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Kirche und Arbeiterschaft

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Vom 15. bis 18. April 194 fand in Wien eine Seelsorgertagung statt. Beratungsgegenstand war die Arbeiterfrage. Sie wurde, wohl im Sinne der Kirche, weder soziologisch, noch auch politisch, gestellt. Sie wurde seelsorgerlich gestellt, und nur so! Einzige Sorge' der Tagung war die religiöse Gewinnung der Arbeiterschaft für Christus.

Erschütternde Berichte gaben gleich anfangs diesen Bescheid: Die Masse der Arbeiter steht nicht in der Kirche. Sie ist nicht mehr gegen die Kirche, aber sie, lebt, als ob es keine Kirche gäbe. Pius XII. nannte diese Tatsache, die fast eine Welttatsaclje ist, das große Ärgernis des 20. Jahrhunderts. Wie ist es möglich, setzte der Heilige Vater fort, daß so wenige von dem gewaltigen Beitrag der Kirche zur sozialen Frage, zur sozialen Massennot, wüßten? Bei so vielen Rundschreiben? Nach Rerum novarum? Nach Quadra^esimo anno?

Genau die gleiche und schmerzliche Frage des Papstes wiederholte sich auf dieser Tagung. Antworten darauf kamen gewiß, aber sie widersprachen sich. Auch Anklagen kamen, i sie warfen nur neue Fragen auf. Nostra culpa? Nostra culpa? Nostra maxima cu|pa? Viele Priester, Priester aus der Vorstadt, Priester aus den industriellen Randgebieten, fragten so. In ihren Notizheften war es zu lesen. In ihren Ganggesprächen war es zu hören. Und sie wollen doch das Beste, diese Priester; sie sind des verzehrenden Fevers und des gerechten Zornes. Sie tun, was sie können.

Ungezählte Male wurden die Methoden und Daten zergliedert für die entscheidende Mission. Eine Flut erneuter Fragen der Priester ergoß sich auf die bereits erfolgreichen Arbeiterseelsorger. In ihrer Mitte and und strahlte ein Belgier, der Prälat Josef Cardijn, der Schöpfer und Träger der kathol:sdien Arbeiterschaft seiner Heimat. Mit Worten und Gebärden, die ein ausgesprochenes Charisma verrieten, zeichnete dieser prachtvolle Mensch und Priester sein Werk, seine Tat, seine Heranschulung von Arbeitf-rn und Arbeiterinnen, großteils von jungen, von sechzehn Jahren aufwärts, zu Aposteln, zu Vorausabteilungen der Kirche mitten hinein in die Fabriken und Magazine, in die Kontors und Mietkasernen der Großstadt und metallenen Landschaft. Er umriß, und es. geschah mit einer uns unvergeßlichen Begeisterung, dieses proletarische Laienaposteltum. Ohne Zweifel, es ist vorwärts gegangen in Belgien. •

Was Cardijn methodisch sagte, war uns nicht neu. Vielleicht war es den jungen Theologen neu. Hatten wir ja schon vor dem ersten Weltkrieg in Österreich eine alle Nationen des alten Staates umfassende und siegreiche katholische Jungarbeiterbewegung. Sie umfaßte bereits 40 000. Sie entsprach den meisten Erfordernissen, die Cardijn aufstellte. Auch hier, in dieser Massenbewegung, war der Priester nur Beirat. Auch hier waren ausschließlich Jungarbeiter als Laienapostel und soziale Pioniere in Führung und Verantwortung. Auch hier war Riesenbegeisterung, der durchschlagende Wille zur religiösen und zur sozialen Tat. Auch hier war der Glaufe, der Glaube, der Berge versetzt].

Und doch scheiterte diese erste katholische Arbeiterjugendbevv'egung“in Österreich. Wohl raubte der Krieg 1914—1918 die Besten.Schon traten aber Auseinandersetzungen und Mißverständnisse vorher auf, die das imposante Werk langsam, aber sicher zerschlugen. Maßgebende Kreise hießen nur das „Präsides-system'l gut, wonach Priester in der katholischen Jugend- und Arbeiterjugendbewegung in allen Fragen, nicht nur in den geistlidien, die ausschließliche Führung hielten Sie drangen auf „Jugendpflege“ gegen „Jugendbewegung“- Dazu stießen vom bürgerlichen Sektor : der christlichsozialen Partei, aber auch kirchlidierseits, scharf Einwände gegen die überhitzte Sozialpolitik dieser Jungarbeiter. Zu voreilig schienen sie mit dem Vogelsangprogramm und der Rerum novarum, wie sie sie verstanden, ernst machen zu wollen. Paulus und Spartakus waren sie in einer Person, diese Jungarbeiter, christliche Revolutionäre, die in beiden Fällen, in der geistlichinneren und in der weltlich-äußeren Befreiung des Arbeiters, sich' gleicherweise auf die Kirche beriefen, dadurch aber die Abwehr der Kirche gegen diese Zurechnung politischer Aktionen erregten, was das tragische Ende bewirkte.

