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Ausblicke und Aussichten

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Gedankliche Gegenpole, wie Individualismus und Kollektivismus, Spiritualismus und Materialismus, sind keine konkreten Erscheinungen, sondern gedankliche Begriffe, die stärker oder schwächer das tatsächliche Leben beeinflussen. Dazu bemerken wir heute, daß das geistige Leben sich nicht in erster Linie in Parteien abspielt, die von wohlgebauten Mauern und Zäunen in Auffassung, Meinungsäußerung, Lehrmeinung und Entschiedenheit umgeben sind Denn in den letzten Jahren ist eine viel zu weLgehende Umformung der äußeren Bindungen und geistigen Verhältnissen vor sich gegangen. Dort, wo Grenzen zu sein schienen, wurden sie mit einer Selbstverständlichkeit ausgelöscht und durch die Zeit abgetan erklärt, was noch vor Jahrzehnten als fürchterliches Vergehen betrachtet worden wäre.

Gerade an der Entwicklung im Westen ist dies am deutlichsten zu erkennen. Fast während des ganzen 19. Jahrhunderts hatten sich die katholischen Kreise Frankreichs nach rechts gewandt und dort ihre Sicherheit und ihren Bestand gesucht. Ihre Stellungnahme war nicht glücklich und mit dem Rechtskurs, dessen Bastionen immer mehr abbröckelten, verfiel auch ihr äußerlicher Bestand innerhalb des Staates, der schließlich bis zur letzten Expropriation der Kirche führte. Jene Kreise, welche sich noch immer nicht trennen konnten von der Trauer um die Vergangenheit, kamen schließlich mit dem Zusammenbrechen der rechtsradikalen action francaise um.

In dieser Auseinandersetzung konnten die sozial eingestellten Katholiken nicht als Partei, sondern als Gesinnungsrichtung eine neue Entwicklung bestimmen. Durch ihr Bekenntnis zu den Richtlinien der Päpste Ton Leo XIII. an hatten sie eine Versöhnung mit der Republik angebahnt und damit den Weg der Gesellschaftserneuerung beschritten. Dies war aber nur möglich, weil sich diese Kreise nicht einem Doktrinarismus verschrieben, sondern in der Sorge um den Menschen zusammenfanden und um diesen vor allem sich bemühten. Die Grundlage hiezu bildete das christliche Glaubensbekenntnis, von dem aus man die gesamte Lebenswirklichkeit zu erfassen versuchte. Dieses Bestreben geht den Bedürfnissen des Menschen und der Zeit entgegen und faßt die Probleme dort an, wo sie brennen und der Lösung bedürfen. Denn heute ist der Mensch in seinem Dasein und in seiner Existenz in Gefahr und es ist notwendig, ihn in dieser zu helfen. Es gilt zu retten, daß der Mensch wieder Boden unter seine Füße bekommt und stehen kann. Dann erst vermag sich ein neues Gemeinschafts- und Verantwortlichkeitsgefühl zu entwickeln, das den neuen Menschen schafft.

Das Streben, aus dem alten Geleise herauszukommen und der neuen geistigen Situation gerechter zu werden, zeigt sich ebenso in deutlicher Weise in den Erklärungen und der Linie eines Sozialismus, wie er in der Persönlichkeit Leon Blums zu Worte kommt. Er verfolgt die Tendenz, sich in eine hohe Menschenlehre und in ein Kunstverfahren umzuwandeln, ohne sich theoretisch über die Natur des Menschen auszusprechen oder selbst ausdrücklich an eine geistige Auffassung von der Welt anzuknüpfen. Er trachtet nur danach,.die soziale Organisation in ihren rechtlichen Normen und in ihren Institutionen zu ändern. Die Absicht dabei ist, ein gewisses Ideal der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Würde nicht ein solcher Sozialismus, der einer solchen Entwicklung entgegengeht und auf eine Befriedung der Menschheit hinzielt, viel wahrer sein, wenn er die Idee der Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt? Leon Blum schreibt in seinem, während der Gefangenschaft vorbereiteten Buch:

„Der Sozialismus im ganzen ist keineswegs eine Religion, da er weder Dogmen noch Ritep noch Priestertum hat: aber er ruft und kann das religiöse Bedürfnis befriedigen, da er eine Weisheit und eine Tugend lehrt, da er das Gewissen an die Skrupel gewöhnt, da er in dem einem Individuum übergeordneten Ideal die Triebfeder und die Belohnung der persönlichen Handlungen zu finden lehrt und da die Form der Beistimmung, die er erniet, das Opfer gestattet und einem Glauben gleicht.“ („A l'echelle humaine“, Paris 1945.)

