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Ist „religiös“ und „gut“ nicht gleich?

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Wo sich Menschen mit der Kirche schwer tun: aufregende Befunde, über die der Verfasser schon im Mai beim Dreiländertreffen kath. Publizisten in Dürnstein sprach. Hier ein Auszug in Schriftform.

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Wo sich Menschen mit der Kirche schwer tun: aufregende Befunde, über die der Verfasser schon im Mai beim Dreiländertreffen kath. Publizisten in Dürnstein sprach. Hier ein Auszug in Schriftform.

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Die Orientierungsprobleme des Christen ergeben sich daraus, daß die Anforderungen des gesellschaftlichen Systems nicht dek- kungsgleich sind mit den Lehren der institutionalisierten Religion. Das Spannungsverhältnis des Christen zur geschichtlichen, also endlichen Welt, in der er aber doch nun auc.h endgültig seine diesseitige Existenz hat, kann und

sollte moralisch produktiv werden, aber wir erleben, daß dieser Konflikt allzu oft destruktive Konsequenzen hat.

Der Konflikt der deutschen Katholiken mit Kirche und Gesellschaft läßt sich nach den umfangreichen Synodenuntersuchungen, die 1971 begannen und eine Forschungstradition von Folgeuntersuchungen begründeten, unter sechs Perspektiven darstellen.

1. Wertkonflikte: In den Synodenumfragen wurde das Wertthema, das heute fast alle soziologischen Forschungsanträge dominiert, bereits 1971 aufgegriffen. Die Erhebungen von damals zeigen z. B., daß das Friedensthema nicht neu ist. 80% erklärten, Friede sei das wichtigste Anliegen überhaupt, sodann „in geordneten Verhältnissen leben“, „bei Schicksalsschlägen den Mut nicht sinken lassen“, „ein guter Mensch sein“. Zu den wichtigsten Themen von damals gehörten auch „gesellschaftliche Entwicklung“, „Freiheit“, „soziale Gerechtigkeit“.

Wenn man Katholiken fragte, wozu die Kirche nun beitrüge — insgesamt 36 Werte wurden diskutiert - dann zeigte sich, daß sie in den fortschrittlichen Anliegen

von der Kirche kaum Unterstützung erwarteten, sondern diese nur bei konservativen Themen voraussetzten, deren Behandlung damals aber weniger wichtig erschien.

Die Entfernung von der Kirche ging dabei nicht still vonstatten, sondern war von Kritik begleitet. Es gibt so etwas wie eine Sprache der Kirchenfernen, in der sich negativer Affekt gegen die Kirche ausdrücken kann. Diese Zusammenhänge, von (Jenen man zunächst vermuten konnte, sie seien spezifisch katholisch, wiederholten sich im protestantischen Bereich ebenso…

In der Regel werden Wertkonflikte mit der Kirche nicht damit beantwortet, daß man der Kirche radikal den Rücken kehrt, sondern sich an politische Gruppierungen anlehnt, von denen eine Bestätigung für neue Lebensstile zu holen ist. So konnte im Anschluß an die Synodenuntersuchungen nachgewiesen werden, daß die Neigung der Katholiken, SPD zu wählen, umso stärker zu Tage tritt, je größer der Wertkonflikt mit der Kirche ist.

Lebensstile und Lebensregeln sind unterstützungsbedürftig, von Unterstützung abhängig. Wenn die Menschen meinen, von der Kirche keine Unterstützung zu bekommen, wenn sie die Kir

che einfach als Gegensatz zu der Welt empfinden, in der sie leben müssen, dann suchen sie sich politische Bundesgenossen…

2. Religiöse Sozialisation: Nach dem Konstruktionsprinzip einer pluralistischen Gesellschaft sollen Positionen nicht nach irrelevanten Kriterien vergeben werden (Hautfarbe, Religion oder Geschlecht), für die der einzelne gar nichts kann. Positionen sollen einzig und allein nach Kompetenz vergeben werden.

Wenn man eine Gesellschaft so konstruieren will, wenn man Diskriminierung vermeiden will, muß man dafür sorgen, daß für alle gesellschaftlichen Subsysteme eine eigene Wissensproduktion innerhalb des Gesamtrahmens der Gemeinschaft oder der Ver

fassung möglich ist. Dies aber bedeutet dann nichts anderes, als daß eine organisatorische Institutionalisierung einer für alle verbindlichen Wahrheit verhindert werden muß. Institutionalisiert wird lediglich die Wahrheitssuche, die Offenheit für neue Lösungen alter Probleme.

