6543856-1947_04_01.jpg
Digital In Arbeit

Stern unter der Wolke

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist seltsam, daß eine Parole wie die der Demokratie, die als Parole zur Befreiung der unterdrückten oder von Unterdrückung bedrohten Völker ausgerufen worden war und die sich eben noch als politischer Realfaktor ersten Ranges erwiesen hatte, bald darauf in ihrer Wirkkraft so sehr verblassen konnte, daß sie anschließend zur Sicherung des Sieges über das Böse nicht ebensoviel beizutragen imstande ist wie zum Erringen des Sieges. Im Tosen der Schlacht noch das glänzende, über alle Zweifel erhabene Feldzeichen der um ihre höchsten Güter ringenden Menschheit, ist die Demokratie nun zum Zankapfel der Tagesmeinung geworden. Nachdem man jahrelang darum gekämpft hatte, vernimmt der erstaunte Zeitgenosse, daß es eigentlich strittig sei, was Demokratie ist. Wenn schon nicht mehrere — oder wie manche behaupten: viele —, so gebe es mindestens zwei autorisierte Auflagen davon, eine westliche und eine östliche, und die Nationen hätten nun die Aufgabe, unter diesen wie anderen möglichen Lösungen den „echten Ring“ herauszusuchen. Diese Entwicklung der Dinge stellt ein sehr ernstes Zeitsymptom dar. Denn

genau so wie die Kriegführenden richtig erkannten, daß man ein Kriegsziel haben müsse, weil man sonst bloß einem blind um sich Schlagenden gleiche, muß der Menschheit, wenn sie sich aus dem Staube wieder erheben will, ein klares Friedensziel voranleuchten. Wenn aber die Menschen nicht mehr wissen, wofür sie gestern bluteten, sind die Aussichten dafür, daß sie wissen, was sie morgen zu tun haben, sehr trübe.

Da sich aber der Begriff der Demokratie aufzulösen beginnt, darf es nicht Wunder nehmen, wenn auch die Vorstellung ihres Gegenpols allmählich verzerrt wird. Faschismus ist heute alles, was einem am Nächsten nicht gefällt. Demokrat ist jeder selber, wie immer das eigene Fühlen und Handeln aussehen mag. Während sich die Theoretiker noch um Definitionen bemühen, werden heute von allen Seiten die Worte demokratisch und faschistisch herumgewirbelt, als ob es da um schwarz oder weiß gehe. Sie sind das Gut und Böse von heute, die Grundnörmen der Tagesmoral, einer Moral also, die ihre Verbindlichkeit nicht aus der Verpflichtung des Menschen zum Absoluten hin, sondern aus der Verknüpfung mit

schwankenden intermediären Lebenserscheinungen herleitet. Wir fühlen es gar nicht, wie sehr wir mit einer solchen Haltung selber noch im Faschismus stecken. Wir merken gar nicht, daß wir mit1 einem solchen „Antifaschismus“ gar nicht die innere Wandlung zum geistigen Gegengrund des Faschismus vollzogen haben, sondern in Äußerlichkeiten haftenblieben. Oder war es nicht der Nazismus, der alles nach dem Maßstab seiner selbst bewertete? Und heute ist es die Demokratie, aber nicht die Demokratie schlechthin, sondern irgendeine Demokratie, die sich jeder nach eigenem Rezept zusammenflickt, nach der die Dinge beurteilt, verurteilt, beraten, beschlossen oder abgelehnt werden. So hat die Verschleierun8 c'es echten Begriffes der Demokratie nicht nur bewirkt, daß der gemeinsame Leitstern in die Zukunft im Dunkel verschwand, sondern auch, daß die Menschen gegenüber den Gegenwartsaufgaben machtlos wurden und sich innerlich kaum von der unseligen Geisteshaltung der Vergangenheit loslösen können.

• Die Aufgabe unserer Zeit liegt demnach darin, den Begriff Demokratie in seiner Reinheit wiederherzustellen und das Handeln im öffentlichen Leben danach abzustimmen. Hier enthüllt sich der Kernpunkt des ganzen Problems. Wer die innenpolitischen und zwischenstaaatlichen Beziehungen untersucht, muß eine Tatsache von vornherein in Rechnung setzen: die Menschheit von heute ist doktrinär gespalten. Sie strebt nach einem neuen Mench-heits- und Kulturideal. Doktrinen sind nichts anderes als der Ausdruck der aus dem Zu-saniimenbruchserlebnis einer Geistesepoche zu neuer Lebensgestaltung und Lebensanschauung drängenden Menschenseele. Sie sind verschieden je nach der Art dieses Erlebens und der darauf erfolgenden psychischen Reaktion, sie sind aber gleich im Hinblick auf ihre größtenteils bloß ideelle Existenz, deren Verwirklichung und Gültig-

