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Sozialisierung

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Seit fast zwei Jahrhunderten steht das soziale Leben unserer Bereiche im Zeichen des Strebens nach Freiheit und Menschenwürde. Und doch ist es geschichtliche Tatsache, daß die Wirklichkeit des politischen Lebens und der wirtschaftlichen Ordnung immer die Gefahr in sich barg, in Anarchie oder in Despotie umzuschlagen, daß die Tendenz zur einen wie zur anderen immer bedrohlich auf dem Grunde unseres öffentlichen Lebens lag, bis schließlich die Tendenz zur Despotie den Gedanken staatlicher Totalität gebar und verwirklichte. Ein ethisch falsch gefaßter, soziologisch falsch gesehener Freiheitsbegriff hat das Streben nach Freiheit zu einer Kulturtragödie gemacht. So mußte es auch die schwere Last unserer Zeit werden, daß wir zu grundsätzlicher Besinnung mit der gleichen unaufschiebbaren Dringlichkeit aufgerufen sind wie zu den periphersten Schritten der äußeren Gestaltung unseres sozialen Daseins. Jeder Schritt, der heute zum Neubau unseres Lebens getan wird, steht so unter dem Segen oder dem Fluch des Grundsätzlichen. Jeder Handgriff beim Wiederaufbau unserer Wirtschaft stellt oder überwindet soziale Fragen. Er kann die Zukunft von Generationen prägen. Es ist in erster Linie die soziale Problematik, die, mittelbar oder unmittelbar, den Aufbau der Wirtschaft bedroht, der Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft. Aus. solch grundsätzlicher Besinnung muß man auch an die Kontroverse über die Sozialisierung herantreten.

Wenn wir gedanklich unseren Ausgang bei den großen Revolutionen nehmen, die in Europa an dem Streben nach Freiheit entbrannt sind, so müssen wir uns vor allem darüber im klaren sein, daß sich jede geschichtliche Bewegung, soweit sie überhaupt wirksam wird und eine Zeit prägt, an irgendeiner Wahrheit entzündet, die ihr tiefstes Anliegen ist. In den Bewegungen der Vergangenheit und der Gegenwart die Wahrheit des Anliegens vom Irrtum zu trennen, der sich in seiner praktischen Verwirklichung breitmachte, ist eine Aufgabe, der wir uns nicht länger entziehen dürfen.

Das tiefste Anliegen dieser Revolutionen war es: erstens die Freiheit gesellschaftlicher Lebensentfaitung gegenüber absolutistischer Allstaatlichkeit durchzusetzen; zweitens jeden Bürger zum aktiv wirkenden Subjekt des sozialen Lebens zu machen. Die Verwirklichung dieses tiefsten Anliegens scheiterte an der Maßlosigkeit des Freiheitsbegriffes. Man glaubte, die Freiheit gesellschaftlichen Lebens nur aus grundsätzlich maßloser Freiheit des einzelnen ableiten 7M können. Es scheiterte aber auch an der — trotz aller politischen Freiheitsrechte — Maßlosigkeit des Staatsbegriffes. Denn die Freiheit des einzelnen kann sich nur verwirklichen aus seinem gestaltenden, Lebenskreise formenden Hineinragen in das gesellschaftliche Leben. Hier aber stieß er auf einen Staatsbegriff, der dem einzelnen unmittelbar einen Staat gegenüberstellte, der allein zu allem sozialen Gestalten berufen sein wollte, der den Bereich des Persönlichen aus der Gemeinschaft herauslöste und alles Gemeinschaftsformen unmittelbar für sich in Anspruch nahm. So kam es zur Auflösung schlechthin aller eigenlebendigen gesellschaftlichen Lebenselemente und die Maßlosigkeit des Freiheitsbegriffes stand der Maßlosigkeit des Staatsbegriffes mit beiderseits maßlosen Anprüchen gegenüber.

