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Tragödie der hundert Jahre

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Die Ereignisse unserer Zeit könnten uns fürwahr zum Anlaß werden, unser Denken über politische und soziale Belange endlich von der Oberfläche der äußeren Ordnung in die Tiefen der inneren Ordnung des Menschen selbst zu lenken. Ist es doch eine klare Lehre der Geschichte unserer abendländischen Kultur: seit man mit der Trennung von Religion und Lebensgestaltung Ernst gemacht hat — und das kann für uns nur heißen mit der Trennung von Christentum und Kultur, denn Völker, von denen das Christentum einmal Besitz ergriffen hat, kennen keine andere Religion mehr, mögen sie nun das Christentum hassen oder ihm dienen —, seit man die Bereiche der Kultur ihrer „Eigengesetzlichkeit“ überantwortet hat, seit man erst den einzelnen, dann den Staat, dann die Wirtschaft zum Maße ihrer selbst machte, brechen in kurzen und immer kürzeren Zeitspannen die „neuen Zeiten“ an mit Macht und Herrlichkeit und strahlenden Hoffnungen, um immer wieder zusammenzubrechen in Ohnmacht und Unmenschlichkeit und Trostlosigkeit.

Es dürfte heute nicht schwer sein, die große Linie zu verfolgen. Sobald die religiös-sittliche Einheit des christlichen Abendlandes zerfallen war, rief man die Götzen herbei, die die sittliche Ordnung durch äußere Gewaltordnung ersetzen sollten. Sobald der Mensch sich dem Christentum versagte, das ihm ein verpflichtendes Maß seines Handelns gegeben natte, mußte sich die Frage der Ordnung erheben. Denn an die Stelle verpflichtender und verpflichteten Autorität war die vom Erfolg sanktionierte Gewalt getreten, die immer weiter dorthin Vordringen mußte, wo die Quelle der Unordnung liegt, in die entheiligten heiligen Bezirke innersten Menschentums. So mußte sich die Tendenz zur geistigen Despotie entwickeln. Die institutionelle Außenseite der sozialen Ordnung wird zum Götzen, die politische Doktrin des Augenblicks zu seiner Religion: in der modernen Souveränität des Staates, im Positivismus der Rechtsordnung, im Gewissenszwang des „cuius regio eius religio", im Kollektivismus unserer Zeit mit seinen politischen Beichtspiegeln der eidesstattlich unterfertigten Fragebogen.

Ebensowenig jedoch wie die Völker des christlichen Abendlandes im Für und Wider das Christentum vergessen können, können sie das Bewußtsein der Freiheit vergessen, die ihnen das Christentum gebracht hat. Aber ohne religiösen Grund wird auch die Freiheit zum Götzen, wird sie eine Freiheit ohne Maß und Richtung und Sinn. Der Götze der Freiheit aber muß sich einen Thron der Ordnung errichten, um darauf sitzen zu können. Schon sind wieder die politischen Doktrinen zur Hand, die die Ordnung zum Götzen machen, sobald die Freiheit erreicht scheint: die Nation, die Rasse, die Klasse, die Planwirtschaft. Und ehe man es sich versieht, ist die Freiheit vom Thron gestürzt und an ihrer Stelle erhebt sich die Gewalt. In dieser furchtbaren Dialektik von Schlag und Gegenschlag liegt die soziale Tragödie des Abendlandes, die Tragödie auch der letzten hundert Jahre, deren tiefsten Grund freizulegen heute wahrhaftig ai der Zeit ist, eine Tragödie, die man aus den geistigen Wurzeln zu verstehen suchen muß, aus denen sie erwachsen ist.

Es wäre wohl zu begrüßen, wenn man sich bei der Feier des Jahres 1848 auch dieses Gesichtspunktes zuweilen besänne. Wir können doch nicht vorübergehen an der Tatsache des Sturzes von der Freiheit in die Knechtschaft, vom Fortschrittsstolz in die Verzweiflung, von der „Vernunft“ in den Wahnsinn. Und man sollte es nicht ernst nehmen, wenn diesir Sturz einzelnen Gruppen oder Klassen oder Menschentypen angelastet wird, die man zu Trägern der Herrschsucht, der Bosheit und der Verblendung macht, um sie den strahlenden Gestalten der Freiheitsrufer von 1848 gegenüberzustellen, die von ihnen zurückgestoßen wurden in das Reich der Königin der Nacht. Mußte sich nicht vielmehr jene Freiheit, die sie im tiefsten Grunde meinten, selbst ver zehren, sich als Wahn erweisen, weil sie die Ordnung nicht zu tragen vermochte, weil sie nicht Maß noch Ziel noch Richtung kennen wollte?

