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Digital In Arbeit

Die große Hoffnung

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Wo liegen die Ursachen für diese Fehlentwicklung und wie sind sie zu beheben? Inwieweit ist der Block der industriellen Arbeiterschaft dem Christentum verschlossen? Welche Bedeutung kommt der Rückgewinnung des Arbeiters für die Zukunft zu?

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Wo liegen die Ursachen für diese Fehlentwicklung und wie sind sie zu beheben? Inwieweit ist der Block der industriellen Arbeiterschaft dem Christentum verschlossen? Welche Bedeutung kommt der Rückgewinnung des Arbeiters für die Zukunft zu?

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Hat sich der Durchschnittsmensch von heute durch solche Fragen einmal auf

rütteln lassen, so möchte er auch gleich, um in der nächsten Nacht ruhig schlafen zu können, eine leichtfaßliche, fertige Antwort parat haben, die ihm die Möglichkeit gibt, zu sägen: „Hier ist wohl ein Problem, aber die richtige Lösung habe ich schon zur Hand " Das Leben schaut ganz anders aus, und der Herr sieht die Dinge auch anders. Er lehrt uns, um unser tägliches Brot zu beten, und nicht um

einen Vorrat für die nächsten Jahre. Wenn er uns das Licht für den Aufbruch gewährt, berechtigt uns das nicht zu der Forderung, daß unser ganzer Weg erleuchtet sei.

Künstlich konstruierte, kurzschlüssige „Lösungen" bringen uns nicht an die Gestade der Hoffnung. Darum sei die Tiefe der Fragestellung vorerst an einigen möglichen Antworten ausgelotet.

Antworten auf die große Frage

Die erste von vielen möglichen Reaktionen könnte von einem sozialistischen Funktionär stammen, der in Österreich den Anspruch erhebt, daß die Arbeiterschaft, jedenfalls ihre Mehrheit und ihre besten Elemente, geschlossen in seinem Lager steht. Gewiß hat sich viel geändert seit jenen Zeiten, da die Sozialdemokratische Partei die Kirchenaustrittsbewegung

als eines der wichtigsten Hochziele ihrer Propaganda ansah. Oft zitierte Äußerungen wie: „Wir lehnen den Kulturkampf unbedingt ab und bekennen uns zum Gedanken religiöser Freiheit und absoluter Toleranz" (Dr. Ernst Koref) weisen heute auf eine Annäherung an die große englische Bruderpartei hin, deren Auffassung die Erklärung ihres Vorsitzenden charakterisiert: „Unsere Zivilisation kann nur dann weiterbestehen, wenn im nationalen und internationalen Leben die Grundsätze des Christentums herrschen; die zivilisierte Welt muß daher zu den christlichen Grundsätzen zurückkehren, bevor es zu spät ist!"

Begegnet aber unser Sozialist in seinem politischen Alltag der Frage nach der „Rückgewinnung des Arbeiters", so ist eins gegen hundert zu wetten, daß seine erste Reaktion Mißtrauen sein wird. Selbst wenn er sich privat als Christ bekennt, wird ihn leicht die Sorge packen, es könnte sich da wieder einmal um „macchiavellistische Spekulationen" handeln, „mit religiösen Gefühlen, Affekten, Stimmungen überaus weltliche Ziele in der Gewinnung politischer Machtpositionen" zu verfolgen. Und auf jeden Fall wird er sich für einen Angriff des gern zitierten „Klerikalismus" auf seine Partei rüsten. Er wird sich damit beruhigen, eine solche „Rückgewinnung der Arbeiterschaft" im gegebenen Fall, besonders wenn sie ihm als breiter organisiertes Vorhaben auffiele, vor seinen Massen mühelos als Angriff auf gesellschaftlichen Fortschritt, auf soziale Errungenschaften und Hoffnungen, auf gewerkschaftliche und demokratische Freiheiten diskreditieren und damit unschädlich machen zu können.

Eine zweite Reaktion auf die Frage nach der „Rückgewinnung des Arbeiters" ist der ersteh extrem entgegengesetzt. Mit der Begründung, „daß die österreichischen Sozialisten nach wie vor noch Kostgänger des Marxismus und Anhänger der Verstaatlichung sind", wird gefordert werden, „jedem Materialismus mit aller Schärfe entgegenzutreten" und die Masse der Arbeiterschaft aus den Bindungen dieser Partei zu lösen. Der Hinweis wird bereitliegen, daß es zum Beispiel gerade diese Partei ist, die den christlichen Eltern wohl nicht das Recht auf Religionsstunden im Lehrplan, jedenfalls aber auf religiöse Erziehung ihrer Kinder in öffentlichen Schulen hartnäckig verweigert. Unschwer werden päpstliche Kundgebungen zitiert werden können, die die Bildung christlicher Gewerkschaften empfehlen (zum Beispiel die Enzyklika Singular! quadam Pius' X., 1912). Die

Tatsache, daß es etwa in Belgien dirist- lichg Gewerkschaften gibt, deren Mitgliederzahl die der sozialistischen über- , trifft, wird stolze Erinnerungen an Lueger wachrufen, der nach dramatischen Kämpfen mit dem Bankkapital volksnotwendige Großbetriebe — Gas, Strom, Verkehrsmittel — in das öffentliche Eigentum brachte und erstmalig daran ging, städtische Wohnhäuser für Arbeiter zu errichten. •

Eine Arbeiterbewegung ist jedoch die Lueger-Bewegung nie geworden; die Kleinbürger, die damals das Kirchenvolk stellten, füllten auch seine Christlichsoziale Partei. Die nachdrängende Arbeiterschaft meldete ihre Ansprüche auf einer anderen politischen Plattform an, und der Orel-Bewegung, die erstmalig in der Geschichte des sozialen Katholizismus einen gründlich geschulten katholischen Jungarbeitertyp entwickelte und mit sieghaftem Elan die sozialdemokratischen und nationalen Jugendorganisationen schlug, war es infolge innerkirchlicher Widerstände und der Verheerungen des ersten Weltkriegs 1914 18 nicht beschießen, im weiteren Verlauf in eine große Arbeiterbewegung einzumünden, die neben der sozialistischen ein entscheidender Faktor hätte sein können.

So ungewiß es ist, ob unter völlig veränderten Verhältnissen ein alter Versuch mit Aussicht auf größere Erfolge wiederholt werden könnte und nicht bloß eine Episode in den üblichen Positionskämpfen bliebe, so verbirgt sich hinter diesen Gedankengängen, die sich auf der politischen Ebene bewegen, auch ein echtes religiöses Anliegen.

Denn die Hauptursache für die Ent- christlichung des Proletariats ist zweifellos seine Entfremdung und Entwurzelung. Die im vergangenen Jahrhundert sich entfaltenden Industriezentren zogen die Menschenmassen aus dem ganzen Land an sich. Die Menschen verloren die vertrauten Bindungen ihrer Dorfgemeinden und fanden in den wachsenden Städten keine aufnahmsbereite Gemeinschaft vor. Sie lebten „am Rand" der Gesellschaft in einer entpersönlichten Welt, in der sich nur der Starke behaupten konnte und in der es ihnen an den Grundelementen für eine soziale Existenz mangelte. War es ihnen nicht möglich, ein wirklich menschenwürdiges Leben zu führen? Es macht den Eindruck, daß ihnen ihr ursprüngliches Christentum, das wesentlich auf dem Gemeinschaftsleben beruhte, mit dem Verlust der Gemeinschaft abhanden gekommen ist.

Der Durchschnittsmensch ist ja nicht stark genug, allein zu stehen, er braucht Anlehnung und Hilfe. Ist für ihn schon das

Alltagsleben außerhalb der Gemeinschaft schwer erträglich, so bringt er es zur kirchlichen Praxis des Christentums nur in einer christlichen Gemeinde, in der er sich beheimatet fühlt. In den alten Pfarrgemeinden der Industriestädte hatten die gläubigen Bürger und Kleinbürger im Laufe der Generationen ihre Gemeinschaftsformen und Traditionen herausgebildet. Dieses Pfarrchristentum besaß unzweifelhaft eine christliche Kultur, aber sie war ganz durchtränkt mit der bürgerlichen Geistes- und Lebensart, von der es gute wie schlechte Seiten übernahm. Selbst wenn sie damals die Seelennot der Zugewanderten großmütig verstanden hätten, sie wären nicht vorbereitet gewesen, diese „Fremden“ ihrer Pfarrgemeinde einzugliedern. Man muß sicįh. nur die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser frühkapitalistischen Zeit vergegenwärtigen, um zu begreifen, daß sich die Entwurzelten in dieser Umgebung als Außenseiter und Ausgestoßene fühlen mußten. Da aus ihnen selbst keine eigenen neuen Gemeinschaften gebildet wurden, blieben sie ohne religiöse Heimstatt für ihren Glauben, den sie in die Stadt mitgebfacht hatten. So wuchsen sie denn in das neue proletarische Milieu hinein.

Die Zeiten haben sich seither geändert. Für die Minderheit jener, die sich ein religiöses Bewußtsein bewahrt haben, könnte es eine Erleichterung, ein Gewinn sein, würden sie aus glaubensfremden

Organisationen heraus und in christliche hineingeführt werden; bewahrt vor der Berührung mit der glaubenslosen Welt, könnte sich ihre persönliche religiöse Begabung leichter entfalten. Doch die große

Masse wechselt ihr Milieu nicht so einfach, und würde durch die Ausgliederung jener in religiöser Hinsicht nur noch schwächer und ärmer, nur noch christus- ferner werden.

Konfrontation mit der Wirklichkeit

Eine dritte Antwort auf die Frage nach der „Rückgewinnung des Arbeiters“ könnte davon ausgehen, daß das Streben nach Verchristlichung der Massen sein Ziel nur in einer Welt allgemeiner politischer und sozialer Erneuerung erreichen kann, die die Schwierigkeiten und Hindernisse beseitigt, die der christlichen Entwicklung im Weg stehen. Es ist nicht mehr die Zeit, neue Prinzipien auszuklügeln und neue Ziele aufzustellen, denn diese liegen ausgebreitet vor uns. Wohl aber ist es nun wirklich Zeit, sich die konkreten Verhältnisse vor Augen zu stellen und die entscheidenden Schritte in die Wirklichkeit zu tun. Gefährdet diese Forderung nach politischer und sozialer Erneuerung die Forderung nach religiöser Erneuerung? Mit der Politik steht es nach einem Wort von Jean Lacroix wie mit der Metaphysik: wer keine betreibt, betreibt doch eine, aber eine schlechte.

Eine solche Erneuerung wäre noch kein Christentum, sie gehört zum Be

reich des weltlichen Gemeinwesens und, auch wenn christliche Grundsätze angewendet werden, müßten doch alle diese Anstrengungen scheitern, sofern nicht parallel dazu eine mächtige christliche Erneuerungsbewegung verläuft, die alle Schichten erfaßt.

Denn wie im materiellen Bereich die Industriearbeiterschaft heute keineswegs den tiefsten Punkt einnimmt, so ist sie auch nicht die einzige Schicht, die wiederzugewinnen ist. Eingehende soziologische Untersuchungen (Rowntree und Lavers: „English Life and Leisure", London) haben ergeben, daß nur etwa 10 Prozent der Gesamtbevölke- rung Englands am kirchlichen Leben irgendeines Bekenntnisses regelmäßig teilnehmen. Die gleiche Ziffer wird aus Frankreich- berichtet, wo es schon weite ländliche Bezirke gibt, „die keine christliche Tradition mehr haben, wo die Liebe zum Geld alles angenagt, wo die Politik alles verwüstet hat, wo die Abwesenheit von Priestern alles hat ersterben lassen"

(„La Dėchristianisation en France", Li- sieux).

