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Der Mensch kann in dieser Weltzeit nicht seine Vollendung erreichen

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Der Mensch in seiner Umwelt und in seinem Bezug zur Transzendenz - in diesem Bereich bewegen sich zwei weitere Beiträge zur Grundsatzdiskussion, zu der die FURCHE in den Nummern 1 und 3 beizutragen versuchte. Autoren sind diesmal der Bischof der evangelischen Kirche in Österreich, Oskar Sakrausky, und der katholische Stadtpfarrer von Eisenstadt, Msgr. Wilhelm Grafl. Die FURCHE hofft, die Debatte fortsetzen zu können.

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Der Mensch in seiner Umwelt und in seinem Bezug zur Transzendenz - in diesem Bereich bewegen sich zwei weitere Beiträge zur Grundsatzdiskussion, zu der die FURCHE in den Nummern 1 und 3 beizutragen versuchte. Autoren sind diesmal der Bischof der evangelischen Kirche in Österreich, Oskar Sakrausky, und der katholische Stadtpfarrer von Eisenstadt, Msgr. Wilhelm Grafl. Die FURCHE hofft, die Debatte fortsetzen zu können.

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Jeder evangelische Beitrag zur Grundwertediskussion bedarf einer Besinnung auf den Ansatz evangelischer Ethik. Als lutherischer Christ glaube ich, daß Gott die Welt aus Gnade durch Jesus Christus erhält und sie zu ihrem Sinn vollendet. Die Werte - Leben, Freiheit, Gerechtigkeit, Sinn, Friede, Ehre und Gemeinschaft - haben von hier aus ihre Bedeutung und lassen sich auf die menschlichen Grundwerte Leben, Sinn und Gemeinschaft zurückfuhren.

Die genannten Werte haben regulative Kraft, das heißt, daß sie bewußt oder unbewußt der Entscheidungsgrund sind, so daß man das Selbstverständnis einer Epoche an ihnen abzulesen vermag. Der zur Zeit in Frage stehende Grundwert ist die „Gemeinschaft”. „Gemeinschaft” wird ganz allgemein als „Gesellschaft” bezeichnet, welcher Begriff seiner Verwendungsgeschichte nach auf die Zusammensetzung aus Individuen zurückgeht.

Der Begriff „Individuum” enthält die Vereinzelung des Menschen unter Absehung oder Vernachlässigung seiner natürlichen und geschichtlichen Bindungen, wie Geschlechtsgemeinschaft (Ehe), Familie, Sippe, Volk, Nation. Individuum versteht sich daher in Gemeinschaft mit anderen Individuen als gleichberechtigt mit einem unbegrenzten Freiheitsdrang und einem ausschließlich immanenten Daseinsbewußtsein.

Die Wurzel einer so verstandenen Gesellschaft aus Individuen zusammengesetzt, kommt aus der Aufklärung und wurde durch den Marxismus geprägt. Daraus folgt, daß die Sinnfrage menschlichen Lebens daran abzulesen ist, ob die Gesellschaft das Überleben dem Individuum unter seiner möglichsten Inanspruchnahme von Freiheit, Gleichberechtigung und immanenter Lebensqualität garantiert. Als geschichtsgestaltende Mächte zeigen sich daher die aufgezeigten Bedürfnisse des Individuums, dem die Gesellschaft sowie der Staat im nationalen sowie übernationalen Ausmaß zu dienen haben.

Wenn menschliche Gemeinschaftals Gesellschaft von Individuen verstanden wird und daher jedes einzelne Individuum für sich selbst und für die Gesellschaft als sinngebend gesehen wird, werden die ursprünglichen Rechte der natürlichen und geschichtlichen Gemeinschaften zugunsten des Individuums abgebaut Von Familie, Sippe, Nation, Volk wird nur das für das Individuum als gültig und verbindlich anerkannt, was seiner Entfaltung dient. Notwendige individuelle Opfer zur Existenz von Gesellschaft und Staat werden deshalb nicht aus Ehrfurcht vor diesen ursprünglichen und geschichtlichen Gemeinschaften geleistet, sondern müssen mit Gesetz und Sanktionen aufgebracht werden. Das bedeutet ein Minimum an Möglichkeiten für Staat und Gesellschaft.

Politische (nicht parteipolitische) Entscheidungen des Staates zugunsten seiner politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Freiheit und Selbstbestimmung finden an dem uneingeschränkten Freiheitsanspruch des Individuums seine Grenzen. Die natürlichen Gemeinschaften, wie Familie, Geschlechtsgemeinschaft (Ehe), Nation, Volk werden nicht so .sehr durch die Strukturen der Industriegesellschaft (Vereinzelung) zerstört, sondern dadurch, daß das einzelhafte Denken des Individuums in ihnen sich mit Rechts- und materiellen Ansprüchen an die Gesellschaft wendet, wo eigentlich, um jener Gemeinschaften willen, selbstverständliche und unbezahlte Leistungen und Opfer erbracht werden müßten (Pflegepensionen!).

Die Konzentration auf ein erfülltes Konsumleben des Individuums muß notwendigerweise nicht nur jede Ehr- furcht vor der Geschichte der eigenen Nation und des Vaterlandes zerstören, sondern auch eine Blindheit für das Bedenken der eigenen Geschichtlichkeit hervorrufen. Grundsätzlich aber werden alle Bezüge des Individuums bei Mißachtung der vorgegebenen und natürlichen Gemeinschaften ihres eigentlichen Sinnes entleert der darauf abzielt dem Glied dieser Gemeinschaften nicht nur materielles, sondern auch seelisches und geistiges Leben zu vermitteln.

Dazu kommt daß die Bezogenheit des Individuums auf die Transzendenz infolge seiner immanenten Sinnerfüllung absterben muß und das Ziel eines rein vegetativen Überlebens übrigbleibt Religion, und zwar gleichgültig welche, dient damit dem Individuum zur Selbstbestätigung des eigenen Wertes und wird so lange benützt, als sie in der Gesellschaft als anerkannte Religionsgemeinschaft etabliert ist. Auch die Trostfunktion einer Unsterb- lichkeitsreligigon hat nur so lange Kraft, als sie den Grundwerten der Gesellschaft zustimmt, da sich das In dividuum von der Gesellschaft her versteht.

Nach christlicher Auffassung ist der Mensch nicht vorrangig als Individuum und menschliche Gemeinschaft nicht als Nebeneinanderreihung von Individuen anzusehen, sondern in erster Linie als ein Geschöpf nach dem Ebenbüd Gottes geschaffen und zu gewachsenen Gemeinschaften, wie Ehe, Familie, Volk, berufen. In diesen Gemeinschaften erhält Gott die Menschen, auch wenn diese ihre Bestimmung als Gottes Ebenbild und Gottes Volk nicht anerkennen wollen. Es ist daher Aufgabe der menschlichen Gesellschaft, Volk, Nation oder Staat, diesen gewachsenen Gemeinschaften als Erhaltungsmedien in Recht und Wirtschaft materiell und geistig den entsprechenden Platz vor dem Einzelmenschen zuzuweisen.

Das fordert von dem Einzelmenschen ein grundsätzliches Zurückstehen in seinen Ansprüchen, damit diese Erhaltungsmedien über entsprechende Lebensmächte verfügen. Zu dieser Lebensmacht gehört, daß sie in einem demokratisch geordneten Staatswesen nicht als zufällige Gesinnungsmehrheit auftreten, sondern nach ihrer tatsächlichen Bedeutung vertreten sind.

Religion kann in einer so verstandenen Gesellschaft niemals als Privatsache behandelt werden, sondern bedeutet für das gesamte Staatswesen die Verankerung jedes einzelnen Bürgers in der Transzendenz, was dem einzelnen Bürger wiederum die Einzigartigkeit seines Wertes nicht nur im Rahmen der Gesellschaft oder Gemeinschaft sondern darüber hinaus in einem Leben nach dem Tode gibt.

Wenn sich der Sinn des Lebens von Mensch und Gemeinschaft erst in einem Leben nach dem Tode erfüllt dann bedeutet dies nicht nur eine gewisse Relativierung der immanenten Werte, sondern die Einbringung eines letzten und entscheidenden Kriteriums über Wert und Unwert des Daseins. Angesichts dieser Tatsache hat neben allen organisatorischen, wirtschaftlichen und sonstigen Aufgaben eine menschliche Gemeinschaft den Auftrag, bei ihren politischen Entscheidungen die Verankerung des Menschen in der Transzendenz und seine damit verbundene Rechtfertigung und Sinnerfüllung mitzubedenken.

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