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Digital In Arbeit

Parteihymne mit falscher Prämisse

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„Salz der Gesellschaft“ -ein Buch von Norbert Leser über Österreichs Sozialismus. Im Kapitel über Kirche und Sozialdemokratie geht es auch um den „Faktor“ Arbeit.

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„Salz der Gesellschaft“ -ein Buch von Norbert Leser über Österreichs Sozialismus. Im Kapitel über Kirche und Sozialdemokratie geht es auch um den „Faktor“ Arbeit.

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Eine realistische Reformperspektive, wie sie die Sozialdemokratie nach wie vor vertreten muß, wo sie finanziell und gesamtpolitisch vertretbar ist, kann sich in vieler Beziehung mit der katholischen Soziallehre berühren und mit katholischen Kräften verbünden. Eine solche Bündnispolitik, nicht nur im praktischen Bereich der Koalition, sondern auch im ideellen, ist jedenfalls erfolgversprechender als die Verwischung der Grenzen gegenüber dem Kommunismus, die an den linken Rändern feststellbar ist, und eine anarchistische Koketterie mit Kräften der Destruktion und Subversion. In einem Falle wird die liberale Substanz der Sozialdemokratie, im anderen Falle ihre Rolle als Ordnungsfaktor angetastet.

Der österreichische Sozialismus hat sich in der Zweiten Republik von der unfruchtbaren Oppositionshaltung, die die Erste überschattete, losgerissen und sich zu einer staatserhaltenden Kraft entwickelt. Zur Wahrnehmung dieser Rolle gehört aber auch die Anerkennung der Tatsache, daß der Staat ein ordnender und stabilisierender Faktor ist und daß anarchistische Tendenzen daher nicht nur konservativen politischen Kräften, sondern auch der Sozialdemokratie schaden. Im übrigen ist auch die Sozialdemokratie, wie jede erfolgreiche politische Kraft, konservativ geworden, auch wenn sich Tendenzen und Gruppen in ihr anarchistische Seitensprünge und Koketterien leisten.

Dieses Konservativsein ist ein Nachteil, wenn es bedeutet, die eigenen Traditionen für sakrosankt zu erklären, statt ihre Zeitgemäßheit zu überprüfen. Sie ist aber dann ein Vorteil, wenn man begreift, daß es die primäre Aufgabe des Staates ist, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten und daß partizipatorische und eman-zipatorische Bestrebungen, die die Linke für das Um und Auf der Politik hält, demgegenüber nur Schübe und historische Einlagen, nicht aber das konstante Hauptthema bilden.

Wenn die katholische Kirche und die katholische Soziallehre stets den Wert von Ordnung und Autorität betont haben, treffen sie sich mit der realen gesellschaftlichen Entwicklung, an der auch die Sozialdemokratie nicht vorbeikommt, wenn sie gestaltende Kraft bleiben und nicht von anderen Kräften hinweggefegt werden will.

Umgekehrt sollen sowohl der demokratische Sozialismus als auch die katholischen Kräfte, die hiefür durch das Subsidiaritäts-prinzip bestens gerüstet sind, zunehmend dem Aberglauben entsagen, daß nur der Staat in der Lage ist, gesellschaftlich relevante Aufgaben zu erfüllen. Die gesellschaftlichen Kräfte sind vielmehr im Regelfall berufen, das, was sie aus eigener Kraft beitragen können, auch tatsächlich beizusteuern und nicht von vornherein die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen oder sich auf sie zu verlassen.

Die beiden Prozesse der bewußten Anerkennung der staatlichen Autorität in den Bereichen, in denen sie legitim schaltet und regiert, und der Abdankung des Staates dort, wo die freie gesellschaftliche Initiative Besseres und Wirksameres zu leisten vermag, widersprechen einander nicht, sondern sind komplementäre und ergänzende Prozesse, die beide Wurzeln sowohl in der Gedankenwelt der katholischen Soziallehre als auch eines freiheitlichen Sozialismus haben.

Ein weiteres wichtiges Problem, das die Berührungspunkte, aber auch die schwerwiegenden Differenzen zwischen der stark vom Marxismus geprägten sozialistischen Doktrin und der christlichen Lehre und Soziallehre illustriert und die Überlegenheit der christlichen Schau der Dinge demonstriert, ist das der Wertung und Einschätzung der menschlichen Arbeit. Dieses Problem hat sowohl eine philosophisch-anthropologische als auch eine praktisch-gesellschaftspolitische Dimension. Es läßt sich zeigen, daß gewissen gesellschaftspolitischen Forderungen und Zielsetzungen philosophisch-anthropologische Prämissen zugrundeliegen und daß umgekehrt aus bestimmten Prämissen bestimmte Schlußfolgerungen entspringen.

Der Faktor Arbeit

Im Fall der Richtigkeit von Prämisse und Schlußfolgerung ist diese wechselseitige Abhängigkeit und Abstützung von Theorie und Praxis nicht weiter bedenklich, sondern im Interesse der Sache durchaus vorteilhaft. Sind allerdings die ontologischen Prämissen falsch oder unvollständig, so trägt der Rekurs auf sie dazu bei, in einer fragwürdigen Praxis zu verharren.

