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Ein System stößt an Grenzen

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Wir erleben das Abdanken der großen Ideologien. Sie haben sich als nicht tragföhig erwiesen. Was heute bleibt, ist ein Minimalkonsens über Werte. Reicht dieser, um das Überleben der Gesellschaft zu sichern?

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Wir erleben das Abdanken der großen Ideologien. Sie haben sich als nicht tragföhig erwiesen. Was heute bleibt, ist ein Minimalkonsens über Werte. Reicht dieser, um das Überleben der Gesellschaft zu sichern?

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Dieser Konsens betrifft im wesentlichen die Mindestregeln eines zivilisierten Umganges miteinander. Die Gesellschaftspolitik wird auf wirtschaftspolitische Fragen reduziert. Das gesellschaftsbeherrschende ökonomische Paradigma ist auf einigen Grundannahmen (Dogmen) aufgebaut innerhalb derer es seine „zwingende” Logik entwickelt.

Zu den Grundannahmen gehören die Reduktion des Menschen auf einen, der stets nach seinem maximalen Nutzen handelt (homo oeconomicus), die Möglichkeit unbegrenzten Wachstums, die Selbstregulierung des Marktes in Richtung Gemeinwohl sowie die unbegrenzten Vorteile zunehmender Spezialisierung, Arbeitsteilung und Massenproduktion und schließlich die systemnotwendige Freiheit des Kapitalverkehrs und der positive Zinssatz.

Während die Propagierung unbegrenzten Wachstums in einem begrenzten System zur ökologischen Selbstzerstörung und zur die soziale Kohäsion überfordernden Kapitalakkumulation in den Händen weniger führen muß, bewirken die übrigen Annahmen ohne eingreifende Steuerung in Richtung Gemeinwohl die Zunahme der regionalen Unterschiede und die Entstehung ökologisch und sozial unangepaßter Systeme. Dennoch wird das Paradigma aufrecht erhalten und zu seiner Absicherung der „unbehinderte” Freihandel sogar völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben.

Auf Basis der Zusicherung des unbedingt freien Kapital- und Güterverkehrs können sich transnationale Machtstrukturen etablieren, die in der Lage sind, sich der regionalen Sozialkontrollen zu entziehen, weil sie jederzeit auf andere Standorte ausweichen beziehungsweise damit drohen können.

Das herrschende Wirtschaftsparadigma erfordert die unbegrenzte Steigerung der Konsumwünsche, um das systemerhaltende Wachstum sicherzustellen. Bescheidenheit und Selbstbeschränkung werden somit zu wirtschaftsschädlichen Untugenden. Das Wecken stets neuer Bedürfnisse muß das Wachstum sicherstellen. Die Werbung und zum Teil auch die Bildung werden in den Dienst dieser zentralen Aufgabe gestellt.

Dieser „ökonomischen Notwendigkeit”, in der ein Aufschwung den anderen ergeben muß und allgemeines Wirtschaftswachstum die einzige griffige Möglichkeit darstellt, der Massenarbeitslosigkeit zu entgehen, kommt noch ein weiteres Faktum entgegen, das die Psychagogin Christa Meves schon vor zirka 20 Jahren aufgezeigt hat: Sie spricht vor allem von zwei Äntriebsstörungen, die zu lebenslangen unangepaßten Ersatzbefriedigungen in Form eines unbegrenzt gierigen Hineinstopfens von Konsumgütern führen: die oral-kaptative Än-triebsstörung und die Störung des in-tentionalen Antriebsgeschehens. Beide sind vor allem auf die Trennung des Kindes von der Mutter in der sensibelsten Phase seiner Entwicklung zurückzuführen.

Es ist insbesondere die Fehlerhaftigkeit in der Nahrungszufuhr, die zu lebenslang psychisch ungestillten, immer nach Befriedigung jagenden Menschen führt. Diese Störungen werden in der Regel durch Störungen des ebenfalls instinktiv grundgelegten Antriebes zur Bindung an die Pflegerperson verstärkt. Das begünstigt nicht nur mangelnde Bindungsfähigkeit, sondern auch oberflächlichen Beziehungskonsum sowie nicht zuletzt materialisierten Beziehungskonsum in Form von Gütern.

