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Die Bewährung des Geistes

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Könnten die Menschen aus der Geschichte lernen, viele Lehren würden sie daraus schöpfen. Aber Leidenschaft und Parteigelst blenden sie; so wirkt denn das Licht der Erfahrung gleich der Lampe auf dem Hinterteil des Schiffes; sie leuchtet nur auf die Wege, die wir nicht zum

3 Dr. Frans: Het tinger: „Aus Welt und Kirche

Man hat oft das Phänomen des Christentums auf „natürliche“ Weise zu erklären versucht und historische, soziale, politische und psychologische Argumente zu seiner Wesensbestimmung angeführt. Die Frage aber, woher die Kirche die Kraft nahm, sich seit zweitausend Jahren über alle Wechselfälle der Geschichte als historische Gestalt zu erhalten, widerstand allen bloß rationalen Deutungsversuchen. Ungezählte Male in tödliche Kämpfe mit Vertretern weltlicher und geistiger Machtansprüche verwickelt, sah sie ihre Feinde immer zu Boden sinken, während sie selber in ewiger Verjüngung ihr Haupt aufs neue unter den Völkern erhob. Hat man auch nicht wieder, als Ostern heraufkam, den Odem jener geheimnisvollen Kraft verspürt, der die Menschen umfängt und der doch weit über allem naturhaften Geschehen jeglichen Lebens liegt? Wann ist dies aktueller zu sehen als jetzt, da der Nationalsozialismus durch seinen Abgang abermals diese Tatsache bestätigt hat?

Doch nicht das allein. Der Sturz Hitlers riß eine größere Bresche in die Front der Gegner des Christentums, als der National-' Sozialismus selbst darin ausfüllte. Der heroische Widerstand der Kirche gegen die Macht menschlicher Verirrung und Entartung lockerte auch jenen die Binde vor den Augen, die als politische Gegner des Nazismus gleich ihm Kirche und Religion aus ideologischen Motiven ablehnten. Diese Wandlung kommt im Weltbild der Gegenwart fühlbar zum Ausdruck. In einer Reihe von Staaten sind starke politische Strömungen aufgebrochen, welche bewußt eine Neuformung von Staat und Gesellschaft aus dem christlichen Ethos anstreben. Wo jedoch diej weltanschaulich politische Fixierung — dies trifft vor allem auf den Sozialismus zu — eine derart drastische Wendung verhindert, drückt sich die Änderung der geinigen Haltung auf andere Weise aus. Eine Anzahl abträglicher Meinungen wurde aus dem Vokabularium der sozialistischen Parteien gestrichen. Die gehäßige Ansicht, wonach Religion nichts weiter als das Geschäft einer Priesterkaste sei. ist der Einsicht gewichen, daß es sich dabei um ein echtes, zutiefst im Menschlichen begründetes seelisches Phänomen handelt, dem man anders zu begegnen habe als mit den Methoden billiger „Aufklärung“.

Darüber hinaus bereitet sich langsam eine Umschichtung der Ansichten auf einem der wichtigsten Sektoren des kulturellen Lebens im Sinne einer positiven Annäherung an christliche Auffassungen vor. Immer mehr wird die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Fragen des Sitten -esetzes eingesehen. Wohl wird nach wie vor die Lösung der ökonomischen Probleme als wesentliche Vorbedingung für das sittliche Verhalten des Menschen angesehen, doch empfindet man immer deutlicher auch die Wichtigkeit des Willens und der Anleitung zu einer sittlich geordneten Lebensweise und damit den Mangel eines hinreichend fundierten und durchgearbeiteten Systems der Moral. An Stelle der Einführung von Einzel Symptomen sei zum Beleg nur allgemein auf den ungeheuren Unterschied in der Behandlung kultureller Belange heute und nach dem ersten Weltkrieg hingewiesen. Damals zeigte sich ein Überwiegen zügelloser Demagogie, offene Feindschaft gegen jeden relidösen Gedanken sowie Verachtung und Geringschätzung des Sittengesetzes. Demgegenüber ist auf die Ernsthaftigkeit hinzuweisen, mit der in der Gegenwart die Gemeinschaftsprobleme angefaßt werden. Nirgends wird wie damals der Versuch gemacht, das traurige Kriegserbe zerrüteter Ehen und Familien oder die sittlichen Entgleisungen der heranwachsenden Jugend zu bagatellisieren oder a'- Ausdruck freier Persönlichkeitsentfaltung zu preisen. Weichen auch die grundsätzlichen Einstellungen sowie die Vorschläge zu einer Abhilfe in vielen Punkten von der christlichen Auffassung ab, so steht doch fest, daß man in all diesen Erscheinungen Krankheiten im Gesellschaftsorganismus erblickt, welche eine gleich ernste Beachtung Verdienen wie irgendein Sozialproblem.

* Man muß annehmen, daß die Hinwendung zu einer konkreten Moral nicht allein auf das Beispiel der Kirche in einer Zeit der härtesten Erprobung der Moral zurückzuführen ist, schon deshalb nicht, weil die Haltung der Kirche gar nicht allen Menschen in gleich eindrucksvoller Weise zur Kenntnis gelangen konnte. Es ist vielmehr eine Wirkursache als Begründung anzusehen, welche sie einem Großteil der Menschheit hinreichend deutlich mitteilte. Diese ist im Erlebnis der absoluten Rechtlosigkeit, der Auflösung aller allgemein verpflichtenden Rechtsbegriffe und der bewußten totalen Abwendung von jeder objektiven sittlichen Norm im Dritten Reich begründet. Niemand konnte von einem Tag zum andern vorausahnen, was er auf Befehl der Führung für moralisch anzusehn, noch was er als unmoralisch zu verwerfen haben würde. De facto war es so, daß zahllose Menschen wegen einer Handlung, die nach dem sittlichen Empfinden der zivilisierten Menschheit bisher als sittlich galt galt, der Verurteilung anheimfielen, während zahlreiche andere wegen einer bis dahin nach allgemeinem Urteil schlechten Handlung ausgezeichnet wurden. Es kann keinen Zweifel geben, daß die Entblößung der Gerechtigkeit von einer objektiven Rechtsnorm vom Menschen als schwerste Bedrohung seiner elementaren Lebensbedingungen empfunden wurde. Aus diesem: Rückblick wird das Motiv der durch alle Gegenwartsnot hindurch vernehmbaren Stimme unserer Zeit verständlich: der um das Recht auf Gerechtigkeit betrogene Mensch verlangt aus dem Gefühl seiner Verlorenhei nach der Geborgenheit durch das Sittengesetz als der Magna Charta einer seinem Wesen entsprechenden Lebensordnung. Aus dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung heraus gelangte der moderne Mensch zu einer neuen Begegnung mit der Kirche. Der Beweggrund hiezu ist demnach nicht ausschließlich die religiöse oder soziale als vielmehr die sittliche Not, die Krise des Rechts, welche den Menschen zu verschlingen droht. Die Kirche aber als konsequente Verfechterin des objektiven Rechts zieht in erster

Linie den Blick des suchenden Menschen auf sich. Nicht mit Unrecht mag man darin einen Hinweis auf die Quelle ihrer inneren Kraft, die sich in ihrer langen Geschichte offenbart, erblicken.

