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Das sittliche Problem der Macht

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Seit mehr als einem Menschenalter steigert sich das Ringen um die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gestaltung der Welt von einem dramatischen Höhepunkt zum anderen. Der Wille zur Macht, die Notwendigkeit, sie um jeden Preis zu behaupten, kennt auch vor den Grundgesetzen aller menschlichen Gemeinschaftsordnung kein Halten. Als Sieger und Besiegte, als • Schuldige und Unschuldige müssen die Menschen unserer Zeit erleben, wie die Werte der Sittlichkeit und der Freiheit, ja selbst der Wahrheit von den kämpfenden Gewalten in ihrem Sinne um- - gebogen oder einfach beiseitegeschoben werden.

Dieser Gefahr will das Buch des bekannten Freiburger Historikers Gerhard Ritter: „D as sittliche Problem der Macht“ (Francke, Bern 1948) entgegentreten. Tiefen Eindruck hat seinerzeit die Kühnheit hinterlassen, mit der 1940 der Verfasser in seinem Werke „Machtstaat und Utopie“ die Dämonie der Macht zu enthüllen wagte, und folgerichtig hat seine aufrechte Haltung den gläubigen Protestanten und unbestechlichen Forscher in den Kerker geführt, aus dem ihn erst das Kriegsende befreite. So zeigen auch die fünf Essays aus den Jahren 1937 bis 1947, die in dem vorliegenden Band zusammengefaßt sind, eine klare, durch keine Zugeständnisse an die wechselnden Situationen verwischte Linie der „Neubesinnung auf die elementarsten Grundlagen der abendländischen Gesittung“.

Drei Hauptthemen bilden den Gehalt des Werkes: die Spannung von Machtkampf und politischer Ethik, die Begründung der politischen Freiheit in der religiösen Freiheit und die Behauptung der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit gegen tagespolitische Tendenzhistorie. Sie berühren sich in dem Gedanken der Wahrung sittlich-religiöser und wissenschaftlicher Gesinnungswerte gegen den Ansturm ausschließlicher Macht- und Erfolgsverherrlichung.

Die Idee der politischen Ethik beruht für Ritter auf der Verantwortung des politischen Kämpfertum vor einem Richterstuhl oberhalb der kämpfenden irdischen Gewalten, vor Gott oder dem Gewissen, das nicht gebunden ist an die Gemeinschaft der Polis. Erst mit dem Christentum konnte sich — nach einigen Vorläufern in der heidnischen Antike — dieser Gedanke durchsetzen. Damit aber öffnete sich die Kluft zwischen dem sittlichen Bewußtsein und den harten Notwendigkeiten des Machtkampfes. Der civitas Dei steht die civitas mundi nur als Notgemeinschaft gegenüber, die politischen Verbände haben nur insofern Berechtigung, als sie Frieden und Ordnung wahren. Im Mittelalter mildert sich der scharfe augustinische Gegensatz, stets jedoch bleibt die erste Pflicht des Herrschers die Verteidigung des christlichen Glaubens, Wahrung des Landfriedens und Schutz des Rechtes. Am Ausgang des Mittelalters zerbricht die abendländische Völkerfamilie in eine An zahl souveräner, kämpferischer Machtstaaten, und die vorher nicht vorhandenen oder ideologisch verdeckten Gegensätze treten schroff zutage. Die Antinomie von Politik und Ethik wird offenbar: keine sittliche Friedensordnung ist ohne gesicherten materiellen Machtbesitz, keine Macht ist ohne beständigen Kampf möglich — aber die Notwendigkeit des Kampfes kann zur Durchbrechung desselben Moralgebotes zwingen, das ebenso Grundlage jeder Friedensordnung wie göttlicher Wille und Stimme des Gewissens ist.

Aus dieser Situation sollten ein rationales und ein religiöses Lösungspaar von unabsehbarer Wirkung entspringen: der Machtstaatsgedanke Machiavellis und die Idee des sozialen Kulturstaates bei Thomas Morus, die Passivität des Luthertums gegenüber der weltlichen Macht und der politische Aktivis- mus des puritanischen Glaubenskämpfer- tums.

Das Denken Machiavellis ist ebenso wie das des Engländers nach rationaler Zweckmäßigkeit orientiert. Während aber der Italiener unter dem Zwang der Lage des kontinentalen Staates alles vom Gesichtspunkt unmittelbarer kämpferischer Einsatzbereitschaft beurteilt, kann das Inselreich

Utopia sittliche Vernunft und Staatsklug- hei durch weitblickende Einsicht in das wahre Wohl des Volkes zu versöhnen suchen. Tiefer noch ist der Gegensatz lutherischer und kalvinistischer Religiosität. Ähnlich wie Machiavelli ist Luther von der Verderbnis des menschlichen Wesens und von der Unmöglichkeit überzeugt, in dieser Welt der Selbstsucht ein Reich des Friedens zu errichten. Im Kampf des Christen — auch des christlichen Fürsten — gegen das Unrecht besteht keine Siegeshoffnung und so bleibt für den Gläubigen nur die Flucht in die religiöse Innerlichkeit und der Untcr- tanengehoream. Dagegen kennt der puritanische Kalvinist ein christliches Staatsideal, das er als Herrschaft Gottes auch mit Waffengewalt durchzusetzen bereit ist.

Aus der Verbindung dieser Elemente entstehen die Geisteswelten der großen Gegner in den beiden Weltkriegen: auf der einen Seite erwächst aus der machiavellistischen Praxis des festländischen Machtstaates und der lutheranischen Untertanenfrömmigkeit ein Ethos des Gehorsams gegen die cäsaro-

papistisdie Obrigkeit, auf der anderen verschmilzt die moralische, manchmal freilich moralistische Staatsidee des Thomas Morus mit dem puritanischen Tatwillen zur Kampfbereitschaft für christlich-humanitäre, freiheitliche Grundsätze.

Der Auflehnung gegen den Cäsaropapismus mit seinem oft willkürlichen Eingreifen weltlicher Machthaber in Fragen des christ- Echen Gewissens und des ewigen Heiles entstammt letztlich auch die liberale Freiheitsidee, so großen Anteil an ihrer Verbreitung die Sicherung adelig-bürgerlicher Privilegien gegen den Absolutismus gehabt haben mag. Doch schon in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung wird der Freiheitsgedanke zugunsten privater Wirtschaftsinitiative und irdischer Wohlfahrt verweltlicht und in der Französischen Revolution völlig umgekehrt. Nicht die Beschränkung der Staatsmacht durch historisches Recht und göttliches Gebot, sondern ihre äußerste Erweiterung ist das Ergebnis. In der atheistischen Demokratie wird der Volkswille zum absoluten, niemand verantwortlichen Souverän. „Je mehr der Glaube ah den christlichen Gott in den Massen abstirbt, um so leichter wird es, dem (machtpolitischen) Enthusiasmus religiöse Färbung und Weihe zu geben. Schließlich kann die Nation selbst an die Stelle Gottes rücken.“

Daß der liberale Freiheitsgedanke mehr war als die Verteidigung materieller Stan- desinteressen, wurde besonders im 19. Jahrhundert klar. Erst als Historismus und Relativismus seinen geistigen und sittlichen Kem zersetzten, schien nichts übrig zu bleiben als ein Schlagwort zur Deckung träger Selbstsucht der Besitzenden und spekulativer Gewinne. Heute aber ist die Freiheitsidee als beherrschendes Prinzip gesellschaftlich-staatlicher Ordnung nicht nur durch die innere Aushöhlung der Werte, sondern auch durch den Druck sozialer Probleme in Frage gestellt. Im rationalisierten Arbeitsprozeß der modernen Industriegesellschaft bleibt dem einzelnen nur mehr wenig Spielraum, das Monopol löst die freie Konkurrenz ab und staatliche Fürsorge im Sinne sozialer Gerechtigkeit ist nach den beiden Weltkriegen nötiger denn je. So sieht Ritter die heutige Aufgabe nicht in der Wiederherstellung der Freiwirtschaft, sondern in der Wiedererweckung des Willens zur eigenen sittlichen Verantwortung.

Ritters Untersuchungen haben zweifellos das Verdienst, die Zusammenhänge der politischen Ethik und des neuzeitlichen Freiheitsgedankens mit ihrer religiösen Grundlage klar herausgearbeitet zu haben, doch zeigen sie zwei nicht unbedeutende Schwächen: sie beschränken sich auf religiösem Gebiet gerade in dem entscheidenden Zeitraum seit der Renaissance auf den Protestantismus und sie scheinen die Wertzersetzung in der modernen Welt nicht in ihrem ganzen Umfang zu erfassen.

Es ist möglich, daß Ritter sich darauf beschränken wollte, den so verhängnisvollen deutsch-englischen Gegensatz durch den

Hinweis auf die beiden Positionen gemeinsame abendländische Grundlage zu überbrücken; es ist möglich, daß er als Protestant die Einseitigkeit einer Betrachtungsweise überwunden hat, die den nachtriden- tinischen Katholizismus unter vorwiegend politischen Gesichtspunkten beurteilte, daß er aber noch keine endgültige neue Stellungnahme gefunden hat. Unmöglich aber ist es vom Standpunkt historischer Objektivität, einfach zu übergehen, was die katholische Welt seit vierhundert Jahren in theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit dem Machtproblem geleistet, gelitten und manchmal auch gefehlt hat. Das Ringen der katholischen Amtimachiavellisten, der spanischen Spätscholastiker von Vitoria bis Suarez, um überzeitliche, unveränderliche Prinzipien christlicher Staatslehre verdient neben, ja vielleicht über den Theoretikern von Machtstaat und Utopie seinen Platz als denkerische Leistung. Als geschichtliche Tatsache aber hat die erfolgreiche Behauptung der unabhängigen geistlichen Autorität gegen die weltliche Gewalt eine nicht geringere Tragweite als das Ethos kalvinistischer Sekten oder das lutheranische und orthodoxe Staatskirchentum.

Über dem Gegensatz von insularem und festländischem Staatsgedanken vernachlässigt Ritter den Bruch zwischen Rom und Wittenberg und die darauffolgenden bewaffneten Auseinandersetzungen. Die unheilvolle Verschlingung religiöser Anliegen mit der Staatsräson des aufkommenden Absolutismus, die Auslieferung christlicher Gesinnungswerte an die Entscheidung durch faktische Macht und der aus den religiösen Kämpfen hervorgehende Gedanke des laizistischen Staates sind ein Vorspiel zur Zersetzung der ideellen Werte überhaupt, und damit auch jener, die dem Machtnaturalismus gegenüberstehen. Die Geschichte jenes Wertverlustes wäre ein integraler Bestandteil jeder historischen Untersuchung über das sittliche Problem der Macht. Daß Ritter sie nicht gegeben hat, ist um so bedauerlicher, als er ihr Resultat treffend charakterisiert: „Aus der Idee wird .Ideologie', das heißt die bloße Verbrämung höchst massiver Macht- und Wirtschaftsinteressen, die man nach Belieben nach dem jeweiligen Tagesbedarf umfärben kann. Sie ist letztlich belanglos, aber sie behält als Propagandaphrase eine gewisse, zeitbedingte Werbekraft. Und darum wird sie nach wie vor gepflegt.“

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