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Preußen in geistesgeschichtlicher Schau

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Es wird noch langwieriger Verhandlungen bedürfen, bis über die künftige staatsrechtliche Struktur Deutschlands volle Klarheit geschaffen ist. Eines läßt sich freilich schon heute sagen: selbst wenn jenes Land, das dem zweiten und im gewissen Sinne fraglos auch dem Dritten Reich den Stempel seiner Wesensart aufgeprägt hat, in irgendeiner Form weiterbestehen sollte (was übrigens nach den inzwischen eingetretenen territorialen Umgestaltungen kauim erwartet werden kann), so ist doch seine einstige Vormachtstellung im deutschen Raum unwiederbringlich dahin. Indessen, dieser Prozeß der Liquidierung Preußens wird so lange im Bewußtsein des deutsehen Volkes nur Symbol des Zusammenbruches sein und ohne zukunftverheißende Bedeutung bleiben, als es sich nidn aus freiem Entschluß zur Abkehr von eben jener Mentalität bereit-findet, die von der übrigen Welt je und je als Bedrohung empfunden worden ist.

Man hat preußischerseits immer wieder das Mißtrauen, dem man allerorten begegnete, aus der nur allzu verständlichen, aber darum doch keineswegs gerechtfertigten Feindschaft konsolidierter, auf die Behauptung ihrer Machtpositionen bedachter Staaten gegen ein aufstrebendes politisches Gebilde zu erklären versucht. Daß eine solche Deutung ebensowenig eine befriedigende Lösung des vorliegenden Problems darstellt wie die Argumentation der Gegenseite, die für dio verhängnisvolle Entwicklung der Dinge ausschließlich die vielberedete politische Arno-ralität und das psychologische Unvermögen des Preußentums verantwortlich machen zu dürfen glaubt, liegt auf der Hand. Wo Ankläger und Verteidiger das Wort führen, da wird jenes Material ausgebreitet das. in seinem ganzen Umfang zu kennen unerläßliche Vorbedingung, aber eben doch erst Voraussetzung für ein gerechtes Urteil ist. Soll dieses Gestalt gewinnen, dann bedarf es dazu des Durchbruches zu einer von Leidenschaften ungetrübten Einsicht in das tiefste Wesen des zur Erörterung stehenden Sachverhalts.

Nun glauben wir nicht fehlzugehen, in der Annahme, jene Frontstellung gegen alles Preußische bedeute letzten Endes nichts anderes als den Versuch des christlichen Abendlandes, sich des Zugriffs einer Welt zu erwehren, deren wesenhafte Andersartigkeit man zwar kaum rational klar erkannt, wohl aber mit der Sicherheit des Instinkts erspürt hat. Das Recht diese These zu erhärten, sei die Aufgabe dieser politisch-geistesgeschichtlichen Rückschau.

Mit der Feststellung, daß es kolonialer Boden war, aus dem die spätere hohen-zollernsche Großmacht emporwuchs, ist zunächst noch nichts gesagt, was für unsere Sicht des Problems entscheidend ins Gewicht fiele. Nicht wenige Staaten im Gefüge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Naton haben sich von ähnlichen Voraussetzungen her entwickelt und sind gleichwohl rasch in seiner geistig-religiösen Kultur heimisch geworden, ja haben binnen kurzer Zeit an deren Ausbau maßgeblichen Anteil zu gewinnen gewußt. Immerhin darf nicht übersehen werden, daß, während zum Beispiel Kursachsen durch seine sdion frühzeitig christianisierten thüringischen Gebiete selbst teilweise in uraltem deutschen Kulturland wurzelte, Brandenburg seinen Sdiwerpunkt ausschließlich im neugewonnenen Osten hatte. Dessenungeachtet war endlich auch hier, nicht zuletzt dank der segensreichen Tätigkeit des allein namhaft in Erscheinung tretenden Ordens der Zisterzienser, die sich freilich in Preußen weniger die geistige Erneuerung des Landes, als die Hebung seiner materiellen Kultur angelegen sein ließen — oder vielleicht aus äußeren Gründen angelegen sein lassen mußten —, die Durchdringung des Volkes mit dem Geiste des Christentums in langsamem, aber stetigem Fortschreiten begriffen. Da kommt es um die Mitte des 16. Jahrhunderts zum Bruch mit der alten Kirche. Nun übernimmt das Luthertum die Aufgabe, mit den ihm eigenen religiösen Kräften das unvollendet gebliebene Werk weiterzuführen, und es hat ihr nicht minder treu gedient als vordem der Katholizismus.

