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Mehr denn je gefragt: Politik aus dem Glauben

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Gibt es eine Flucht der Katholiken vor der politischen Verantwortung für das Hier und Heute? Wer tritt für die auf Treu und Glauben beruhenden Gesetze einer Gesellschaft ein?

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Gibt es eine Flucht der Katholiken vor der politischen Verantwortung für das Hier und Heute? Wer tritt für die auf Treu und Glauben beruhenden Gesetze einer Gesellschaft ein?

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Wenn die Aufgabe der Laien darin besteht, vor allem in der Welt die geschichtlichen Bedingungen für das Kommen Seines Reiches ständig zu verbessern — das letzte Konzil hat dies als' Erstaufgabe des Welt-Christen nachdrücklich bestätigt —, dann kann und darf das Politische als Feld missionarischen Tuns nicht ausgeklammert bleiben. Doch wie sieht die österreichische Wirklichkeit derzeit aus?

Wenn wir von jenen Laien absehen, welche heute als hauptberufliche Pastoralassistenten, Religionslehrer usw. in Liturgie, Verkündigung und Bruderdienst für die fehlenden Amtspriester eingesprungen sind, ganz zu Schweigen von den ungezählten Laien, welche nebenberuflich oder ehrenamtlich sich für das kirchliche Leben am Ort verantwortlich fühlen, dann handelt es sich, vor allem solange das Amt in der Kirche am zölibatären, geweihten und ordinierten Priester als dem unersetzlichen Vorsteher der Eucharistie-Feier, Spender von Sakramenten und berufenen Ausleger der Heiligen Schrift und der Lehren der Kirche und dem spirituellen Leiter der Gemeinde festhält, um einen subsidiären, vonder Not an Amtspriestern diktierten Dienst.

Wie aber steht es mit den anderen Laien, den bekennenden, den bloß praktizierenden oder den nur sympathisierenden? Allzu viele haben sich als Christen in unserem Lande vom öffentlichen Leben, von der Politik zurückgezogen. Vielleicht sind sie sogar der Meinung, je tiefer und reiner die Kirche ihre Sendung im religiösen Raum verwirkliche, umso schneller würden sich die weltlichen Bereiche wie von selbst, nämlich durch das Anwachsen von möglichst vielen bekennenden und aktiven Christen rechristianisieren.

Sie scheinen zu glauben, daß, weil die Kirche sich aus der Parteienlandschaft zurückgezogen hat, sie selber sich von jeder Einflußnahme auf das Politische distanzieren dürfen, während doch in einem demokratischen Staat und in einer freien Gesellschaft jeder Bürger Mitverantwortung zu tragen, Mitbestimmung zu leisten hat. Im Hinblick auf den geistig-moralischen Notstand, in dem sich heute in der Zweiten Republik die öffentlichen Ordnungen befinden, gleichen diese privatisierenden Christen den schlafenden Jüngern im Garten von Gethsemane. . Die ältere Generation, welche Diktatur, Krieg und Menschenjagd noch am eigenen Leib erlebt hat, war offenbar nicht imstande und auch nicht willens, ihre eigenen politischen Erfahrungen und die darin begründeten Entscheidungen den Generationen der Söhne und Enkel zu übermitteln. Die apolitische und ahistorische Einstellung eines Großteils der heutigen jungen und mittleren Generation ist daher nur ein Spiegelbild ihrer Eltern- und Großeltern-Generation.

Wir haben es daher in den vergangenen 40 Jahren nicht zu jenem aufgeklärten österreichischen Patriotismus gebracht, der den Hintergrund für jene ständige Reform einer Demokratie abzugeben hätte, ohne welche diese Regierungsform nicht lebensfähig bleibt; beginnen doch bereits im

Urteil vieler und nicht der schlechtesten jungen Mitbürger die unleugbaren Schwächen jeder modernen Massendemokratie, wie Quantifizierung statt Qualifizierung der Stimmen, Allgültigkeit des Mehrheitsprinzips, Vergesetzlichung aller Sozialbeziehungen, die unleugbaren Vorzüge des Lebens in einer gesunden Demokratie zu überwiegen.

Indes, sehen wir nicht, daß eine idealistisch gesinnte Minderheit derselben jungen Generation sich für eine weltweite Abrüstung als Erstbedingung des Friedens, für die allgemeine Durchsetzung der Menschenrechte, für einen sozialen Ausgleich zwischen reichen und armen Nationen, für Umweltschutz usw. einsetzt?

So beeindruckend diese Grundwelle von Solidarität ist, verbirgt sich darin nicht auch eine Flucht vor der politischen Verantwortung für das Hier und Heute? Kümmert man sich vielleicht um das Schicksal Nikaraguas und der Palästinenser, weil man sich zu gut dafür ist, bei den öffentlichen Notständen im eigenen Land anzupacken und sich dabei unter Umständen die Hände schmutzig zu machen? Diese jungen Menschen sind weniger mit den schlafenden als mit offenen Augen träumenden Jüngern zu vergleichen.

