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Warnung vor einem Diktat der Wirtschaft

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Mobilität und Flexibilität scheinen die wichtigsten Eigenschaften des jungen Menschen im auf uns zukommenden großen europäischen Wirtschaftsraum zu sein. Andere Voraussetzungen -besonders im (Aus-)Bildungsbe-reich wie zum Beispiel die Kenntnis mehrerer Sprachen sind ebenfalls wünschenswert, um einen guten Platz in unserer immer klarer ökonomisch dominierten Gesellschaft zu erobern. Die Anforderungen werden immer größer und man fragt sich, wieviele ihnen in der nächsten Zukunft nicht gewachsen sein werden und was dann mit diesen Menschen geschieht.

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Mobilität und Flexibilität scheinen die wichtigsten Eigenschaften des jungen Menschen im auf uns zukommenden großen europäischen Wirtschaftsraum zu sein. Andere Voraussetzungen -besonders im (Aus-)Bildungsbe-reich wie zum Beispiel die Kenntnis mehrerer Sprachen sind ebenfalls wünschenswert, um einen guten Platz in unserer immer klarer ökonomisch dominierten Gesellschaft zu erobern. Die Anforderungen werden immer größer und man fragt sich, wieviele ihnen in der nächsten Zukunft nicht gewachsen sein werden und was dann mit diesen Menschen geschieht.

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Angesichts der „Herausforderung Europa" möchte ich vor der Einseitigkeit wirtschaftlich bestimmten Denkens und eines ökonomisch dominierten Menschenbildes warnen.

Es gibt wenige sozial und kulturell orientierte Dokumente der EG. Vor allem auf kulturellem Gebiet überwiegen allgemeine, tolerante, offene goodwill-Formulierungen, bei denen aber der Eindruck aufkommt, als wäre der kulturelle Aspekt des Menschseins vergleichsweise ein Anhängsel. Keineswegs scheint hier überhaupt daran gedacht zu werden, daß eine bestimmte Kultur ein Merkmal menschlicher und persönlicher Identität sein kann. Ein solches, in allen Ländern der „Ersten Welt" verbreitetes Nicht-Denken mag die Unsicherheiten im Umgang mit Menschen verdeutlichen, die tatsächlich in einem viel stärkeren Maß in ihrer Kultur und ihrer Abstammung verankert sind und diese als Stück ihrer Identität erleben. Das aus eurozentrischer Sicht völlig unverständliche „Mitleid" solcher Menschen aus anderen, wirtschaftlich schwächeren Weltzonen gegenüber der „Ersten Welt" bezieht sich wohl auf den Verlust dieser per-sönlichkeitsprägenden, kulturellen Wurzeln. Denn ein oberflächlicher Ausgleich durch die Angebote unserer Kulturindustrie liegt auf einer anderen Ebene. Gerade deshalb aber wäre ein tatsächliches „Europa der Regionen" - und nicht nur der Wirtschaftsregionen - eine wesentliche Hilfe für die Menschen, ihre Wurzeln bewahrt zu wissen. (Und dabei ginge es sicher um mehr, als beispielsweise die jeweilige Qualität des touristischen Angebots, die Hauptverkehrsrouten und ein paar kulinarische Spezialitäten eines Gebietes zu kennen.)

Die Entwicklung Europas ist ökonomisch dominiert. Wer wirtschaftlich nicht mithält, findet sich bald an den Rand gedrängt. Wer aber mithält, muß einen immer höheren Preis dafür zahlen, und seien es Kreditzinsen. Zumindest mit Unverständnis muß man rechnen, wenn man etwas konsummäßig Erstrebenswertes nicht braucht, ohne daß man gleich zu „den Alternativen" gezählt werden will. Der persönliche Lebensstil wird wirtschaftlich geprägt: im Beruf sowieso, in der Freizeit und sogar in persönlichsten Beziehungen spielt der ökonomische Aspekt eine immer größere Rolle. Sich darum entsprechend zu kümmern kostet nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Kraft. Ich glaube, viele Erscheinungen des „Keine-Zeit-häbens" und zahlreiche Formen des gesellschaftlich wachsenden Phänomens der „Müdigkeit" sowie der steigende Bedarf an Psychopharmaka hängen auch damit zusammen.

Eine erschöpfte Gesellschaft

Aber es fällt schwer, nicht mitzumachen. Denn man findet kaum Gleichgesinnte und sogar hier spürt man stark die Abhängigkeit jedes einzelnen, den bleibenden Anforderungen (im Beruf, im übrigen Freizeit- und Konsumverhalten) zu entsprechen. Und dann sind die in dieser Hinsicht Gleichgesinnten bei anderen wesentlichen Lebensfragen oft gerade nicht gleichgesinnt.

Das Szenario einer erschöpften Gesellschaft drängt sich auf. Denn selbst wenn man die Inflation psychosomatischer Erscheinungen unbeachtet läßt, scheint in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern im Vergleich zu anderen Teilen der Erde „eine tiefe Taurigkeit" (Florian Kunt-ner) zu liegen. Ein Blick auf die täglichen Verkehrsteilnehmer bestätigt dies allemal. Was aber machen die Erschöpften, die nicht durch tatsächlich sinnvoll genützte Freizeit oder durch gezielte Methoden ihre permanente (Über-)Beanspruchung kompensieren? Sie bleiben - hierzulande zumeist sozial abgesichert- irgendwo am Rand und entwickeln ein hohes Maß an Unzufriedenheit. Die Unzufriedenheit selbst scheint jedoch in verschiedenen Graden ebenfalls zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen zu werden. Und auch sie hat ökonomische Ursachen: weil man entweder ein echtes Problem hat oder etwas „nicht hat" oder „weniger hat als andere" oder sogar alles hat, aber keinen echten Sinn finden kann. (Besonders schwierig ist die Form: .Jemand anderer ist schuld, daß ich unzufrieden sein muß.")

Diese Unzufriedenheit geht mit einem Fehlen von Sinn einher. Hier sehe ich persönlich die größte Gefahr und den größten Irrtum aller, die die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft an die erste Stelle setzen. Denn wer Sinn-unbewußt-vermißt, wird anfällig für populistische Sprüche und einseitige Erklärungen der Wirklichkeit - und damit für die zumeist dahinterstehenden Ideologien, die auf diese Weise indirekt Einfluß gewinnen, auch wenn man sie direkt vielleicht ablehnen würde. In einer solchen Situation neigen liebenswürdige, tüchtige, aber unzufriedene Menschen dazu, Rassisten, Na-

tionalisten, Chauvinisten, Fundamentalisten, politische Extremisten zu werden (zur Zeit wird „rechts" modern, aber ich wette, in ein paar Jahren kommt auch „links" wieder) oder sich den Sekten, New Age-Phänomenen oder schlicht und einfach einem Aberglauben zuzuwenden. Das sind jedoch unberechenbare, zerstörerische Phänomene, die einem ökonomisch

dominierten Denken unzugänglich sind.

Die Wirtschaft als Götze

Die andere Reaktion wäre, das Ökonomische selbst zum Sinn zu machen und dessen beherrschenden gesellschaftlichen Vorrang zu verteidigen. Ein wirtschaftlicher Liberalismus und verschiedene finanziell erklärbare Gruppenegoismen sind vielleicht berechenbarer, aber gesellschaftlich letztlich ebenso schädlich. „Die Wirtschaft" wird nämlich dann zu einem Götzen (und für andere zum Dämonen), der die Menschen zu einem Welt-und Menschenbild verführt, das die Vielschichtigkeit der menschlichen Persönlichkeit ignoriert - und sie damit „krank" macht. Dann verdrängen psychosoziale Spannungen (oft ist die subjektiv empfundene materielle Situation das vordergründige Auslösermoment) die „normalen" sozialen Spannungen, die dank eines großzügigen sozialen Netzes und eines großen gesellschaftlichen Konsenses bei wesentlichen Fragen in unserem Land weitgehend aufgefangen werden können.

Der Mensch aber ist der Mittelpunkt alles gesellschaftlichen Geschehens. Er ist auch Mittelpunkt und Ziel der Arbeit (Johannes Paul II). Es geht also um den Menschen als Ganzheit. Es geht um die Arbeitnehmer und um die Beachtung ihrer Würde im Arbeitsprozeß. Es geht um die Arbeitgeber, die sich nicht selbst zu Sklaven (oder zu Spekulanten) in ihrer ökonomischen Verantwortung machen.

Es geht um den Sinn der Arbeit selbst als Quelle für den Lebensunterhalt und als Ermöglichung, an-gemessen Anteil am Konsum und an anderen gesellschaftlichen Errungenschaften zu haben. Es geht aber auch um einen Dienst - nicht am Wirtschaftsgeschehen als anonymer Größe, sondern an der menschlichen Gemeinschaft, die vom gegenseitigen Austausch und der Verbindung aller, inklusive der unbezahlten Arbeitsleistung lebt.

Wenn der Mensch aber Mittelpunkt ist, so sind neben seinen Arbeits-auch seine übrigen Lebensumstände zu beachten. Bildung,„Europa-reife" und so weiter müssen daher unbedingt auch Kreativität, schöpferische Kraft für eine persönliche Lebensgestaltung, Phantasie, Träume und Sehnsüchte, mitmenschliche Beziehungen, die Bedeutung von Ehe und Familie, wertvolle Charaktereigenschaften (Tugenden) und eine verantwortliche, der Natur verbundene Einstellung zur Umwelt beinhalten. Eine einseitige Sicht des Menschen muß vermieden werden.

In dem sich öffnenden Wirtschaftsraum des EWR und der EG, zu dem es aus meiner Sicht keine Alternative gibt, braucht es ein ganzheitliches Menschenbild, das es den Menschen gestattet, ganz Mensch zu sein. Jede Vereinseitigung - heute als „homo oeconomicus" - bildet das Potential für (selbst-)zerstörerische Einflüsse, für Schein-Sinngebungen in Ideologien und sogenannten „Weltanschauungen", in denen populistisch verengte „einfache Lösungen" angeboten werden. Diese finden Raum, wo es Defizite gibt. Diese Defizite aufgrund von Einseitigkeiten auf irgendeiner Ebene von vornherein möglichst auszuschließen, das heißt den Menschen in all seinen Dimensionen als Identität und Ganzheit in den Blick zu nehmen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe aller, denen die Zukunft des „homo austriacus" ein Anliegen ist. Der Autor ist Pastoralassistent in Wien.

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