In einer Denkschrift über den Glaubensstand der Jugend, die der Internationale Kongreß der weiblichen katholischen Jugend Papst Pius XII. überreichte, heißt es: „Die jungen Katholiken haben im Durchschnitt eine sehr unbestimmte Vorstellung von Gott, oder richtiger: eine negativ bestimmte, nämlich eine unreligiöse Man kann ihre Art, zu glauben, als oberflächlich, rationalistisch und liberal kennzeichnen.“ Mag der Prozentsatz der praktizierenden Katholiken in Österreich auch auf 15 Prozent und höher geschätzt werden, so heißt es in einer umfassenden von der Katholischen Arbeiterjugend durchgeführten Untersuchung: „ Das religiöse Bewußtsein ist verkümmert. Religion und Geist werden als Möglichkeit gar nicht geleugnet, sondern zur Seite geschoben und kaum beachtet“ („Berichte zur Kultur- und Zeitgeschichte“, Nr. 326 bis 328). — Aber einer brutalen atheistischen Propaganda ist es in der Sowjetunion nach 35 Jahren nicht gelungen, die Zahl der Gläubigen unter zehn Prozent herabzudrücken.

Es wird zu leicht vergessen, daß zum europäisch - amerikanischen Kulturkreis nicht nur Augustinus, Thomas, Canisius gehören, sondern ebenso Voltaire, Kant, Marx. Das Christentum ist im europäischamerikanischen Raum, der sich seit Spengler gern „christliches Abendland“ nennt, nur eine der verschiedenen Kul- turkomponenten, nicht aber die beherrschende. Daß außer der Materie nichts existiert, und daß die ganze Welt irgendwie „von selbst“ entstanden ist, entspricht — ausgenommen die noch positiv religiös Gläubigen — den Anschauungen wohl der überwiegenden Mehrheit der Leute im Westen, nicht nur dem Dialektischen Materialismus der gottlosen Kommunisten, denen die finstere Unwissenheit, die dünkelhafte Halbbildung, Denkträgheit und Haltlosigkeit den Boden bereiten.

Trotzdem kann das Christentum unter all den Weltanschauungsformen, die heute um die Seelen ringen, den ersten Platz einnehmen. Manches deutet darauf hin, daß die Arbeiterschaft einmal den Reichtum der Kinder Gottes übernehmen wird, der müden Händen entgleitet. Hat man die Proletarier einst nicht „vaterlandslose Gesellen“ genannt? Inzwischen ist die Arbeiterschaft zur Verantwortung für das Gemeinwesen aufgestiegen und prägt dem gesellschaftlichen Leben ihre Züge auf. Sie hat sich das Vaterland erobert. Sie ist nicht mehr passives Objekt, sondern aktives Subjekt der geschichtlichen Entwicklung. Wer könnte sie heute daran hindern, ihre Sehnsüchte und Gedanken zu Ende zu denken, sich ihren Gott zurückzuerobern und in eine nicht nur vermenschlichte, sondern vergöttlichte Welt aufzusteigen?

Schon finden sich Priester zu dem er- greifepden, problemschweren Wagnis bereit, mas Kleid des Arbeiters zu tragen, seine Sitten und Gebräuche zu teilen, die gleiche Arbeit zu leisten, vom selben Verdienst zu leben, und zwar nicht für ein paar Jahre, sondern für immer, fürs Leben: um an den Gerechtigkeitssinn, den Freiheitsdrang, die Liebe zu den Mitmenschen zu appellieren und das Herz ihrer Arbeitskameraden für die Frohbotschaft zu öffnen.

Das ist ein Weg von vielen. Das In- stitutum saeculare Opus Dei gibt Laien in weltlichen Berufen und ohne Priestertum die Möglichkeit, die drei Gelübde abzulegen und sich dem monastischen Ideal in neuer, zeitgemäßer Form zu widmen. Mitglieder einer solchen weiblichen Kommunität bewähren sich als Textilarbeiterinnen in Vorarlberger Fabriken.

Während die Priesterberufe in bäuerlichen und bürgerlichen Schichten versiegen, haben sich heuer gut drei Dutzend junger Arbeiter, die in den Reihen der Katholischen Arbeiterjugend Österreichs geformt wurden, Schlosser, Maurer, Ziegeleiarbeiter, Weber, Spengler, Bäcker, Schneider, Tischler, entschlossen, Arbeiterpriester zu werden.

Die „Rückgewinnung des Arbeiters“ könnte also, wenn Gott will, für die Zukunft die Bedeutung bekommen, die Kraft zu sein, die den in der Finsternis Verirrten das Licht des Glaubens bringt.

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