Weltweite Solidarität, aber politische Abstinenz im eigenen Land, wenn man von den verschiedenen „grünen“ und alternativen Aktivitäten absieht, dieser offenbare Gegensatz hat seine Gründe; denn trotz offenbarer Sündenfälle in Politik und Wirtschaft zeigt sich das Amt der Kirche, wenn man von gelegentlichen Pflichtübungen der Kritik absieht, recht ungerührt. Fürchtet man etwa um den konkordatären Frieden? Oder befürchten die Bischöfe gar, bei einem prophetischen Anprangern der Selbstzerstörung unserer Demokratie vom vielzitierten „Volk Gottes“ im Stich gelassen zu werden, sodaß noch so „goldene“ Bischofsworte, in eine sich taub stellende Gesellschaft hineingesprochen, Bank noten ohne Deckung glichen?

Gerade für die Revitalisierung einer „Politik aus dem Glauben“ wären demokratische Parteien das gegebene Feld. Doch mit dem unwiderruflichen Rückzug der Kirche als Institution aus jeder Parteipolitik hat auch eine Säkularisierung Nr. II der Parteien selber eingesetzt. Sie sind ohne Ausnahme weltanschaulich pluralistisch geworden und damit immer weniger voneinander zu unterscheiden.

Wiederholt hat die Kirchenführung Österreichs den drei Parlamentsparteien klargemacht, daß es an ihnen liege, ihre Distanz und ihre Nähe zur Kirche zu bestimmen. Von Zeit zu Zeit gab es Gespräche zwischen der Katholischen Aktion Österreichs und den Vertretern jeder der drei Parteien. Im Grunde dürften diese in erster Linie an kostenloser Stärkung ihrer Werbekraft beim „katholischen Volk“ interessiert sein, statt den längst fälligen Akt einer Neubesinnung zu vollziehen.

Es müßte doch jedem verantwortungsbewußten Politiker den Schlaf rauben, wenn er sich das ungeheure sittliche Defizit, das sich in den letzten 30 Jahren in der

österreichischen Wohlstandsgesellschaft angesammelt hat, vor Augen hält: den faktischen Zusammenbruch der Sexualmoral, die Zerrüttung so vieler Ehen—jede dritte geschieden —, die Zahl der vaterlos- oder mutterlos aufwachsenden Kinder, die Zahl nur der offiziell bekanntgewordenen Abtreibungen und die Zahl der Selbstmorde...

Was nützt die Gesetzesflut der letzten Jahrzehnte, wenn die ungeschriebenen, auf Treu und Glauben beruhenden Gesetze einer Gesellschaft immer weniger gelten? Wenn die einen sich schamlos bereichern dürfen und die anderen glauben, ebenso schamlos rauben und stehlen zu müssen?

Weil wir katholischen Österreicher, unabhängig von jeder Parteirichtung, an der Erhaltung des Freiheitsraumes, den dieses Österreich darstellt, brennend interessiert sind, treten auch wir ein für eine Fortentwicklung der repräsentativen Demokratie durch Elemente einer plebiszitären; für eine Aufwertung des Bundesrates durch Hineinbindung der Sozialpartner — sie geben sich zeitweise wie eine zweite Regierung —, für eine stärkere Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten, für eine Durchforstung des gesamten Staatsapparates, für eine Entpolitisierung der Praxis der Stellenvergabe, nicht zuletzt für Maßnahmen, die verhindern, daß unsere Gesellschaft in Zukunft Klassenkampf-ähnliche Spannungen zwischen Arbeithabenden und Dauer-Arbeitslosen erlebt.

Wenn die bestehenden Parteien diese und noch weitere dringlichere Probleme nicht in absehbarer Zeit zu lösen vermögen, dann fürchten wir, daß diese nach-tota-litäre Demokratie, diese post-na-tionalistische Republik bei den Denkenden in der jungen Generation jedes Ansehen verspielen wird.

Wie soll da erst ein Vaterlandsbewußtsein wachsen?

Noch einmal: Wir lassen die Ausrede nicht gelten, daß zuerst mehr religiöser Humus durch Erneuerung der Kirche wachsen müsse, ehe Katholiken wieder einen wesentlichen Beitrag zur Gesundung auch des öffentlichen Lebens leisten könnten, sind doch in einem weiteren Sinn auch die öffentlichen Ordnungen, von denen ja geschichtlich konkrete Menschen umgriffen sind, in das Gebot der Nächstenliebe einzube-ziehen.