Diese allgemeinen Überlegungen treffen gerade für das gewählte Beispiel der Einschätzung der Arbeit zu. Denn in diesem Falle ist es eine dem Marxismus und Materialismus entlehnte Prämisse, die eine gesellschaftspolitische Haltung und Stoßrichtung nach sich zieht. Diese Prämisse kommt in der ersten Strophe des „Liedes der Arbeit“, der Parteihymne der österreichischen Sozialdemokratie, die seit einem Jahrhundert von ungezählten Menschen gesungen wurde und wird, zum Ausdruck, die da lautet: „Stimmt an das Lied der hohen Braut, die schon dem Menschen angetraut, eh er selbst Mensch ward noch. Was sein ist auf dem Erdenrund, entsprang aus diesem treuen Bund. Die Arbeit hoch, die Arbeit hoch!“

Dieses 1868 von Josef Scheu komponierte Lied verdankt seinen Text einem einfachen Arbeiter namens Josef Zapf, der mit seinen Worten das wiedergab und verklärte, was ihm an Aufklärung und Bildungsgut vermittelt wurde. So deutet die poetische Wendung von der Arbeit, die dem Menschen noch vor seiner Menschwerdung angetraut worden sei, auf den materiellen Evolutionismus und Darwinismus hin, der noch in der Arbeiterbewegung der damaligen Zeit vorherrschend war und der etwa von Friedrich Engels in seiner kleinen Schrift „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ mit wissenschaftlicher Autorität versehen wurde. Diese Erklärung läuft darauf hinaus, die Menschwerdung aus dem Gebrauch der Werkzeuge durch die tierischen Vorfahren des Menschen abzuleiten, der plötzlich einen Qualitätssprung erfahren habe und von einer bloß mechanischen Tätigkeit zu einer bewußten Planung, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, geworden sei.

Der Materialismus ist ja aufgrund seiner Prämisse, daß es nichts als die Materie gibt und daß die Welt, wie Engels behauptete, „aus sich selbst“ und nicht aus übernatürlichen Ursachen zu erklären ist, gezwungen, alle Qualitätsunterschiede auf Quantitätsunterschiede zurückzuführen und zu reduzieren und anzunehmen, daß an einem bestimmten Punkt der Entwicklung die Quantität in die Qualität umschlägt.

Wenn der Mensch der Arbeit seine Menschwerdung verdankt, liegt der Schluß nahe, daß er auch nur dann und in dem Maß Mensch werden und bleiben kann, in dem er sich an die Arbeit klammert und sich in ihr und durch sie verwirklicht. Daraus folgt gesellschaftspolitisch, daß die Erhaltung der Vollbeschäftigung und das Recht auf die Arbeit die vorrangigsten gesellschaftspolitischen Ziele sind, hinter denen alle anderen Ziele und Werte zurückzustehen haben.

Nun lehrt aber die Erfahrung gerade der letzten Jahre und gerade in Österreich, daß sich die Politik, die sich auf die unbedingte Erhaltung aller Arbeitsplätze konzentriert, in eine Sackgasse manövriert hat und schrittweise aufgegeben werden muß...

Diese konkrete Erfahrung sollte für den Sozialismus ein Anlaß sein, auch seine traditionelle Anthropologie neu zu überdenken und von der These der Erstrangigkeit des Arbeitsproblems, dem alle anderen gesellschaftlichen Ziele unterzuordnen sind, abzurücken.

Demgegenüber nimmt auch in der christlichen Soziallehre und Philosophie die Arbeit einen hohen Rang ein, und gerade der gegenwärtige Papst hat diesen Rang in seiner Enzyklika „Laborem ex-ercens“ und in anderen lehramtlichen Äußerungen bestätigt und gegen andere Positionen in Schutz genommen. Doch in der christlichen Anthropologie ist die Arbeit nicht der Faktor, dem der Mensch seine Entstehung und Würde verdankt, es kann daher auch ein Leben ohne Arbeit im physischen Sinn, so das von strengen Eremiten und Bettlern, geben, ohne daß der Mensch seine Würde und Existenzberechtigung einbüßt.

Relativierter Auftrag

Die Arbeit ist im christlichen Sinne Erfüllung eines Schöpfungsauftrages, der aber durch andere Aufträge, so die zum Gebet, relativiert ist und überdies auch eine im Schatten der Erbsünde stehende negative Seite hat...

Der übermäßige sozialistische Optimismus in bezug auf die Möglichkeiten und Wirkungen der Arbeit wird in der christlichen Schau der Dinge so weit gedämpft, daß zwar noch immer genug an Wertschätzung übrigbleibt, auf der anderen Seite aber einer gesellschaftspolitischen Relativierung des Arbeitsfaktors und des Postulates der Arbeit als Gipfel der Gesellschaftspolitik, wie sie sich von den Sachnotwendigkeiten her aufdrängt, eine ontologische Stützung gegeben wird.

Der Beitrag ist ein gekürzter Vorabdruck aus: SALZ DER GESELLSCHAFT. Von Norbert Leser, Verlag Orac, Wien 1988, öS 385,-

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