Auch andere bemühten sich redlich um die Heimholung der Arbeiterschaft. So der Stifter der Calasantiner, der im Rufe der Heiligkeit 1929 verstorbene P. Anton Maria Schwartz. Er bildete Arbeiterseelsorger aus. Er schulte Laienapostel aus der Arbeiterwelt. Er baute Arbeiteroratorien. Er baute Erholungsstätten für die Arbeiter. Er baute in einem unbegrenzten „Hoffen auf den Herrn“! Manches gelang. Vieles gelang. Der Durchbruch, die Eroberung der Massen, gelang nicht.

Freilich siegt der Glaube. Cardijn forderte mit Recht diese erste Tugend, dieses Leben aus dem Glauben, das er so wunderbar verkörpert. Glaube und Erfolg müssen aber nicht immer notwendig aneinander gekettet sein. Auch die Kirche erlebt, und . wie oft, ölbergsituationen, Endsituationen auf Golgotha: einen nackt davonlaufenden Apostel, eine verlassene Mutter, einen ohnmächtigen Intellektuellen —, aber kein Volk, keine Masse. Heilige gab es hinwieder, sie predigten, sie stotterten in fremden Sprachen, und Tausende von Heiden und Herzen flogen ihnen zu. Unter uns gibt es Heilige, ganz gewiß. Sie mühen sich. Sie fasten und beten. Das Knie wird zum Dauerwerkzeug ihres Berufes. Und der Er-folg?

Das Wort Gottes findet Grenzen, wie die Wunder des Herrn. Immer erschüttert der Matthäus- und Markus-Bericht (Mt. 13, 58, Mk. 6, 5): Er konnte keine Wunder wirken, der Herr; wegen des Unglaubens konnte er nicht! Ja und Nein, das ist einmal des Menschen, bestimmter Gegenden und Gezeiten. Sie sind aufgeschlossen; oder sie sind es nicht. Das Wort Gottes findet Grenzen. Es pocht immer an diese. Aber die Grenzen öffnen sich nicht immer.

Auch andere Grenzen hemmen die Kirche. Das sind die geschichtlichen Mauern um die Kirche?, ihre gebauten Vorwerke,irdische Befestigungen, im Wandel der Zeit. Das sind wohl unwesentliche, doch alte Begriffe, liebe Vorstellungen, Gewohnheiten, Erinnerungen. Sie sind gut und schön. Aber die Gegenwart ist für die Kirche — in einem anderen Sinne! — immer besser und schöner.

Die österreichische Kirche findet auch ihre Grenzen! Da ist der Unglaube der Massen, der Zerfall der Sitten Eine Grenze der Kirche ist aber auch ihre Geschichte. Gewiß hat sie ihre großen Heiligen; sie hat aber zum Beispiel auch das Erbe der Jose-phiner, ihre halben Staatskanzleien und Riesenpfarren. Sie hat ihre wunderbaren Stifte, aber auch ihren Grundbesitz. Noch lebt eine „josephinische“ und eine „feudale“ Kirche. Aber nicht lange. In vorschauender Erkenntnis zerschnitten di. österreichischen 'Bischöfe die Riesenpfarren, und die österreiphischen Äbte zerschneiden den überschüssigen Großgrundbesitz. Die Kirche verliert Geld; aber sie gewinnt Seelen, Arbeiterseelen.

Auch gab es eine „bürgerliche“ Kirche, eine „bürgerliche“ Theologie. Wohl paradox klingt der Hinweis heute, daß noch vor 70, 80 Jahren der liberale Vorwurf galt: die Kirche denke hausbacken und hemme die Wirtschaft, sie sei „wirtschaftsfeindlich“, „antikapitalistisch“. Dagegen mußten Theologen beweisen, daß die Kirche ein offenes System sei und Freiheit und Fortschritt in der Wirtschaft begrüße. Nun wirkten aber diese damals zeitnahen Begrüßungsformeln bis in unsere Tage hinein — nunmehr zeitwidrig fort! Und sie hemmten die Kirche, die Arbeiterseelsorge. Sie hemmen sie ortsweise noch.