Zum zweiten Male scheint es, als solle der Traum jener Männer, die einst als erste Glaubensboten das Land betreten hatten: das ganze Volk für Christus zu gewinnnen, in dem Ausmaße des im Räume dieser Welt Erreichbaren, Wirklichkeit werden. Inzwischen aber hatte sich eine bedeutsame Wendung in der brandenburgisdien Politik angebahnt. Das Kurfürstentum sudit und findet Anlehnung an die Pfalz, und im Zuge dieser Entwicklung vollzieht 1613 Johann Sigismund, dabei gewiß zum Teil auch von seiner religiös-theologischen Überzeugung geleitet, den Übertritt zum — Calvinismus. Eine ungeheure Erregung bemächtigt sich des ganzen Landes. Die Regierung hält Ausschau nach geeigneten Mitteln, um die jählings aufgebrochene Kluft zu überbrücken. Hier liegen die Keime zu jenen innerprotestantischen Unionsbestrebungen, die freilich in der Art, wie sie durchgeführt wurden, um der Fragwürdigkeit ihrer theologischen Fundamentierung willen, eine endgültige Bereinigung der vorhandenen Gegensätze nicht bringen konnten. Je länger, desto deutlicher erweisen sie sich als ein angesichts der inneren Situation des brandenburgisch-preußischen Staates zwar sehr begreiflicher, ob ihrer gelegentlichen Neigungen zu einer gewaltsamen Lösung allerdings recht bedenklicher Versuch, in 'Ermangelung einer organisch gewachsenen religiösen Einheit, eine diristlich getönte, geistige Konformität der Bevölkerung zu gestalten. Vielleidit wäre ihnen, zumal allgemach das Zeitalter der Orthodoxie zu Ende ging und im Pietismus eine neue, mit läuternder religiöser Kraft begnadete, konfessionell versöhnlich gestimmte Epoche anbrach, schließlich dennoch ein Erfolg beschieden gewesen, hätte nicht jene Persönlichkeit, die der Mythus zur Idealgestalt eines Herrschers erhoben hat, das fernere Geschehen überschattet.

Selbst religiös entwurzelt, ist Friedrich IL, der dritte Träger jenes Königtums, du linnbildhafter Ausdruck der geistigen Problematik Preußens — jenseits der Grenzen des Heiligen Reiches emporgestiegen war, dem letztentscheidenden Anliegen seines Staates Verständnis- und teilnahmslos gegenübergestanden. Nicht genug damit, hat er durch sein Beispiel gerade -in den Kreisen, die vermöge ihrer gesellschaftlichen und geistigen Bedeutung zuvörderst in der Lage und berufen gewesen wären, korrigierend einzugreifen, weithin einem, weltanschaulichen Radikalismus den Weg bereitet. Die, wie der weitere Gang der Geschichte zeigt, letzte Möglichkeit, bedachtsam fördernd heranreifen zu lassen, wessen dieses Volk zu seiner inneren Existenz bedurfte, ist damit schuldhaft vertan.

Indessen, keine Gemeinschaft “kann auf die Dauer ihrer Untermauerung im Religiösen entraten. Erweist es sich aus welchen Gründen immer als zu schwach, dieser ihm gestellten Aufgabe sich zu unterziehen, dann treten Religionssurrogate auf den Plan, um sie zu übernehmen. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein, umstrahlt vom Nimbus einer Offenbarung letztgültiger Werte, hat die Kantische Ethik ihr Werk der Menschenforschung vollbracht. Allein, indem sie die Pflicht zum Abgott erhebt, führt sie, ungeachtet der Erhabenheit und des rigorosen Ernstes ihrer Forderungen, ohne es Zu wollen, die Gefahr einer Entpersönlichung und Hand in Hand damit einer Scheu vor letzter Verantwortung herauf, die dort Platz greift, wo der Mensch mit dem Verzicht, sein ganzes Leben aus der Gemeinschaft mit Gott zu gestalten, seine Freiheit verliert. Und noch eine andere Tatsache verdient in unserem Zusammenhang Beachtung. Es ist, als ob Kant unter dem Eindruck der steten latenten Bedrohung Europas durch den in entfesselten blindem Ungestüm vorwärtsstürmenden Osten sonderlich seine Aufgabe darin gesehen hätte, den menschlichen Drang nach Kraftentfaltung in die Sphäre ethosgebundenen Handelns zu erheben. Mit dieser Sublimierung aber sanktioniert er letztlich jene für das Preußentum charakteristische Dynamik, die in der Unermüdlichkeit ihres Strebens, Gewaltiges zu gestalten, berufen scheint, um nur allzuleicht der Entseelung zu verfallen und in Leerlauf zu enden.

So wird das Kantische Denken Ausgangspunkt und Grundlage für eine Selbstrecht- • fertigung des preußisi *n Menschen. Seinen Staat aber zu metaphysischer Dignität erhoben zu haben, ist das Werk der Philosophie Hegels. Sieht dieser doch in ihm die absolut höchste Erscheinungsform des Geistes, das „an und für sich Vernünftige“, ja „die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist“. Und indem er zugleich seinen Macht-charakter übertont, wird er zum Wegbereiter der Doktrinen eines Heinrich von Treitschke und damit 'zum Inaugurator einer Politik, die in der Erringung von Macht so lange ihr ureigenstes Anliegen sieht, bis sie daran zerbricht.

Man wird möglicherweise unseren Versuch, das Problem Preußen aus dem Fehler einer kontinuierlichen, in die Tiefendimensionen der Volksseele hinabreichenden Durchdringung mit dem Geiste des Christentums zu verstehen, der Vergewaltigung der Tatsachen bezichtigen. Sind nicht auch dem Boden dieses Landes ungezählte wahrhaft fromme Persönlichkeiten entsprossen, unbekannte, aber nicht minder solche, deren Namen gleicherweise im Buch der Geschichte und im Buch des Lebens stehen? Das kann und soll nicht bezweifelt werden. Ja wir wissen darüber hinaus um einen Typus verehrungswürdigen Menschentums' daselbst, Männer und Frauen, die sich verpflichtet wußten und stark genug fühlten, gegen den Strom zu schwimmen — und doch außerstande waren, seinen Lauf zu ändern.

Der preußische Staat ist zerfallen, sein Volk lebt weiter. Wird es nun, da ihm all das genommen ist, was einstens sein Stolz und der Inhalt seines Lebens war, endlich heimfinden in jene geistige Welt, in die es gleich allen anderen Nationen gerufen ist?

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