetzt werden, fänden sich nicht gewisse Entsprechungen zu den Fehlschlüssen des Kritikers im Antlitz des kritisierten Objektes. Uns Verteidigern des europäischen Humanismus, vor allem aber uns gläubigen Christen, ziemt das Einbekenntnis, stets z u wenig „total“ in der Erfassung und Durchdringung aller Lebensbereiche, das heißt zu wenig katholisch (im wörtlichen Sinne!) in unserer Haltung gewesen zu sein. Denken wir nur an unsere Lethargie in der sozialen Frage, die Papst Pius XL zu der drastischen Feststellung veranlaßte, „Es ist der große Skandal des 19. Jahrhunderts, daß die Kirche die Arbeiterklasse verloren hat“! Denken wir an unsere Ghettostellung im staatlich-politischen Raum in den letzten Jahrhunderten überhaupt, die es ja erst möglich machte, daß irdisch-autonomistischc SVrogatmessianismen und falsche Heilande gleich Fäulnispilzen in jenen Hohlräumen —-großwerden konnten, die aus der unleugbaren Schuld des sündenschweren Menschenleibes der irdischen Erscheinungsform der Kirche, damit aber aus der Schuld unserer eigenen Herzen im Gefüge des christlichen Abendlandes entstanden waren und noch bestehen. Die sich für alle Beteiligten ergebenden Forderungen liegen auf der Hand.

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