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Cuius regio...

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Kein anderes Wortspiel hat sich so tief in die Geschichte eingegraben wie jenes „Cujus regio, illius religio“, das in seinen Silben die Rechtssatzung des Augsburger Friedens von 1555 zusammenfaßte, daß die Religion des Untertanen von dem Landesherrn bestimmt werde. In den stürmischen Zeiten der deutschen Glaubensspaltung und der staatlichen Zersplitterung Deutschlands bis weit über den Westfälischen Frieden hinaus bedeutete dies für die Bewohner einzelner Duodezstaaten Religions Wechsel am laufenden Band. Die damalige Verknechtung der Gewissen, die der Grundsatz des neuen Landeskirchentums gestattete und keines der einander gegenüberstehenden konfessionellen Lager von Schuld freiließ, ist eine der traurigsten Stationen in der abendländischen Geistesgeschichte, in gleicher Weise von der weltlichen wie theologischen Wissenschaft verurteilt Sie ist überwunden worden und man hat die Knebelung der religiösen Überzeugung und der inneren Freiheit des Mcnsdhen als die Krankheitserscheinung eines düsteren, an seiner Schwelle aufs tiefste durch den Zusammensturz der mittelalterlichen Geisteswelt erschütterten Zeitalters für immer abgetan geglaubt. Nie wieder nach der Erringung der Volksrechte, der verfassungsmäßig verbrieften Freiheiten, der gewaltigen Entfaltung des menschlichen Fortschrittes, der Triumphe des Geistes in allen Gebreiten der Wissenschaft im Angesichte der grandiosen . Erfindungen des Ingeniurtis würde es wieder gewagt werden, dem Geiste Gewalt aszutun, ihn in Fesseln zu schlagen, irgendeine anonyme Macht, irgendeinen Ismus über die geistige Freiheit des Menschen zu setzen! Alle großen politischen und weltanschaulichen Systeme, auf denen das geistige Gebäude der Gegenwart aufruht, haben das Bekenntnis zur Denk- und Gewissensfreiheit als Fundament, die moderne christliche Demokratie ebenso wie der Sozialismus. So war es doch wohl nur folgerichtig, daß während und nach dem Kriege bis in die jüngste Zeit die leitenden Männer beider Siegergruppen, der kapitalistischen wie der kommunistischen, unter Hinweis auf ihr gemeinsames Bekenntnis zur Demokratie — hie westlicher, dort östlither Observanz — wiederholt erklärten, beide Lebensformen könnten friedlich nebeneinander bestehen. Noch vor ganz kurzem stand jeder, der einen leisen Zweifel an der Möglichkeit eines dauernden Einvernehmens zwischen den westlichen tnd östlichen Alliierten zu äußern wagte, luf beiden Seiten in Verdacht, ein Feind ier Demokratie zu sein. Tatsächlich wäre, fern es sich nur um die Lebensformen handelt, ein ' friedliches Nebeneinander beider nicht durchaus undenkbar. Schon deshalb nicht, weil sich die rein kapitalistische Lebensform im Westen genau so wenig ohne Abstrich zu behaupten vermocht hat wie die abstrakt kommunistische im Osten. Sie wird in Zukunft noch weniger dazu imstande sein. Wie alle orthodoxen Theorien, haben beide in der Praxis dem stärkeren Gesetz des Lebens längst schon wesentliche Zugeständnisse machen müssen. Genau so wie das Ideal unbeschrankter wirtschaftlicher Freiheit in Amerika — man denke nur an das New Deal! — sich zugunsten der Anerkennung gewisser elementarer Lebensrechte der wirtschaftlich Schwächeren zu wesentlichen Einschränkungen verstehen mußte, Tiat die Macht der Erfahrung die Sowjetunion veranlaßt, das Prinzip voller wirtschaftlicher Gleichheit im Sinne einer höheren Entlohnung der größeren Leistung ziu unterbrechen. Es gibt heute schon in

Rußland eine Oberschichte, man könnte sVgcn eine Parteiaristokratie, gegen deren Entwicklung zeitweise sich Blitze entzünden, ohne sie zu zerstören. Vielleicht könnte sogar ein Theoretiker hier wie dort aus sachlichem Ermessen ein friedliches Fortschreiten der Entwicklung und als Endergebnis eine allmähliche Synthese beider Prinzipien Errechnen.

Die Wirklichkeit allerdings zeigt ein ganz anderes Bild. Die Machtsphären beider Gruppen zeichnen sich immer klarer ab, die Stellungen sind bezogen und die Grenze, die sie voneinander scheidet, teilt auch die Welt in zwei Teile. Das durchaus Originale und Neuartige an dieser Entwicklung aber liegt darin, daß durch diese Zweiteilung nicht nur der Patriotismus, sondern nunmehr auch die Weltanschauung aller Erdenbewohnereindeutig nach ihrem jeweiligen geographischen Standpunkt ausgerichtet wird. Je nachdem, ob ein Land östlich oder westlich eines bestimmten Längengrades liegt, müssen sich seine Bewohner von heute auf morgen auf Gedeih und Verderb zu einer bestimmten politischen Idee bekennen, die bisher in den meisten dieser Länder nur ein unter vielen im freien Spiel der Kräfe gegeneinander ringendes Ideengebilde darstellte. Diese eine Idee zu vertreten oder sie abzulehnen, stand jedem frei. Es bestand sogar bisher gerade in diesem Für und Wider das eigentliche Wesen, das Urprinzip aller politischen Betätigung, des politischen Lebens eines Volkes schlechthin.

So ist nun die Frage: Für oder Widef? zum schwerwiegenden Kriterium für jeden einzelnen geworden, ob er noch als ehrsamer Staatsbürger oder schon als Hochverräter zu gelten hat. Diese Verlagerung der Gesichtspunkte in der Beurteilung des Staatsbürgers aus dem Gebiet des Straf- rechts in das der Geopolitik bedeutet eine vollkommene Umwälzung im Verhältnis zwischen Staat und Mensch. Von nun an bestimmen in einer bestimmten Zone Europas nicht mehr Geburt und familiäre Atmosphäre, religiöse, nationale, politische und soziale Anschauungen das geistige Profil eines Menschen, sondern lediglich die geographische Lage des Landes, dessen Bürger oder Bewohner er ist.

Auf die Himmelsrichtung kommt es an, welcher geistigen Richtung der Mensch, der diesem Ortsgesetz verfällt, zu folgen hat, ob er ein Freier oder nur eine Figur in einer ungeheuren Marschkolonne sein soll, in der es keinen Einzelwillen, keine Selbständigkeit, kein Recht zu eigenem Denken und eigenen Entsdilüssen gibt. Ein neuer Absolutismus bedroht die Menschheit, ein mächtigerer als jener, den die Revolutionen des 19. Jahrhunderts stürzten, den nicht einmal der Zarismus besaß, ein Polizei- system, das so ausgeklügelt war und ein so über Gesetz und Gericht stehende souveräne Macht besaß wie die Gestapo Hitlers und die ihr gleichgebildeten Einrichtungen. Kein Zweifel: es geht um die Grundbegriffe der Demokratie, um das Lebensprinzip des modernen Staates. Die Gegensätze sind heute ganz deutlich und aller Verhüllungen entblößt.

Nur das Verstohlen im Dunkeln Sdilei- chende oder in blendender Maske Verkleidete ist ganz gefährlich. Die enthüllte Gefahr ist halbe Gefahr. Sie stellt die Menschheit vor klare Entscheidungen. Was Österreich anlaingt, hat es eindeutig klar gewählt.

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