Ideologie und Wirklichkeit ist aber heute nicht mehr die des 19. Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert ist zur Hälfte nicht mehr „bürgerlich“. Es ist zur Hallte „proletarisch“! Auch die Kirche, die im }9. Jahrhundert „bürgerlich“ sein mußte, kann es heute nicht mehr im gleichen Ausmaß sein. In der Tat, schon beginnt die bürgerliche Theologie, die bürgerliche Moraltheologie, die Anpassung des Evangeliums an die klassische Nationalökonomie, an die Freiwirtschaft, Literatur zu werden. In großen Schritten nähert sich die Kirche der neuen Ideologie, der neuen Wirklichkeit, der Welt des Arbeiters. Rerum novarum begann damit!

Der liberale Vorwurf ist heute überholt.Ein anderer herrscht und behauptet das Gegenteil: die Kirche sei „kapitalismusfreundlich“, auch deshalb „sozialismusfeindlich“! Wieder mußten Theologen apologetisch eingreifen. Glücklicherweise wußten sie sehr bald zu unterscheiden zwischen Sozialismus als Weltanschauung und Sozialismus als Planwirtschaft.

Die ersten, die so sahen und eine „sozialistische“ Theologie begründeten, waren Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteier, Prälat Franz Hitze, Pfarrer Wilhelm Ho-hoff. In .Österreich — die. unvergeßlichen Monsignori August Schaurhofer und P. J. Gasser. Ihnen folgen heute viele andere. Analog dem Verfahren der Kirche zur Konkurrenzwirtschaft von gestern, entbinden sie das Verfahren der Kirche zur Kommandowirtschaft von heute. Unterstrichen gestern katholische Theologen und Soziologen dem Kapitalismus gegenüber die naturrechtliche, die soziale Gebundenheit des Menschen, unterstreichen heute Theologen und Soziologen dem Sozialismus gegenüber die naturrechtliche, die geistige und sittliche Freiheit der Persönlichkeit des einzelnen. In beiden Fällen standen und stehen diese Priester und Forscher offensichtlich mit beiden Füßen in der sozialen Wirklichkeit — ohne sie anzubeten! Ihr Beginnen war. und ist, ein echt christliches: die Umsetzung des ewigen Sittengesetzes aus einer alten in eine neue Hülse der Gesellschaftswirtschaft. Das ist aber gerade das Anliegen der Arbeiterseelsorge.

Und noch eine Grenze hatte die österreichische Kirche, die fast eine territoriale zu werden drohte, nämlich die politische, den jahrzehntelangen Gleichschritt von Kirche und Partei. Diese äußere Erscheinung macht .es möglich, die Kirche als Paravent der besitzenden Klassen hinzustellen.

Auch diese Grenze der Kirche, dieses Hemmnis der Arbeiterseelsorge, fiel. Es fiel, als Pius XI, den Kirchenstaat liquidiene. Damit war das erste 'Signal gegeben für eine Trennung von Kirche und Politik. Dem obersten Beispiel folgte alsbald dir Episkopat der Welt, 1933 auch Österreich. Heute ''st die österreichische- Kirche geradezu übereifrig auf diese Trennung bedacht. Nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre weiß sie ffcdringlicher denn je, daß der Geist der ^Fche ein heiliger ist, der Pfingstgeist, der mit keinem Zeitgeist,mit keinem hieraus entspringenden Sozialsystem, sich verbünden oder verbinden darf.

Die Mauern zwischen Kirche und Ar beiterschaft, alte Vorstellungen und Vorurteile, bisher das größte Hemmnis der Arbeiterseelsorge, fallen. “Die Kirche entäußert sich. Ganz will sie einverleibt sein dem Lebensstand der Entleerung, der Klei-derlosigkeit des Herrn am Kreuz. Thron und Altar, Kirche und Partei, diese Bündnisse, die den Anschein erwecken durften, als ob die Kirche des Adels oder des Bürgers, soziologischer Hilfsfiguren, politischer Hilfstruppen wirklich bedürfe, sind gewesen. Die Tore für die Arbeiterschaft sind aufgerissen. Die Kirche bereitet sich vor, Mutter der Massen zu .werden. Die Seelsorgetagung war ein gewaltiger Schritt auf diesem Wege.

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