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„Seelsorge an der Gesellschaft“?

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Eine „gewisse Ratlosigkeit“ der Seelsorge (Prälat Rudolf) läßt angesichts des „lautlosen Abfalles“ der Massen von der Kirche neue Formen der seelsorglichen Strategie notwendig erscheinen.

Vor uns liegt nun ein Sonderheft des „Seelsorgers“, das sich „Seelsorge an der Gesellschaft" betitelt und Franz Fischer, einen Laien, zum Verfasser hat (Verlag Herder, Wien, 48 Seiten). Die vom Verfasser vorgetragenen Gedanken berühren elementare Fragen der Seelsorge, die nach Meinung vieler bisher fast nicht beachtet wurden.

Hier die Thesen des Autors:

1. Der Mensch denkt nicht aus sich heraus. Sein Denken ist weithin ein Produkt des Einflusses seiner Umgebung, im besonderen der Gesellschaft, in die der Mensch nun einmal hineingeboren ist. Das haben in einem anderen Zusammenhang übrigens auch die Milieutheoretiker gesagt, aber auch die Marxisten,- wenn sie auch freilich zu Schlüssen kamen, die dem Einfluß auf das menschliche Denken einen allzu großen Einfluß beimaßen.

2. Weil nun das, was der Verfasser „christliches Milieu“ nennt, nicht mehr vorhanden ist, sind auch die Wachstumsbedingungen für die Christen verkümmert. Weiin der Autor von „Gesellschaft" spricht, will er offensichtlich den Begriff nicht im Sinn der Soziologie verstanden wissen, sondern meint wahrscheinlich die christliche Kleingesellschaft der Vereine.

Religion muß sich jedenfalls in Gemeinschaft äußern und kann dann erst bestimmungsmächtig auf die Menschen wirken, wenn sie sich eindringlich von allen Seiten her darzustellen vermag.

Dem Menschen heute aber fehlt die Geborgenheit des christlichen Milieus. Da aber der Mensch dem Milieu nicht entkommen kann, entäußert er sich seines christlichen Denkens, wenn er in den Bereich nicht- oder antichristlichen Milieus kommt. Nicht weniger als neun Zwölftel der Menschen haben nicht die Kraft, gegenüber den Einflüssen des Milieus zu bestehen (S. 6). „Das Milieu ist stärker als die Konfession“, wie der Züricher Statistiker Senti feststellt.

3. Aus diesen Gründen können die Menschen njir gerettet werden gemeinsam „mit der Gemeinschaft, in der sie leben“. (Der Religionssoziologe Viktor Schur, zit. S. 6.)

Daher der Schluß des Verfassers:

Eine Seelsorge, die nur auf den innerkirchlichen Raujn, auf Gottesdienst und Religionsstunde beschränkt bleibt, kann nur kümmerliche Wirkungen hervorrufen. Zudem ist der Mensch heute durch die unterschiedlichsten Eindrücke seiner profanen Umwelt derart übersättigt, daß es ohnedies schwer ist, ihn aufmerksam für die Eindrücke zu machen, welche die Seelsorge bei ihm gewinnen will.

Was tun?

Vor allem sollte die Kirche sich nicht nur mit der Einzelseelsorge und den Erkenntnissen der Individualpsychologie, sondern auch, wenn nicht in einem ganz besonderen Umfang, mit den Ergebnissen der Massenpsychologie befassen. Wie anders vermöchte denn die Kirche den Christen Eigenkraft gegenüber den Einflüssen eines nichtchristlichen Milieus zu geben, wenn sie nicht einmal die Art kennt, wie nun einmal die Masse als Masse handelt und denkt. Sicherlich kann man einen Menschen nach dem anderen seelsorglich betreuen. Aber bei wie vielen kommt denn die 'Kirche auf diese Weise zum Ziel. Etwa in einer Großstadtpfarre!

Daher die Forderung nach der „zweiten pastoralen Methode", durch Einflußnahme auf die öffentliche Meinung etwa.

Durch zwei Jahrtausende war die Kirche bemüht, den einzelnen seelsorglich zu betreuen. Bei der Seelsorge an der Gesellschaft aber hat die Kirche nicht durchgehalten und sie schließlich ganz aufgegeben (S. 15).

So wurde gerade durch die Kirche die Religion zur Privatsache deklariert. Damit reduzierte man, meines Erachtens, die Religion in der gleichen Weise wie der atheistische Marxismus: Man überließ das religiöse Verhalten der Eigenbestimmung, wobei die Kirche dem Christen ein wohl temperiertes innerkirchliches Milieu bot, in dem er sich „trainieren“ konnte.

Daher die bedeutsame Feststellung des Verfassers: Gerade dann, wenn der Mensch, wie nach dem 18. Lebensjahr, den schwersten sittlichen Anforderungen ausgesetzt und nun verhalten ist, sich eine Lebensanschauung zu gewinnen, ist die Kirche nicht da, sicher auch weil die Seelsorge an den 18- bis 40jährigen erheblich schwieriger ist als beispielsweise an kleinen Kindern.

Wenn man den Dingen auf den Grund geht, kann man da und dort freilich kaum von einem Versagen der Seelsorge in der Betreuung der jungen Menschen ab dem 18. Lebensjahr sprechen. In manchen Standorten der Seelsorge sind sie nicht einmal da. Das gilt vor allem für die Pfarren, die ihren Arbeitsbereich in der „bürgerlichen“ Welt haben, in der die Seelsorger ungleich mehr Heroismus aufbringen müssen als in einer Arbeiterpfarre.

In einer Wiener Pfarre, deren Angehörige offensichtlich überwiegend „bürgerlich" wählen, waren bei der großen Kirchenbesuchszählung vom 9. November 1958 nur zwei Prozent der Kirchenbesucher Jugendliche im Alter von 18 bis 21 Jahren. Der Anteil der Besucher im Alter von 18 bis 40 Jahren betrug insgesamt zirka 20 Prozent; dafür waren aber über 30 .Prozent der Kirchenbesucher älter als 65 Jahre.

Dem Verfasser — und nicht nur ihm — bietet sich jedenfalls-das, was .-man „christliches Volks nennt, im Wesen als eine Summe von ‘Jugendlichen- bis -zum 16 Lebensjahr „und .yon ältere "Pejspnen -dar. Der Verfasser spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verkindigung, Vergreisung und Feminisierung" (S. 21).

Vom Standpunkt der Bildung der christlichen Kleingesellschaft hatten die „v i e 1 g e I ä s t e r t e n Vereine“ eine wichtige Funktion. Wo heute noch ein religiöses Leben in den Familien vorhanden ist, muß es auf das Wirken der Vereine zurückgeführt werden

Hier scheint der Verfasser die Dauer der Wirksamkeit der alten, 1938 aufgelösten Vereine etwas zu überschätzen. Man kann kaum davon ausgehen, daß da, wo katholisches Leben in Oesterreich heute vorhanden ist, es ausschließlich den vor zwanzig Jahren zwangsliquidierten Vereinen zuzuschreiben ist.

Anderseits hat aber Fischer recht, wenn er einen großen Teil der Priesterberufungen auf die Einflüsse der alten Vereine zurückführt. Erinnern wir uns doch an die große Zahl der Berufungen aus dem Bereich der Studentenkongregationen, die einmal an die 7000 männliche Mittelschulstudenten zu Mitgliedern hatten, oder denken wir, wie groß die Zahl der Mitglieder des Bundes „Neuland“ war, die den priesterlichen Beruf ergriff!

Ob aber anderseits die Vereine nicht auch die Isolierung der Kirche fördern geholfen haben, oder wie weit sie dies zumindest getan haben, bedürfte einer gesonderten Untersuchung, ebenso wie die andere Frage, ob die lockere Form der Organisation des Pfarrvolkes, die Seelsorge der „offenen Tür", nicht dazu beigetragen hat, das Bekenntnis zur Kirche zu einer unverbindlichen Angelegenheit zu machen.

In einer bemerkenswerten Offenheit kritisiert der Autor die Tatsache, daß Absolventen katholischer Schulen, ja . „ganze Maturaklassen", ohne jede katholische Begeisterung und ohne katho- liches Bewußtsein ins Leben treten.

Es hat uns bisher der Mut gefehlt, diesen Sachverhalt, der ohnedies kein Geheimnis darstellt, offen zu diskutieren und zu fragen, warum einzelne katholische Schulen gegen das die Schule und die Schüler umgebende Milieu einfach machtlos sind und zuweilen sogar in ihren Schülern antikatholische Affekte hervorrufen Man mag die Meinung des Verfassers zur Frage des weltanschaulich-pädagogi- , sehen Effektes katholischer' Unterrichtsanstalten nicht oder nicht ganz teilen, aber auseinandersetzen muß man sich mit seinen Darstellungen!

Was an pfarrlichen Institutionen vorhanden ist, zeigt sich vielfach den gesellschaftlichen Wirklichkeiten nicht angepaßt. Der Verfasser meint, daß für die Jugend — für die Masse der

Jugend, nicht für die „Braven" — weder geeignete Gemeinschaften vorhanden sind noch ansprechende Lebensräume.

Ist es nicht so, daß zuweilen die Jugend in den Keller verwiesen wird, um die „guten Seelen“ nicht durch ihren „unchristlichen“ Lärm aus ihrer Ruhe zu scheuchen?

Der Verfasser übersieht nicht, daß die Kirche sich in den letzten Jahrzehnten da und dort, wenn auch nicht der Gesellschaft als ein Ganzes, so doch einzelnen gesellschaftlichen Großgruppen zugewandt hat, insbesondere der Arbeiterschaft (S. 37). Diese teil-gesellschaftliche S e e 1 s o r g e reicht aber nicht aus. Was fehlt, ist eine katholische Elite,- der es aufgegeben wäre, eine Massenseelsorge über die pfarrlichen Bereiche hinaus zu aktivieren. Was an katholischen Arbeitern, in Gruppen organisiert, da 'ist, hat nach Ansicht von Fischer zuwenig Eigenständigkeit und ist so demonstrativ kirchlich, daß die Masse der Arbeiterschaft nicht ausreichend angesprochen wird.

Die Kirche muß jedenfalls auf sich aufmerksam machen, sie muß Hoffnungen in den Massen wecken und neue Ausblicke vermitteln. Das bedeutet aber eine völlige Neuordnung der Seelsorge (S. 3 8):

1. Durch die Seelsorge a n der Gesellschaft.

2. Dadurch, daß wieder eine Welt des Laien errichtet wird, der allein in den profanen Alltag hineinwirken kann, eine „katholische Welt“ also, die aber nicht abgeschlossen sein dürfte und so die Christen wieder in das Ghetto verweist.

3. Soll der Jugend ganz besonders vom kritischen Alter an ein neues Gemeinschaftsleben geboten werden, das nicht einzelne, sondern die Mas s e n der Jugend, um die es ja in dieser Zeit gehen sollte, anspricht. Wahrscheinlich denkt der Verfasser auch an die Errichtung von Jungmannschaften in der Art des alten Reichsbundes, der eine Reihe von Problemen, wie jenes der Erhaltung der jungen Männer im katholischen Bereich, durch die besondere Art seiner Organisation einfach vorweg nicht hatte.

Jedenfalls steht nach Fischer fest, daß der Christ heute in zwei „einander entgegengesetzten Welten“ lebt. Hier aber irrt der Autor nach meinem Dafürhalten. Diese zwei Welten, von denen der Autor spricht, hat es immer gegeben. Die „eine“ katholische Welt des Mittelalters ist doch kaum mehr als eine historische pädagogische Vereinfachung. Wer kann es sicher sagen, aber wahrscheinlich waren die gläubigen Christen stets in einer Minderheit inmitten einer Welt, die zwar nicht immer formell, aber doch in ihrem praktischen Verhalten amoralisch war.

Worum es also — wie ich glaube — geht, ist nicht das utopische Bemühen der Verchristlichung einer ganzen Welt, sondern die Seelsorge an einer Gesellschaft, wie sie als Wirklichkeit erkannt wird. Gleichzeitig sollte so etwas wie ein christliches „Kli&a“ geschaffen werden, vor allem durch das Beispiel, das allein anziehend wirkt. Die Kirche muß also von sich aus viel unternehmen, damit sie neben den „anbietenden" Mächten der Welt auch bestehen kann, anziehend und beispielgebend wirkt.

Der Verfasser der kleinen Schrift würde es nicht verdienen, daß man sein Werk totschweigt, einfach weil es einige unbequeme Wahrheiten enthält und scheinbar Unmögliches fordert, ja zuweilen sogar „provoziert“. Die Tatsache, daß die offizielle Seelsorgerzeitschrift der Wiener Diözese die Publikation des Verfassers übernommen hat, bedeutet so etwas wie eine grundsätzliche Billigung der Rechtfertigung des Anliegens.

Die beachtenwerten Arbeiten des Institutes für Kirchliche Sozialforschung, die Untersuchungen wie sie der Verfasser des vorliegenden Werkes angestellt hat und die Erkenntnisse der Religionssoziologie wie der Massenpsychologie sollten in dieser Zeit, da die Kirche unter einem neuen Papst tief in die Wirklichkeit der Welt vorstößt, Ansatzpunkte für eine groß angelegte Untersuchung des Fragenkomplexes sein. Bei der Untersuchung dürfte es freilich nicht bleiben. Untersuchungen haben wir schon genug an- gestellt. Aus den Ergebnissen einer Gesamtuntersuchung der pastoralen Situation und ihres Wirkungsfeldes sollte so etwas entstehen wie eine pastorale Strategie.

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