Wie könnte ein bewußter Christ, der auch bewußter Österreicher ist, zu diesem seinem Vaterland stehen? Die gescheiterten Experimente der letzten zwei Jahrhunderte zwingen uns, auch die Beziehungen zwischen Vaterland und Kirche neu zu überdenken; geht es doch jenseits der bisherigen Sinnverfehlung durch die europäischen Nationen und deren Nationalismen um die Einwurzelung des Christen in beiden Bereichen: im irdischen Vaterland und in der Kirche, in der das Reich Gottes bereits seinen sichtbaren Anfang genommen hat. Aber wir dürfen uns weder im Ghetto einer spiritualisierten Kirche noch in jenem eines selbstzufrieden-satten Vaterlands zur Ruhe setzen.

Der Staat hat zwei Aspekte: eine mit Macht ausgestattete Institution, die dem Einzelmenschen als ein Objektives gegenübersteht. Der Staat muß aber zugleich auf einem „Wir“ auf ruhen, auf einer Gemeinschaft von Personen, die sich als Mitbürger für das Ganze verantwortlich fühlen. Eine sich ständig reformierende Demokratie müßte heute die gangbarste Brücke zwischen Vaterland und Staat sein.

Der bisherige Nationalstaat wird im künftigen Europa einen Teil seiner Souveränitätsrechte an einen übernationalen Staatenbund oder gar an einen europäischen Bundesstaat abtreten müssen. Jeder Rückfall in einen nationalistischen Auserwähltheits-glauben muß daher heute als öffentlicher Sündenfall erkannt und gebrandmarkt werden; sind doch vor allem die wirtschaftlichen und die kulturellen Grenzen zwischen den europäischen Vaterländern und dem Europa von morgen fließend geworden. Das Ende der nationalen Usurpationen und der chauvinistischen Mythen ist gekommen.

Heute begreifen wir, daß nach der Hochstilisierung der verschiedenen Nationen durch die verschiedenen Nationalismen es hoch an der Zeit ist, sich wieder auf den gemeinsamen Ursprung in einer Christenheit zu besinnen, ohne die politische und kulturelle Fülle des letzten Jahrtausends bilderstürmerisch vereinfachen zu wollen. Der Christ muß als Erlöser das Werk der Erlösung vollenden, indem er sich bemüht, auch die öffentlichen Ordnungen, in die er hineingeboren ist oder für die er sich entschieden hat, soweit als möglich wieder zu durchheiligen. Auch im Zeitalter der Säkularisierung steht am Ende für Christen der mitzuverantwortende Staat, das dem Christlichen grundsätzlich offen zu haltende Vaterland. Ist doch der Christ grundsätzlich Bürger zweier Reiche: des im Kommen befindlichen Reiches Gottes, der Kirche als dem Sakrament und des irdischen Vaterlandes als der Innenseite des jeweiligen Staates. Was das Vaterland hienieden durch diese Doppelbürgerschaft und die damit verbundene Relativierung an Wertschätzung verlieren mag, gewinnt es durch die religiös-sittliche Dauermotivation dieser seiner Bürger.

Das Vaterland ist auch jener Bereich, in dem die Christen für das Heil der Nichtchristen besorgt sein müssen.

Wenn sich daher die österreichischen Katholiken nicht durch widersetzliches Abwarten an der inneren Aushöhlung der Zweiten Republik mitschuldig machen wollen, muß rasch und zielstrebig eine Umgewichtung des Laien-apostolates in der Richtung erfolgen, daß jene Weltchristen, die nicht subsidiär für den Heilsdienst in der Kirche selber gebraucht werden, sich wieder stärker auf ihre Verantwortung für die Gesellschaft besinnen, denn auch dort geht es, freilich auf indirekte Weise, um Heil.

Gerade das Konzil hat für diesen Heilsdienst an einer durchsäkularisierten Gesellschaft die relative Eigenständigkeit der Sachbereiche herausgestellt und damit den Spielraum der in der Gesellschaft wirkenden Weltchristen wesentlich erweitert. Wenn sich die österreichische Kirche als Institution nicht selbst im Wege stehen will, wird sie nicht wenige bewußte Christen - und gerade die besten Köpfe und Charaktere - aus ihren, an die Kirchenmauern angebauten, Privatquartieren herauslocken und auf die Straßen und Plätze des öffentlichen Lebens drängen müssen, damit auch dort der Glaube seine heilende, versöhnende Kraft zu entfalten vermag. Das Wie und das Wo bleibt dem gebildeten Gewissen dieser Weltchristen überlassen. Auch für sie hält der Heilige Geist spezielle Charismen bereit.

Der Autor ist ehemaliger Leiter des Katholischen Bildungswerkes Tirol. Aus einem Festvortrag zum Nationalfeiertag 1985 in Neuhofen/ Ybbs.

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