keitsenveis der Zukunft vorbehalten erscheinen. Das ist ihre Stärke und Schwäche augleich. Sie verleihen zwar dem menschlichen Handeln Richtung und Ordnung, aber sie sind gerade für die Lösung momentaner Zeitaufgaben zu starr und verleiten den Menschen durch die suggestive Vorspiegelung bereits erwiesener Allgemein-gültigkeit, ihre allgemeine Anerkennung zu verlangen. In diesem Sinne trennen Doktrinen die Menschen eher, als sie sie verbinden. Deshalb auch ist die restlose Vertrauenshingabe an die Politik oftmals von Enttäuschungen begleitet und gestaltet sich die Arbeit des Politikers trotz bester Absicht manchmal so wenig fruchtbar für das Zusammenleben der Menschen.

Die Beantwortung der Frage nach der Demokratie kann nicht allein durch die politische Doktrin, sondern muß in erster Linie vom Leben her erfolgen. Und gerade von dieser Seite bat unsere Generation bereits eine Lektion erhalten, die eindeutig den Streit der Theorien entschieden hat. Nur durch die Besinnung auf dieses Erlebnis der existenziellen Bedrohung des Menschen in der hinter uns Kegenden Geschichtsepoche wird uns der Begriff der Demokratie wieder so klar vor Augen treten wie einst, als ihr Widerspiel triumphierte. Was war der Hitlerismus? Der Versuch, eine bestimmte Doktrin und die dazugehörige Lebensform der Menschheit mit Gewalt aufzuzwingen. Damals wußten Marxisten, Christen und Liberale aller Schattierungen, daß Demokratie im europäischen Räume nichts anderes bedeuten könne als eine Staatsform, unter der bei allgemeiner Wahrung der menschlichen Grundrechte alle politischen und weltanschaulichen Richtungen nebeneinander und miteinander verantwortlich im Staate bestehen können sollten. Und was Millionen Menschen, die der faschistischen Diktatur ausgeliefert waren, inbrünstig fühlten, bildete die Grundlage der sieggekrönten Zusammenarbeit der Alliierten.

Ober diesen Erweis historischer Bewährung des Demokratiebegriffes kommt unsere Zeit nicht hinweg. Er verpflichtet. Er ist der Prüfstein des guten Willens. Jede einseitige Hinwendung zur Doktrin und Abkehr vom Urerlebnis der Demokratie im Kriege ist Rückschritt zum Faschismus. Jede Spekulation auf die Einparteiendemokratie oder at*ch nur W die sozialdoktrinäre Hegemoniebestrebungen bedeutet im abendländischen europäischen Raum Faschismus. Im friedlichen Wettstreit der Meinungen wird sich das Gesunde, Vernünftige und Ethische immer wieder durchsetzen. Dafür ist heute die Welt an Beispielen voll. Die Doktrinen sind unser Erbe und unsere Aufgabe. Aus ihnen wird sich in gegenseitiger Befruchtung und Anregung das Bild der neuen Zeit entwickeln. Aber jeder brutale Eingriff in diesen Prozeß, von weldier Seite er immer auch kommen mag, wird den wahren menschlichen Fortschritt nur hemmen und der Menschheit schwere geistige und materielle Verluste zufügen. Er führt unweigerlich zu Gegenströmungen, d|le gewaltsame Aktionen auslösen. „Mit der Wurzel ausrotten“ heißt der ewige Haßgesang dieser verderblichen Radikalismen. Sic verstehen darunter nur Ketten und Galgen. In Wirklichkeit wird damit das Böse niemals ausgerottet, sondern in einem unheilvollen Zirkel mjt naturgeset/J icher Zwangsfolge verewigt. Man ermesse einmal die ungeheuren Einbußen, die Europa in den letzten hundert Jahren durch die dauernden Aufstände, Revolutionen, Regimewechsel usw. erlitten hat und wie viele der heutigen sozialen und materiellen Nöte darauf zurückgeführt werden müssen. Es ist die alte Häresie der Menschheit, zu glauben, daß der radikalste Weg zum Glüdc auch immer der kürzeste sei. Das Blut und die Tränen unzähliger gemordeter und verstümmelter, verarmter und unterjochter Menschen zeugen dagegen. Sie klagen den Faschismus aller Farben an. Demgegenüber liegt die wirkliche Aufwärtsentwicklung der Mensdiheit in der Erziehung zur Achtung vor der Überzeugung des anderen und zum Verstehen seiner Lage, die echte Demokratie aber in der Vor a n s t el 1 u n g des Allgemein-mensch.lichen vor dem Tren-nenden/und vor der Oberwertung der Doktrin.

Dieser Begriff der Demokratie muß als kostbare Frucht aus der grenzenlosen Un-glocksära des Faschismus in die Gegenwart herübergenommen werden, wenn wir nicht vielleicht morgen schon vor neuen Ruinen stehen wollen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung