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Brasilien und wir

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Der Verfasser, emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien und Konzilsexperte, hat im Sommer 1976 am Zweiten Nationalkongreß der christlichen Basisgemeinden Brasiliens teilgenommen und anschließend eine fast siebenwöchige Studienreise durch Brasilien, Paraguay, Bolivien, Peru und Kolumbien gemacht. Seine Beobachtungen sind nicht erlesen, sondern erlebt und erlitten. Sie gewinnen am Vorabend der Lateinamerika-Bischofskonferenz von Puebla (Mexiko) verschärfte Aktualität.

Bis zu 80% der Bevölkerung Lateinamerikas leben in einer für Europäer kaum vorstellbaren materiellen und geistigen (Analphabetismus) Armut, der ein extremer Reichtum und Luxus einer ganz schmalen Oberschicht gegenübersteht, die von jener Armut profitiert. Außenpolitisch ist ein Neokolonialismus ungeheuren Ausmaßes in Gang, dem der einzelne hoffnungslos ausgeliefert ist; innenpolitisch wird jeder Versuch einer Sozialreform oder auch nur einer sozialen Sensibilisierung als marxistisch diskriminiert und verfolgt.

Trotz dieser Situation himmelschreienden Elends und Unrechts sind die Menschen meist noch tief religiös, wenngleich diese Religion oft

genug ein Gemisch von Christentum und indio-afrikanischen Naturreligionen ist und nur zu leicht zum betäubenden „Opium des Volkes“ wird, das die Menschen hindert, ihr Schicksal selbst in die Hände zu nehmen und gegenüber der Wirklichkeit aktiv zu reagieren.

Die Antwort der Kirche auf diese Situation ist leider nicht einheitlich. Neben einer noch stark institutiona-listischen, traditionalistischen, hierarchisch-autoritären, privilegierten und fast nur sakramentalisierenden Kirche wächst von unten, von christlichen Basisgemeinden her, aber auch unterstützt von immer mehr Bischöfen, eine sich erneuernde, junge Kirche, die die Solidarisierung Jesu mit den Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten ernst nimmt und Erlösung wieder als umfassende Befreiung des Menschen versteht und diese weder materiell-innerweltlich noch spiritualistisch-jenseitig verengt begreift.

Diese wachsende Kirche weiß, daß bei aller Bedeutung unmittelbar karitativer Hilfen die Unterdrückungsund Unrechtssituation ohne entscheidende Strukturveränderungen nicht zu beseitigen ist. Das aber setzt wieder einen Gesinnungs- und Bewußtseinswandel der Menschen an der Basis voraus, der aus der dumpfen Resignation zur Reflexion und aus der Passivität zur Aktion führen muß.

Diese christliche und zugleich menschlich-soziale Sensibilisierung sucht man nun in und mit den sogenannten christlichen Basisgemeinden und -gruppen von 20 bis 50 Menschen und darüber zu erreichen, in denen man sich wöchentlich trifft, die eigenen Probleme sehen und im Geiste der Bibel lösen lernt.

Solche Basisgemeinden erlebten wir in den Slums und Elendsbarrios der Großstädte, in den Fischersiedlungen der Hafenstädte am Pazifik wie unter den Campesionos im Amazonasgebiet und in den bolivianischen, peruanischen und kolumbianischen Anden.

Hier begnügt man sich nicht damit, in pompösen Kirchen am Rande der Elendsviertel einen sakramentalen

Betrieb für höhere Klassen aufrecht zu erhalten. Hier gehen Priester, Ordensfrauen oder Teams - bestehend aus einem Priester, einer Krankenschwester, einem Entwicklungs- und Sozialhelfer, am Lande auch aus einem Agronomen - selbst zu den Ärmsten der Armen, teilen ihre Not und ihre Sorgen, unterrichten Analphabeten, lehren sie nähen, stricken, weben und versuchen, ohne viel davon zu reden, kleine Gemeinden im Geiste Jesu aufzubauen.

In den Indiodörfern des Amazonasgebietes wie in den Steppendörfern des bolivianischen Altiplano wurde uns überdies bewußt, daß es Situationen gibt, in denen ein akademisch ausgebildeter, eheloser und hauptberuflich tätiger Priester gar keine optimale Lösung ist- nicht nur, weil man solche Priester in der nötigen Anzahl gar nicht hat und sich auch finanziell gar nicht leisten kann, sondern weil solche schon durch ihren Bildungsgang dem Volk so entfremdet sind, daß sie seine Probleme gar nicht mehr genügend verstehen können, und weil viele ein Leben in solchen Situationen auch menschlich kaum mehr auf Dauer ertragen könnten.