Gerade die Eigenlebendigkeit kleiner Gemeinschaftskreise aber ist der Mutterboden gesellschaftlicher Freiheit, der Raum für die Verwirklichung persönlichen Lebens und nur, wenn sie ihre soziale Aufgabe in Ordnung erfüllen, braucht der Staat nicht zum alles verschlingenden „Leviathan“ zu werden. Es ist kein Zufall, daß schon Hobbes gedanklich die maßlose Freiheit, von der er ausging, in schroffsten Absolutismus umkippen ließ, und daß der „utopische“ Sozialismus am gleichen Freiheitsbegriff hochkam, wie die „bürgerliche“ Revolution den Gedanken totalitärer, allstaatlijcher Ordnung allen Lebens zum feindlichen Bruder der „bürgerlichen“ Freiheit machte.

In der praktischen sozialwirtschaftlichen Ordnung mußte aber diese scharfe Herauslösung des Persönlichen aus der Gemeinschaft so wirken: Die wirtschaftsleitenden Verrichtungen erhalten nun grundsätzlich ihre Ausrichtung einzig auf die Personen, die sie zufolge der herrschenden Rechtsordnung innehaben. Die mit ihnen verbundenen sozialen Verrichtungen werden gedanklich und tatsächlich von ihnen getrennt und im Frühkapitalismus dem utopischen Gedanken freiwirtschaftlicher Harmonie„ im Spätkapitalismus dem Staat überantwortet. Diese wesenswidrige Zerreißung der wirtschaftlichen Funktion mußte eine doppelte Wirkung haben. Einerseits mußten die sachlichen und rechtlichen Grundlagen wirtschaftlicher Führungsleistungen mangels institutionell festgelegter sozialer Verpflichtungen zum Problem werden, allen voran das Eigentum; andererseits mußte die einzige soziale Instanz, der Staat, als Ersatz allmählich die soziale Sicherung der Wirtschaft gänzlich in die Hand nehmen. Da es aber nicht nur eine soziale „Seite“ der Wirtschaft gibt, sondern die Wirtschaft grundsätzlich und in allen ihren Erscheinungen sozial ist, gibt es bei Aufrechterhaltung des maßlosen Freiheitsbegriffes nur zwei denkbare Wege, um soziale und wirtschaftliche Funktion wieder zu vereinigen: Entweder die vielen werden an die wenigen versklavt, die die wirtschaftlichen Führungsleistungen innehaben; (Hi-laire Bellocs „Servile State“) oder — diese Möglichkeit liegt in der Tendenz der tatsächlichen Entwicklung — alle werden in gleicher Weise der organisatorischen Apparatur des Staates versklavt. So endet der Weg' der falschen Freiheit notwendig neuerdings in einer Aufsaugung alles gesellschaftlichen Lebens durch den Staat. Damit ist das ursprüngliche Streben nach Freiheit wieder in sein Gegenteil gewendet, in staatliche Totalität.

Darin liegt die Utopie eines jeden Gedankens durchgehender Verstaatlichung: daß man glaubt, man könne alles Soziale, alles für die Gesamtheit Belangreiche, dem Staate überantworten und der Rest wäre Freiheit. Nein! Der Rest ist — nichts!

„Wären wir einmal ... in unserer ganzen Lebenshaltung vom Staate gänzlich abhängig, so könnte uns der Staat auch in den geistigen Dingen, ja selbst bis in die Sphäre des religiösen Gewissens hinein, in diejenige Richtung zu zwingen versuchen, die dem Geiste seiner jeweiligen Regierung angemessen ist.“ (M. Scheler) Sapienti sat! E r-innern wir uns noch?

Wenn wir es ernst meinen mit der Überwindung des Totalitarismns, müssen wir jenes erste Anliegen, das dem Freiheitsstreben zugrunde lag, auch ernstlich aufgreifen: die Anerkennung der Eigenlebendigkeit und Eigenfreiheit der aus sich geordneten Gesellschaft gegenüber dem Staat. Diesem Grundsatz muß jede soziale Reform dienen. Wir müssen auch (und gerade der Wirtschaft in eigenlebendigen Gemeinschaf t s k r e i s e n ) eine soziale Ordnung geben. Aber eigenlebendig sind diese Kreise nur, wenn wirtschaftliche und soziale Funktion wieder vereint werden. Gelingt es nicht, auf diese Weise die Eigenlebendigkeit zu wecken, dann werden wir im totalen Staat enden, der sich bald bei der Wichtigkeit der wirtschaftlichen Funktion in einen totalen Betrieb wandeln wird.

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