Es ist immerhin möglich, solche Worte, und wie sich auch aus den letzten Reden des Führers des französischen Sozialismus ergibt, daß sie, ohne gepreßt zu werden, in positiver Weise ausgelegt werden können, und man darüber eine Diskussion einzugehen vermag. Eine menschliche Mystik verliert nichts von ihrer Kraft und von ihrer Wahrheit, wenn sie auf einem theologischen Gebiet Positionen preisgibt, wofür sie sich selbst als nicht zuständig erklärt. Vielmehr findet sie dann zu ihrer eigent'ichen Inspiration zurück, in dem sie wieder an eine spiritualistische Auffassung anknüpft, in welcher das Ideal der Gerechtigkeit, wel hes sie aufrechterhält, seinen ganzen Wert erhält. Sicherlich würde die Haltung angesichts eines Verfahrens ökonomischer und sozialer Organisation nicht mehr das sein, was sie gezwungenermaßen gegenüber einer Philosophie wäre, während Thesen dem Glauben entgegenstehen. Eine andere Stimme, die sich in Österreich zu dieser Frage erhob, ist die des österreichischen Bundespräsidenten Dr. Karl Renner, der feststellt: „Ein wirklicher Marxist ist derjenige, welcher die Grundwahrheit seiner Lehrjahre nicht ewig wiederholt und in Zitaten von gestern und ehegestern schwelgt, sondern wer das Hier und Heute, das Wo und Wie des Tages mit scharfem Auge empirisch erfaßt und aktiv zu meistern versucht.“ („Die neue Welt und der Sozialismus“, Salzburg 1946, Seite 17.)

Der Staat selbst ist, wie Dr. Renner darlegt, ein anderer geworden: „Endlich, so hoffe ich, hat die Arbeiterklasse das ererbte Übel der Staatsnegation überwunden, endlich begriffen, daß der Staat durch die geschilderte Sozialisierung des variablen Kapitals ein wesentliches Stück des individuellen Lebens jedes Arbeiters geworden ist. Damit der Staat hiezu befähigt werde, ist die demokratische Gemeinschaft aller .Werktätigen' herzustellen, unerlässig, die den Staat erobert und beherrscht.“ (Seite 40.)

Als Weg hiezu verweist er als den einzigen die demokratische Zusammen- und Aufbauarbeit, unter Ablehnung jeglicher Diktatur. Gerade diese lehnt er ab als einen „Ausweg, der beklagenswert wäre und der nach den Erfahrungen, die die Welt mit allen Spielarten der Diktatur gemacht hat, kaum von Menschen gesunden Sinnes und der heutigen Verhältnisse als einziger oder als nächster und bester Weg mehr vertreten werden dürfte, sondern höchstens als ein Verhängnis, das Starrsinn der Herrschenden oder Unverstand und Schwäche der Beherrschten leider über ein Volk zu bringen imstande ist.“ (Seite 40/41.)

Gegenüber diesen großen Linien und weiten Zielsetzungen stehen heute noch die Realitäten der Parteien, die immer wieder in knappen Zielpunkten ihre Politik ansetzen. Der Arbeit der französischen Katholiken,die sich zum Großteil in der MRP zusammenfanden, wird es durch die Tagesereignisse und augenblicklichen Erfordernisse fast notwendigerweise aufgezwungen, sich nach links abzugrenzen und verlorene Stimmen von rechts wieder herzuholen und zu gewinnen. Leon Blum hatte auf dem Anfang September abgehaltenen Parteitag der sozialistischen Partei mit Schwierigkeiten zu kämpfen und er vermochte nur mit Mühe seine Stellung zu behaupten. Es hat den Anschein, als ob die Parteien gegenüber neuen Ideen und Versuchen sich weniger weitsichtig erweisen. Es zeigt sich nämlich damit, daß diese Gedanken wohl sehr lebendig, aber noch nicht ganz klar und eindeutig sind. Sie sind aber einmal ausgesprochen und stehen zur Diskussion.

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