Importiert haben uns auch die Dominikanerinnen und Sacre-Co-eur-Schwestern, die früher auch nur höhere Schulen für höhere Töchter geführt haben, seit Jahren aber viele ihrer Nobelschulen einfach aufgege-

ben und sich auf den Weg Jesu gemacht haben. Eine dieser Frauen besuchten wir in ihrer Hütte; sie verdient sich ihren Lebensunterhalt selbst. Wir fragten sie nach den Erfahrungen ihrer dreijährigen Arbeit, ob es tatsächlich zu einer Bewußtseinsveränderung unter diesen Menschen komme. Die Antwort: Ja sicher, aber am meisten bei uns Schwestern!

Aus all dem ergeben sich Schlußfolgerungen als Herausforderungiur uns:

1. Wir Christen sind mitverantwortlich für die Situation Lateinamerikas und der dortigen Kirchen. Vergessen wir nicht, daß die massive Verletzung der Menschenrechte in jenem Subkontinent und seine Leidensgeschichte von christlichen Konquistadoren im Namen' des Kreuzes und auf Grund päpstlicher Weltaufteilungen begonnen wurde.

2. Es wäre eine ernste Hilfe für Lateinamerika und andere Länder der Dritten Welt, aber noch mehr für unsere und unserer Kirchen Sensibilisierung, wenn möglichst viele junge Menschen als Entwicklungshelfer, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, Agronomen u. ä. einige Jahre ihres Lebens diesen Ländern zur Verfügung stellten. Solche Einsätze sind freilich nur im Team sinnvoll.

3. Allen für unsere Kirchen Verantwortlichen, ja allen Christen bis in die letzte Gemeinde nuß klar sein, daß die Kirche eine im Sinn der christlichen Botschaft vorantreibende, erneuernde und auch im Hinblick auf die Menschenrechte kritische Kraft sein muß, wenn sie ihrer Sendung treu bleiben will.

Gegenüber himmelschreiendem Unrecht und gegenüber Strukturen, die dieses ermöglichen und fördern, gibt es keine Neutralität, sondern nur Stellung- und Parteinahme. Dabei müssen sich Christen auch gegen das soziale, gesellschaftliche Leid und

„Gegenüber himmelschreiendem Unrecht gibt es keine Neutralität“

Elend engagieren, gegenüber dem sie oft blind sind. Individualkaritative Maßnahmen genügen nicht; Caritas ersetzt das Recht nicht; zur Gesinnungsreform muß die Strukturreform kommen.

4. Eine solche erneuernde kritische Kraft für die Gesellschaft von heute können die christlichen Kirchen und Gemeinden auf Dauer nur sein, wenn sie diese zuerst für sich

selbst sind, wenn sie sich von den Mächtigen der Welt möglichst unabhängig machen; wenn sie auf ihre gesellschaftlichen Stützen und Privilegien möglichst verzichten, die ja immer auch Bindungen bedeuten. Das bedeutet auch Zurückweisung aller Versuche, die Kirche wieder enger an sogenannte „christliche“ bürgerliche Parteien zu binden und so zu repolitisieren.

5. Zu dieser Erneuerung der Kirche als Voraussetzung ihrer Glaubwürdigkeit gehört auch die Uberwindung einiger typisch katholischer Versuchungen und Krankheiten, wie etwa der einem Mißverständnis des christlichen Wahrheits- und „Abso-lutheitsanspruchs“ entspringenden Neigung von Christen zum Status quo, zum Konservativismus und Au-toritarismus, zu Zwang, strengen Strafen und Verurteilungen.

Wir können auch nicht übersehen, daß unsere üblichen Pfarren, schon von den tatsächlichen Kirchenbesu-chem her, weithin ein bürgerlich-kleinbürgerliches, mittelständisches, konservatives Gepräge haben, ganz im Gegensatz zu Jesus von Nazareth, auf den wir uns ja berufen, oder zu einem seiner genuinsten Jünger, Franz von Assisi.

Das kann auch nicht über Nacht geändert werden. Um so mehr bedürfen unsere Pfarren der Ergänzung durch Personal-, Kategorial- und Milieugemeinden, in denen auch für kritische Jugendliche, Arbeiter, Gastarbeiter, kirchlich Distanzierte, zu Resozialisierende, Rockers, Strafentlassene, Randgruppen der Gesellschaft - also gerade für die, mit denen sich Jesus immer wieder solidarisierte -Platz ist.

Hier könnten auch alternative Lebensstile und -formen eingeübt werden. Es ist ja eigentlich traurig, daß Versuche wie die Restaurantgemeinde am Boulevard Clichy im Prostituiertenviertel von Paris solche Ausnahmen bleiben und meist nur in Sekten oder am äußersten Rand unserer Großkirchen möglich sind.

„Theologie und Leben müßten auch bei uns näher zusammenrücken“

Mitunter überkommt einen die beklemmende Frage, ob überhaupt Jesus selbst in unseren Pfarren noch Platz fände, wenn er wiederkäme.

6. Basisgruppen und -gemeinden, die zu den interessantesten Phänomenen der jüngsten Kirchengeschichte und zu den größten Hoffnungen der Kirche der Dritten Welt gehören, werden darum auch bei uns eine immer dringlichere Notwendigkeit.

7. Theorie und Praxis, konkret: Theologie und Leben müßten auch bei uns näher zusammenrücken, was in Lateinamerika zur „Theologie der

Befreiung“ geführt hat. Man kann nicht rein deduktiv, ohne Beziehung zum tatsächlichen Leben, Theologie treiben.

In Lateinamerika trifft man nicht nur Bischöfe, die noch aktive Pfarrer sind, sondern auch qualifizierte Theologieprofessoren, die es nicht unter ihrer Würde finden, sich in der Ausbildung der Basisgemeindeleiter zu engagieren und Indiobauern und Bewohnern von Elendsvierteln als Auskunftspersonen zur Verfügung zu stehen - freilich auch Theologiestudenten, die neben ihrem Studium eine Praxis in den Slums absolvieren und ihre Erfahrungen dann gemeinsam reflektieren.

8. Mit Lateinamerika verbindet uns zunehmend, wenn auch noch nicht so brennend, das Priesterproblem. Wie schon die ostafrikanischen Bischofskonferenzen, haben sich kürzlich wieder die brasilianischen Bischöfe für die Prieserweihe der geeigneten Leiter der Basisgemeinden eingesetzt:

„Viele Bischöfe erwarten, daß der Heilige Stuhl die Erlaubnis erteilen

„Mit Lateinamerika verbindet uns zunehmend das Priesterproblem“

wird, diesen verheirateten Männern die Priesterweihe zu erteilen. Sollte das gestattet werden, wäre das Problem des Priestermangels in Brasilien gelöst.“

Auch bei uns wird die Lage immer bedrohlicher. In vielen Diözesen Europas müssen Pfarrer schon zwei oder drei, in manchen schon bis acht Pfarren übernehmen. Dabei ist man genötigt, die tatsächliche Leitung vieler Pfarren haupt- und ehrenamtlichen Laien oder Ordensfrauen zu übergeben, die am Sonntag wenigstens einen Wortgottesdienst leiten. Man nimmt in Kauf, daß das Priesterbild verzerrt und immer mehr auf einige Kultakte eingeengt wird. Zudem veröden die Gemeinden ohne am Ort anwesenden Priester als geistlichen Leiter und Inspirator immer mehr.

Daß dieser geistliche Leiter nicht immer und überall ein voll akademisch ausgebildeter, eheloser und hauptberuflich tätiger Priester sein muß, wird auch bei uns immer deutlicher. Außerdem stellen die vielen Laientheologen bei uns für pfarrliche und überpfarrliche, laikale und priesterliche Einsätze ein unerhörtes und weithin ungenütztes Potential dar.

Also: Tut etwas! Oder mit dem Schweizer Reformator Huldrych Zwingli: „Tut um Gottes willen etwas Tapferes!“

Eine nähere Darstellung der bei der erwähnten Südamerik'a-Reise empfangenen Eindrücke enthält der Bericht N. Greinacher/F. Klostermann: „Freie Kirche in freier Gesellschaft, Südamerika -Eine Herausforderung für die Kirchen Europas“ (Z 1977).

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