Die große „Masche” der Werbung, fast alle Güter mit dem unterschwelligen Versprechen sexuell-partnerschaftlichen „Erfolges” auszustatten, nützt diese krankhafte Grundge-stimmtheit mit verantwortungsloser Virtuosität aus.

Ein fortgesetzter Versuch, das Paradies schon auf Erden einzurichten

Der Wiener Theologe Paul M. Zuleh-ner hat jüngst auf ein weiteres Element des Konsumzwangsyndroms hingewiesen: Die Verweigerung der Hoffnung auf jenseitiges Glück durch die moderne und postmoderne Aufklärung. Der Verweis auf ein mögliches Paradies auf Erden führt zu einem psychischen Gedrängtsein, im materiellen Bereich ein Maximum an Glück zu suchen. „Moderne” Menschen sehen sich zum Großteil veranlaßt in ihrer Lebenszeit ein Maximum an materiellem Konsum zu verwirklichen, um glücklich zu sein.

Auch in diesem Bestreben werden sie von der Werbung bestärkt. Diese verspricht in subtiler oder offener Form den Himmel auf Erden oder zumindest „himmlische Genüsse”.

Neben den drei vorstehenden Zwängen sollte ein weiterer Verstärker nicht außer acht gelassen werden, nämlich der zur Schau gestellte Konsum als Statussymbol, dessen Folgen schon im griechischen Erysichthon-Mythos vorgezeichnet sind.

Die weise Erkenntnis der griechischen Mythologie, daß materieller Statuswettbewerb einerseits keine Grenzen kennt (ich möchte immer mehr als der andere), und andererseits' zu keiner glückhaften Befriedigung führt, sondern vielmehr im Selbstverzehr, in unserer heutigen Sprache in der Überforderung des Ökosystems und damit in der Zerstörung der Lebensgrundlagen enden muß, kann kaum grundsätzlich Neues hinzugefügt werden.

Dieses Syndrom kommt zu seiner vollen Entfaltung, weil wesentliche Bremseffekte im Laufe der neuzeitlichen Geschichte weggefallen sind. Die plutokratische Interpretation von Johann Calvins Prädestinationslehre aus dem 16. Jahrhundert, daß Gott jene, die im Jenseits gesegnet sein werden, bereits auf Erden segnet und daß materieller Beichtum „Segen” bedeutet, ohne daß seine Entstehung hinterfragt wird, führte zur religiösen Unbedenklichkeitserklärung für ungehemmte Güteranhäufungen.

Im 17. Jahrhundert brachte Adam Smith mit seinem Theorem der unsichtbaren Hand ein Abschütteln aller sozialen Bedenken gegen egoistische Güteransammlung. Der Egoismus des einzelnen würde auf wunderbare Weise zum Gemeinwohl gebündelt.

Diesen Enthemmungsideologien wurde zu Ende des 19. Jahrhunderts noch die generelle Entschuldigung durch den Verweis auf den „Sachzwang” hinzugefügt. Dieses Denkmuster beinhaltet die Position, daß der einzelne das Gesellschaftssystem nicht ändern könne. Um aber selbst im Konkurrenzkampf nicht unterzugehen, müßten „harte” (das heißt asoziale) Verhaltensmuster in Kauf genommen werden. Diese Haltung sei sogar ethisch gerechtfertigt, weil die Selbsterhaltung moralische Pflicht ist.

Die Reduktion menschlicher Beziehungen auf den Austausch von Interessen führt zu Denk- und Handlungsmustern, die jeweils an die Grenze der Leistungsfähigkeit des Partners gehen: Gesund ist jemand nicht, wenn er sich wohlbefmdet, sondern solange er arbeitsfähig ist (und daher Tauschkraft hat). Ümweltverträglich ist eine Aktivität nicht, wenn sich die Mitwelt wohlbefindet, sondern solange sich für den Menschen keine unerwünschten Folgen zeigen.

Dieses immer zur äußersten Grenze der Belastbarkeit Gehen bringt das in der Regel nicht einkalkulierte Risiko mit sich, daß im Zusammentreffen solcher Handlungsmuster Belastungsgrenzen nicht umkehrbar überschritten werden. Es birgt somit eine eminente Lebensgefahr in sich.

Menschengemachte Stoffströme stören die Gleichgewichte der Erde

Die gesellschaftliche Pathologie der Folgen der materiell beherrschten Lebensentwürfe ist vielfältig. Es können neben schon vorstehend erwähnten nur einige wenige herausgehoben werden: Der überbordende materielle Konsum führt zu menschengemachten Stoffströmen, die die biologischen Gleichgewichte der Erde empfindlich zu stören beginnen. Das dynamische Gleichgewicht des Lebendigen als Basis menschlichen Daseins gerät damit ins Wanken. Eine vorgeblich humane Kultur wird dadurch höchst inhuman und lebensfeindlich, weil sie das biologische Fundament, auf dem alle gesellschaftlichen Systeme aufbauen müssen, untergräbt.

Statt dem verheißenen möglichst großen Glück für möglichst viele Menschen stellt man zunehmende aktuelle Angst (vor allem um den Arbeitsplatz), zunehmende Zukunftsangst („no future generation”) und zunehmende Neurosen (endemische Neurotisierung) sowie ein Schwanken zwischen gierigem Haschen und dumpfer Apathie (Hyperaktivität und Passivität) fest. Das 20. könnte als Jahrhundert der kollektiven Existenzangst in die Geschichte eingehen.Die kollektive, den Sachzwängen gehorchende Effizienzraserei führt zur kurzsichtigen Plünderung humaner und anderer Bessourcen. Das soziale Klima wird härter, und die Natur ist zunehmend bedroht.

In den weiter wachsenden Großsystemen im Produktions- und Dienst-leistungs- sowie vor allem im Kapitalbereich nimmt die Sozial- und Ökologieferne proportional zur Größe zu.

Die mit den naturüberwindenden Großtechniken verbundene Risikoerhöhung wird durch staatliche Haftungsbegrenzungen für die Akteure abgefangen (etwa für die Atomenergie, die Luft- und Schiffahrt; diskutiert wird ähnliches für die Daten-Highways). Die Risiken werden somit sozialisiert und die Gewinne für wenige privatisiert.

Druck auf die Arbeitsmärkte dreht langfristig die Wohlstandsspirale nach unten

Im volkswirtschaftlichen Bereich ergibt sich eine Falle, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt - außer extrem hohes Wirtschaftswachstum, von dem wir aber wissen, daß es zur Zerstörung der Lebensgrundlagen führen muß. Die Falle hat vor allem nachstehende Symptome:

■ Nichtbeherrschbare Arbeitslosigkeit (Der Produktivitätsfortschritt überholt das Wirtschaftswachstum und die Steigerung der Massenkonsumkraft).

■ Unfmanzierbare Sozialbudgets (laufende Delegation von Aufgaben nach „oben” an den Staat und Großzügigkeiten in der Vergangenheit sowie das Hinzukommen der aktuellen Probleme, wie der Arbeitslosigkeit).

■ Die vorherrschende Handelspolitik läßt bei vollem Technologietransfer, perfekter Kommunikation und subventioniertem Verkehr zusätzlich zirka vier Milliarden unterpreisige Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt. Der entstehende Druck auf die Masseneinkommen führt wieder zum Verlust von Kaufkraft, womit sich eine negative Wohlstandsspirale entwickelt.

■ Die Beseitigung alter und neu hinzukommender lokaler Umweltschäden erscheint allenthalben nicht mehr finanzierbar.

■ Drohende globale Umweltschäden entziehen sich von vornherein der Finanzierbarkeit.

■ Gleichzeitig verlieren die Staaten zunehmend ihre Steuerbasis (Arbeitslosigkeit, geringere Masseneinkommen).

Wir stehen also vor der Frage: Entläßt die Marktwirtschaft ihre Kinder in Bichtung „Wohlstand für niemand?” . Müssen wir nicht nur systemimmanent verarmen, sondern auch in „Müllerstickung” enden?

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