Was dem sozialen Leben Gestalt gibt als geschichtlich wirkende Macht, sind aber im letzten nicht die Äußerlichkeiten erklügelter Organisationsprinzipien, sondern Innerlichkeiten: das nämlich, was der Mensch von sich selbst denkt. Im sozialen Leben muß sich das Bild geschichtlich bewähren in Ordnung und Freiheit, das er sich von sich selbst macht. Da aber freilich steht es dem Menschen frei, den Versuch zu wagen, allen Ernstes das zu sein, nicht was er ist, sondern was er zu sein wünscht. Dieser Versuch aber wird ihm zum Wege der Gewalt und Knechtung. Er wird zum Sklaven seiner Doktrin, zum Feind seiner selbst, um sein Wunschbild durchzusetzen auf Kosten des Lebens. Darum muß sich die falsche Freiheit in äußerste Knechtschaft wandeln, auch wenn sie eben erst einen Götzen der Ordnung gestürzt hat. Das ist ja das Furchtbare der modernen Despotien: daß sie an die Stelle des Menschen eine Karikatur ihrer Phantasie, an die Stelle des Schöpfungsplanes Gottes die eigene Planung setzen; daß sie den Men- sdien bekämpfen müssen, um ihn zur Karikatur zu machen, und das Leben bekämpfen müssen, um ihre Planung durchzusetzen. Darin liegt auch die soziale Entscheidung unserer Zeit: wir dürfen nicht wieder jene Freiheit suchen, die sich selbst verzehrt.

Zwei Revolutionen waren es, eine offene und eine verborgene, die das Jahr 1848 kennzeichnen. Beide waren in ihrem Freiheitsanliegen, in ihrem äußeren Wollen berechtigt, ein Durchstoß der Freiheit durch erstarrende Ordnungen, die sich selbst geistig entleert hatten. Die eine: der Kampf der Menschen, die den Staat zu ihrem Staat machen wollten, zum Staat des „Volkes“, zur „Demokratie“. Die andere: der Kampf der Menschen, die die Wirtschaft zu ihrer Wirtschaft machen wollten, der „Klassenkampf“, der sich im „Kommunistischen Manifest" ankündigte. Aber beide blieben an der Oberfläche, gaben nur dem Geiste, den sie vorfanden, eine andere soziale Form. Wie seine Vorgänger stellte sich auch der neue Souverän, das Völk, die Nation, jenseits von Recht und Sittlichkeit, wollte die Menschen verbilden nach seinem Ebenbild. An die Stelle des absoluten Herrschers trat das absolute Kollektiv. Und wieder trat die gleiche Freiheit zum Kampf gegen die Ordnung an. Hier war die Stelle der Revolution des Proletariats, das sich als Souverän der Zukunft jenseits von Recht und Sittlichkeit stellte. Nun wird Ernst gemacht mit dem Primat der Wirtschaft, deren Ratio endlich die Ordnung der Vernunft hätte begründen sollen. Diese Revolution kennt grundsätzlich nur noch die Ordnung, die ihre Vorgängerin tatsächlich durchgeführt hatte, nur ein Oben als wirtschaftliche Macht und ein Unten in wirtschaftlicher Ausbeutung. Sie kennt nur eine Ordnung des wirtschaftlichen Zwanges, der Sittlichkeit und Recht verwendet, um sich zu verewigen — genau wie der Fürst Machiavellis Wieder wird die Ordnung zu Feindin der Freiheit und die Zukunftskonzeptionen der politischen Ideologien werden zu Konzeptionen der Rache an der Gegenwart. Um dem ewigen Nachstoßen der Revolution ein Ende zu setzen, glaubt man die Freiheit auslöschen zu müssen: im Namen des Staates, im Namen des Volkes, im Namen der Wirtschaft. So führte der Volksbegriff zur Tragödie des Nationalismus, der Primat der Wirtschaft zur sozialen Tragödie des Ökonomismus und, beide in sich fassend, die Freiheit, die sie meinten, in die menschliche Tragödie des Totalitarismus.

Im Freiheitsbegriff aber liegt der Kern der Entwicklung, weil in ihm das ausgedrückt wird, was der Mensch über sich selbst denkt. Es war ein Freiheitsbegrift ohne Norm, der anarchische Freiheitsbegriff des Individualismus, der die Ordnung aus dem Gewissen des einzelnen in die äußeren Institutionen des sozialen Lebens verbannte. Das Problem der Ordnung hörte auf ein sittliches zu sein und wurde ein technisches.

Dieser F r e i h e i t s b e g r i f f ist der Ansatzpunkt zur Tragödie der hundert Jahre. Sie kündigt siet’ zunächst in einer geistigen Problematik an, die uns zeigt, wo ihr Ursprung liegt. Die unfaßliche Entwürdigung der menschlichen Persönlichkeit im totalen Staat nimmt ihren Ausgang von einer Selbstentwürdigung, die ihre letzte Quelle in einer Selbstentpflichtung gegen Gott und die Ordnungen des Lebens hat, in dem ewigen, ur- revolutionären „Non serviam“! Man könnte wohl diese Selbstentwürdigung geistesgeschichtlich verfolgen. Der Mensch, der gegen die Norm über sich, die seine Freiheit trägt, aufbegehrt, sieht sich sogleich geistig versinken in ein namenloses Geschehen, das ihn beherrscht. Denn er kann sich wohl gegen die sittliche Norm empören, aber er kann nicht die Ordnung wegdenken aus der Welt, in der er lebt. Sogleich sieht er sich darum bis ins Tiefste unfrei, sieht sich als Rädchen eines Weltmechanismus, als ein wesenloses Glied eines Sozialorganismus, als hoffnungslos verfallen einem zutiefst sinnlosen Geschehen, ein wehr- und würdeloses Nichts, das noch dazu verdammt ist, dies zu erkennen. Für die freie Königswürde der Persönlichkeit ist kein Platz in solcher Welt. Das mochte alles erträglich scheinen, solange man an den „Fortschritt“ glaubte, der den Blick in die Zukunft wendete, solange man glaubte, die Weltordnung sei eine von der Anarchie des einzelnen bewegte, die Harmonie und den Frieden produzierende Maschine. Aber bald stieg der Pessimismus auf, die Katastrophentheorie von Marx bis Spengler. Da wurde plötzlich der Stolz des Jahrhunderts, wurden die Träger des Fortschrittes, die Wirtschaft, die Technik zu den Kräften der Katastrophe oder zu den Symptomen des Verfalls. Was nun, wenn der Fortschritt zum Wahn und die Katastrophe zum Ziel des Lebens wird? Tragödie eines Jahrhunderts!