Es is die Schicksalsfrage unserer Zeit, ob die breiten Massen unter, den Völkern, die zum erstenmal in der Geschichte die Folgen der totalen Trennung des menschlichen Handelns vom Gesetz der absoluten Wertordnung im vollen Umfang ertragen mußten, nun den entscheidenden Schritt aus dem Dunkel ungewisser Ahnung in die befreiende Helle der von vollem Bewußtsein getragenen Bejahung der sittlichen Lebensordnung gehen werden. Die eingetretene Besinnung ist unleugbar, darf aber nicht zu Illusionen verleiten. Man spricht heute viel von den Verbrechen des Hitlerregimes und fordert ihee Bestrafung. Mit Recht! . Über das größte Verbrechen Hitlers aber, welches alle anderen erst bewirkte, nämlich die Durchbrechung und bewußte Unterdrückung des absoluten Sittengesetzes zugunsten einer willkürlichen Verabsolutierung sekundärer Erscheinungsformen hört man soviel wie gar nichts. Darin liegt die Schwäche des heutigen Antifaschismus. Sie ist nicht eine Schwäche der Mittel, sondern der Unsicherheit in der Erkenntnis und Verfolgung des Zieles. Der Nazismus hat als • eigentlich anthropologische Häresie mit der Frage seiner geistigen Überwindung Fundamentalprobleme der Sozialethik aufgeworfen, wie zuim Beispiel die Fragen von Verpflichtung und Verantwortlichkeit des Menschen an das moralische Gesetz, die Frage der Freiheit des Individuums und der Menschenwürde. Der Nazismus hat außerdem eine Neuordnung der wirtschaftlichen, kulturellen und völkerrechtlichen Beziehungen in der Welt notwendig gemacht.

Die Lösung so mannigfacher und gewaltiger Aufgaben macht hinlänglich klar, daß die Menschheit heute an einem bedeutungsvollen Wendepunkt angelangt ist. Entweder gelingt es, alle diese Fragen so zu ordnen, daß dem Individuum in der staatlichen Gemeinschaft wie jeder einzelnen Nation in der Gemeinschaft der Völker die ihnen gebührenden Grundrechte einer freien Existenz eingeräumt werden. Oder es werden durch die Mißachtung der klaren Bestimmungen des Naturrechts Verhältnisse geschaffen, welche die Beziehungen unter den Menschen und. Völkern neuerdings vergiften und zu gewaltsamen Korrekturversuchen

Anlaß geben. Dies gilt selbstverständlich für alle. Für jene sowohl, die, dem schrankenlosen Individualismus huldigend, einem unkontrollierten Unternehmertum die Bahn freihalten wollen, wie für die anderen, welche die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit durch ein Kollektiv beschränken möchten. Besonders aber sind diejenigen daran gehalten, die als Lenker der mächtig-, sten Staaten der Erde zugleich mit dem Wohl ihrer eigenen auch das der kleinen und besiegten Nationen in ihren Händen halten. Es ist unvorstellbar, auf welch andere Weise die Menschheit zur Realisierung ' einer rechtlich zufriedenstellenden Ordnung gelangen körinte als durch die feierliche und kompromißlose Verpflichtung an jenes moralische Gesetz, das der Mensch in der Stimme des Gewissens, seit Jahrtausenden in seiner Brust trägt' und im christlichen Sittengesetz seinen erhabensten Ausdruck findet. Jede Unterordnung des Menschen unter eine andere Autorität, sei dies nun eine Führerpersönlichkeit, ein Kollektiv oder ein . philosophisches System, trägt die 'gleichen gefahrvollen Schwächen in sich, da sie alle den Fehlerquellen und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur unterworfen sind. Diese Schwächen sind dem Gegenwartsmenschen nicht nur kontemplativ, sondern durch eine blutige Wirklichkeit drastisch genug zum Bewußtsein gebracht worden. ' . *'

Die heute festzustellende Besinnung auf die moralischen Lebensgrundlagen des Menschen ermutigt zu einer hoffnungsvollen Beurteilung der Gegenwart trotz allen Schwierigkeiten. Erfüllen wird sich aber die Sehnsucht nach einer Auferstehung der Menschheit aus den Trümmern der Vergangenheit nur. wenn dieser Besinnung die bewußte, uneingeschränkte Anerkennung der christlichen Sittenordnuii vorangeht.

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