Die jungen Menschen erklären in sehr großer Zahl, sie dächten anders als die Eltern. Mehr und mehr fällt die Familie für die religiöse Sozialisation aus. Uber 99 %der jungen Menschen können heute nicht mehr sagen, daß sie ein sehr religiöses Elternhaus hatten. Je geringer die Religiosität des Elternhauses, desto beziehungsloser das Verhältnis der nächsten Generation zur Kirche.

3. Gibt es Konsensmöglichkeiten? In der Untersuchung „Was den Deutschen heilig ist“ wurde gefragt, woran Menschen eigentlich glauben. Zu den unumstrittensten Glaubenssätzen gehört, daß der Mensch ein Gewissen hat und daß es ohne Sitte und Ordnung kein gutes menschliches Zusammenleben gibt. Dies sind gewissermaßen universelle Wahrheiten für die Bevölkerung. Andritter Stelle steht als Wahrheit, daß in der Bibel etwas Gültiges für die Menschen steht.

Hier liegt ein großer Reichtum pastoraler Ansatzpunkte. Obwohl psychologische Theorien dem Gewissen kritisch gegenüberstehen, hält die Bevölkerung unverdrossen an dem Axiom vom Gewissen fest. In einer Gesellschaft „Gewissenloser“ möchte niemand leben.

vWas ist zeitgemäß?“, lautete eine weitere Frage. Als besonders zeitgemäß empfindet man Werte der Partizipation: „Gleichberechtigung“, „Reisen und die Welt erleben“, „Jedermann soll an Dingen, die das Leben schön und interessant machen, teilhaben können“, „Bürgerinitiativen gegen Miß stände“, „der einfache Mann soll im Betrieb mitreden“, „möglichst viel erleben, was Freude macht“.

Diese Partizipationswerte werden durch das, was die Menschen unter „christlich“ verstehen, nicht gedeckt. Hier ist vielleicht eines der größten pastoralen Defizite unserer Zeit zu suchen, und ein tragisches Defizit zudem, da diese Werte ja genau im christlichen Gemeinschaftskonzept, im christlichen Lebensverständnis ihre Wurzeln haben.

Ein anderer Test zeigt, was ein ,.religiöser“ und was ein „guter“

Mensch ist. Die Konzepte vom religiösen und vom guten Menschen fallen auseinander. Nur für die Kirchentreuen ist es dasselbe. Dem guten Menschen wird in viel größerem Umfang eine ethische Lebensgestaltung zugeschrieben als dem religiösen.

4. Wo bietet die Kirche Unterstützung? Bei den meisten Alltagsanliegen fühlen sich die Menschen von der Kirche nicht unterstützt und sie haben das Gefühl, daß sie luer die Kirche auch nicht brauchten, z. B. „wie man seine Arbeit tun soll“, „wie man den Beruf ausfüllen soll“. Da sagen 80 %, hier brauchten sie die Kirche nicht, obwohl man indirekt nach- weisen kann, daß die Berufsethik um so intakter ist, je enger das Verhältnis zur Kirche ist.

Weitere Probleme, bei denen man glaubt, ganz nach eigenen Anschauungen ohne Kirche handeln zu können, Sind „gesunde Lebensweise“, „Weiterbildung“, „Fragen der Sexualität“, „Verhal

6. Der negative Affekt gegen die Kirche läßt nach: Eine Untersuchung aus 1981 über weltkirchliche Aufgaben deutscher Katholiken zeigt deutlich, daß der negative Affekt gegen die Kirche im Abbau begriffen ist. Bei den Kirchenfernen läßt der Gedanke an den Kirchenaustritt nach. Das Gefühl, die Kirche sei zeitgemäß, ist im Wachsen begriffen. Der Glaube an Jesus Christus nimmt in einem orthodoxen Sinne zu…

ten den Mitmenschen gegenüber“, „Schulprobleme“, „Ehefragen“, „Kindererziehung“. Auch was moralisch gut ist, so glauben 54 %, könnten sie nach eigener Manier erkennen und festlegen.

Die Kirche wird hauptsächlich gefragt in Grenzsituationen: „Wie man sich zum Tode stellen soll“, „ob es ein Leben nach dem Tode gibt“, „wie man zu Gott, zu Jesus Christus stehen soll“, „der Sinn der Feiertage“…

5. Neue Thematisierung der Religion: Wenn Menschen bei allem gesellschaftlichen, technischen und organisatorischen Wissen, das sie haben, wirklich ratlos werden, dann scheint ihnen plötzlich interessant, auf die Kirche zu hören. Zum Teil wird die Kirche dann herrisch gefordert, sie solle die Probleme lösen. Das gilt insbesondere für die Drogen-, für die Suchtgefahren, £ür Jugendprobleme, schon seit 1972!

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