Das alles aber liegt noch in den leicht beweglichen Höhen des Geistigen. Aber das Geistige will Leben werden, will Geschichte werden, will soziale Gestalt annehmen, denn die Lebensform des Geistigen ist die soziale. Nun greift die Tragödie ans Leben und fieses nimmt den Menschen in furchtbare 1 hre. Immer wieder muß ihm die Ordnung zum Zwang, die Macht zur Gewalt werden. Der Absolutismus,' die erste soziale Lebensform des anarchischen Menschen, führt zur großen Revolution von 1789, deren kleinere Kinder in diesem Jahre ihren hundertsten Geburtstag feiern. Der Liberalismus führt zur Klassenscheidung, die Freiheitsbewegung des Proletariats zur Allproletarisierung, die klassenmäßige Zersetzung zur Zwingburg des totalen Staates, der nichts ist als gebändigte Anarchie, die letzte und konsequenteste Lebensform des anarchischen Menschen. Denn es gibt keine aktuelle Anarchie. Immer muß die anarchische Freiheit des einen zur Gewaltherrschaft für den anderen werden, immer mit der Tendenz zur Umkehrung der Rollen, bis die falsche Freiheit zum hoffnungslosen Einerlei der Versklavung wird — alles im Namen des Volkes. Es ist kein Zufall, es ist geschichtliche Notwendigkeit, wenn der anarchische Mensch den Ruf nach dem starken Mann ausstößt, der die Anarchie bändigt, der der geistigen Anarchie eine politische Doktrin gibt, die die Ordnung des Lebens im Kommandoton dekretiert und durch Konzentrationslager sichert, der der sittlichen Anarchie einen Höchstwert im beherrschten Kollektiv anbefiehlt, der der maßlosen Wirtschaft das Maß seiner Selbstherrlichkeit aufdrückt.

Hier liegt die große Gefahr unserer Zeit. Wenn wir auch den Ruf nach Freiheit, der vor hundert Jahren durch die Straßen Wiens hallte, nach allen unseren Erlebnissen sicherlich mitempfinden können, wenn auch wir den Staat wieder zum Vaterland machen wollen, an dem wir mitbauen, mitwirken, weil es unser Leben ist, das sich in ihm entfaltet — die Freiheit, die wir suchen, muß auf anderem Gpnde ruhen als damals. Der Totalitarismus ist nicht das Gegenteil des anarchischen Individualismus, sondern seine logische und geschichtliche Folge. Es wäre ein furchtbarer Anachronismus, wollten wir die Freiheit von 1789, die Freiheit von 1848 suchen, wollten wir vor dem Geschehen dieser hundert Jahre die Augen verschließen um eines Freiheitsbegriffes willen, der die Freiheit selbst vernichtet. Dann würde nicht der Mensch frei, sondern der Leviathan des Kollektivs. Ist die Anarchie des inneren Menschen überwunden? Das ist die Frage der Zukunft. Überall — das müßte endlich gesehen werden —, wo die Freiheit als Selbstentpflichtung mißdeutet wird, ist man bereits auf dem Wege zum totalen Staat und auf dem Wege zur letzten Ent würdigung des Menschen. Die Selbstentpflichtung des einzelnen ist der erste Schritt in die Hölle des Totalitarismus, die Selbstentpflichtung der sozialen Ordnungsmacht der zweite Schritt, die Selbstentpflichtung eines Kollektivs, einer Rasse, einer Klasse ist der letzte Schritt. Nicht kollektive „Begeisterung", die uns noch aus jüngster Vergangenheit in den Ohren gellt, sollte die Losung von 1948 sein,

sondern persönliche Besinnung. Das Kollektiv ist gestaltgewordener Haß — mag auch objektives Unrecht zum Hasse führen — und Haß ist seine Tugend. Auf Haß werden wir keine neue Welt aufbauen. Die Tragödie der hundert Jahre sollte uns dahin führen, daß wir den Menschen in uns suchen in seiner Stellung zur Umwelt, zur Mitwelt und zur Überwelt. Es gibt keinen anderen Weg, der ins Freie führt.

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