6727452-1965_37_13.jpg
Digital In Arbeit

Im Schlamm-Meer der Ideologien

Werbung
Werbung
Werbung

In dem Schlamm-Meer der Ideologien, das sich zwischen Rom und Moskau ausbreitet, gibt es keine willkürlich gewählten Haltepunkte. Allen Ideologien, die seit der Aufklärung und der französischen Revolution spürbar geworden sind, haben eines gemeinsam: Sie sind Versuche, für die Religion „Ersatz“ zu liefern. Sie sind für eine Welt bestimmt, von der Karl Jaspers behauptet, daß zahllose Menschen eine Möglichkeit, zu glauben, nicht mehr sehen. Der Existenzialismus hat das Experiment der Synthese aus Marxismus und Existenzialismus versucht. Moskau hat dieses Experiment zurückgewiesen. Moskau braucht keinen Reiigionsersatz. Der bürgerliche Materialismus kämpft verzweifelt, aber ohne Hoffnung darum. Der demokratische Sozialismus glaubt im Grunde ohne ihn auszukommen.

An diesem Punkt der Überlegungen muß wohl die zweite These mit in die Polemik einbezogen werden: Was bedeutet der Versuch des Liberalismus und des Sozialismus, den Glauben zu neutralisieren und als Kriterium der Entscheidungen aus dem öffentlichen Leben zu entfernen? Letzten Endes handelt es sich dabei um den bewußten Verzicht auf die klassische und christliche Metaphysik. Dieser Verzicht ist zweifellos die Hochwassermarke der nationalen und sozialen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Ergebnis dessen sollte sein:

Eine Politik ohne göttliches Recht Eine Religion ohne Mysterium. Eine Moral ohne Dogmen.

Dieser Aufstand hat das Bild des Menschen bis zur Unkenntlichkeit zerfasert. Mitten unter hypermodernen Maschinen lebt ein Mensch, der mit Staunen zu den Bildern des

abendländischen Menschen aufblickt, die klassische und die christliche Metaphysik geformt haben: das Bild des olympischen Gottes und das Bild des christlichen Heiligen.

Staatsbürger mit Leib und Seele

Der immer wieder und leidenschaftlich ausgestoßene Einwand: Ich kann keinen christlichen Politiker erkennen, das Politische hat mit der Christianität nichts zu tun, eine politische Bewegung mit christlichen Grundsätzen ist undenkbar, hat in den meisten Fällen eine Treibkraft: den verzweifelten Widerstand gegen die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Leben. Aber der Mensch ist Staatsbürger mit Leib und Seele; er ist immer zugleich Angehöriger seiner Familie, seiner Kirche, seines Volkes, seines Berufsstandes. So wie es keine wirkliche und vollständige Trennung von Kirche und Staat geben kann, ebensowenig kann der Mensch nur Staatsbürger, nur Angehöriger seiner Kirche, nur Angehöriger seines Berufsstandes sein.

Die Programme der nationalen und sozialen Revolutionen haben alle nur einen „zerstückelten Menschen“ für sich reklamiert und daraus in ihren Fabriken des neuen Menschen ein Bild des neuen Menschen formen wollen. Der Mensch sollte nicht mehr sein als ein Teil seiner Nation: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Oder: Das Recht hat, wie der Staat stets Klassencharakter, und der einzelne existiert in seiner Klasse und nur darin.

Die Präsenz des Christlichen im öffentlichen Leben bedeutet dagegen: die Existenz von Menschen, denen der Staat bewußt die Möglichkeit gibt, als Christen und Staatsbürger an dem allgemeinen Wohlstand und der allgemeinen Wohlfahrt teilzunehmen. In diesem Sinn habe ich 1961/62 ein Grundsatzprogramm entworfen, das jedem Leben Sinn und Ziel in der Gesellschaftsordnung von heute verschaffen soll. Dieses Programm ist weniger auf eine politische Partei als auf den Menschen abgestellt, dessen Existenz und Bild erfaßt werden soll.

Polltisches Credo

Nach drei Jahrhunderten der Aufklärung und der Revolution lautet nach meiner Überzeugung das politische Credo des Christen folgendermaßen:

• Ich glaube an eine ewige Seligkeit.

• Ich glaube an eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens in dieser Welt auf Grund der christlichen Gebote. Wer so glaubt, trifft ernste und folgenschwere Entscheidungen.

• Er stellt sich in einen bewußten Widerspruch zum Materialismus der bürgerlichen und sozialistischen Daseinsordnung.

• Er verzichtet auf die Verheißungen des Paradieses auf Erden, das abwechselnd von rechts und links offeriert wird.

• Er entschließt sich zu einer politischen Aktion auf Grund christlicher Gebote.

Ein solcher Mensch glaubt an die aktuelle Notwendigkeit und Bedeutung der christlichen Soziallehre, so wie sie in der Ära von Leo XIII., bis zu Johannes XXIII. mitten in der Welt der Moderne entstanden ist. Diese Lehre enthält ein Gesetz der Aktion, das die Schwachen, die Mittellosen, die ins Unrecht Gesetzten angeht.

100 Jahre lang hat für die politische Linke die Ausgangslage des Marxismus gegolten, die Interessenlage der verelendeten Arbeiterklasse, der Ideengehalt eines Materialismus, dessen Klimax der Atheismus ist.

Heute will die Linke mit aller Macht von der Ausgangslage des Marxismus möglichst weit weg kommen; in einer Welt, in der die Zahl der Arbeiter sinkt und die der Angestellten steigt, äst die Arbeiterfrage nicht mehr der Generator des politischen Machtpotentials der Linken. (Seit 1964 gibt es zum Beispiel in Wien mehr Angestellte als Arbeiter.) Der Materialismus aber wird aus der Richtung erschüttert, aus der er die stärkste Verfestigung seines „Ewigkeitswertes“ erhofft hat: durch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften.

Der Sozialismus sucht daher eine neue Existenzgrundlage und ein neues Programm seiner Aktion: Statt Marxismus Humanismus, statt Klassenkampf soziale Partnerschaft, statt Atheismus religiös-weltanschauliche Toleranz.

Für den Christen besteht kein Anlaß dazu, in diese Übersiedlungsbewegung zu übersiedeln. In einer klassenlosen Volkspartei wird er die Wesenszüge eines christlichen Humanismus, die Idee der sozialen Partnerschaft in den Beziehungen des echten Pluralismus und den religiös-weltanschaulichen Halt inmitten des Schlamm-Meeres der Ideologien finden können.

Die Realität des Daseins

Die Realität des Daseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Utopie der „besten und endgültigen Gesellschaftsordnung“ widerlegt. Eine erneute christliche Volksbewegung wird nicht aufs neue den Popanz eines wirklichkeitswidrigen gesellschaftspolitischen Perfektionismus aufhängen. Sie wird auf seiten der Schwächeren, Mittellosen, ins Unrecht Gesetzten stehen. Sie wird einem Jahrhundert, das alles, am wenigsten aber christlich gewesen ist, eine Ende bereiten — wenn sie dazu entschlossen ist.

Wenn Goethe den Konflikt de3 Unglaubens mit dem Glauben als das „eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschheitsgeschichte“ bezeichnet, dann besitzt dieses Motiv des Lebens in der Tat in unserer Zeit eine ungeheure Dynamik. Ohne eine solche Dynamik aber gibt es keine echte politische Aktivität. Die zuweilen im österreichischen Koalitionskrieg auftretende hektische Aufgeregtheit sollte damit nicht verwechselt werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung