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Personalistischer Sozialismus

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Noch stärker als Mitteleuropa, das noch zu sehr von den schweren ungelösten Rätseln der Nachkriegszeit in Anspruch genommen wird, ist der Westen des Kontinents mit dem großen Problem einer neuen Gemeinschaftsgestaltung beschäftigt. Das primitive Wollen stürmischer Reformer ist zeitlich begleitet von Auseinandersetzungen, in denen um die tiefsten Erkenntnisse, angehend die Grundrechte und das Ziel des menschlichen Daseins, einen neuen Begriff des Humanismus, aber auch das Wesen und den letzten Ursprung der Rechtsordnung gerungen wird.Neue sozialphilosophische Doktrinen und Gestaltungsversuche beschäftigen Wort und Schrift. Eine der jüngsten dieser geistig-konstruktiven Bemühungen stellt der „personalistische Sozialismus“ dar, mit dem sich die nachstehenden Ausführungen eines unserer holländischen Mitarbeiter beschäftigen.„Die Furche

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Noch stärker als Mitteleuropa, das noch zu sehr von den schweren ungelösten Rätseln der Nachkriegszeit in Anspruch genommen wird, ist der Westen des Kontinents mit dem großen Problem einer neuen Gemeinschaftsgestaltung beschäftigt. Das primitive Wollen stürmischer Reformer ist zeitlich begleitet von Auseinandersetzungen, in denen um die tiefsten Erkenntnisse, angehend die Grundrechte und das Ziel des menschlichen Daseins, einen neuen Begriff des Humanismus, aber auch das Wesen und den letzten Ursprung der Rechtsordnung gerungen wird.Neue sozialphilosophische Doktrinen und Gestaltungsversuche beschäftigen Wort und Schrift. Eine der jüngsten dieser geistig-konstruktiven Bemühungen stellt der „personalistische Sozialismus“ dar, mit dem sich die nachstehenden Ausführungen eines unserer holländischen Mitarbeiter beschäftigen.„Die Furche

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In dem Gegensatze von Individuum und Gemeinschaft versucht der neue Begriff „Personalismus“ zu vermitteln und der menschlichen Persönlichkeit jenen Platz zuzuweisen, der ihr gemäß ihrer strikt persönlichen wie auch sozialen Bestimmung zukommt. Aufs neue will sich unsere Zeit über diese fundamentale Lebensbeziehung aussprechen und versucht durch eine neue Formulierung1 als „personalistischer Sozialismus“ den beiden Grundelementen menschlichen Lebens gerecht zu werden und jene Norm zu finden, ' die Richtlinie und Maßstab werde beim Aufbau einer Gesellschaft, die nach sozialer Gerechtigkeit geordnet ist. Mit anderen Worten: er unternimmt es, jene soziale Lebensform festzustellen, die es def mensdilichen Persönlichkeit ermöglicht, ihre richtige Bestimmung auf Erden zu erfüllen.

Der „Personalismus“ geht, wie schon das Wort betonen soll, vom Primat des Geistes aus, denn der Adel jedeY Persönlichkeit .bestehe, wie er richtig herausstellt, in der standesgemäß erkannten und erfüllten persönlichen Lebensbestimmung und Berufung. Kapitalismus, Faschismus und Marxismus haben nach der gleichen Erkenntnis den tiefsten Wert des Menschen unberücksichtigt gelassen. Sie sehen allein den Stoff als Voraussetzung menschlichen Seins und Glücks und stellen den Stoff über den Geist. Der Personalismus will trotz seiner gebräuchlichen Wortverbindung mit Sozialismus den Primat der Person vor und über der Gemeinschaft betonen, deren Einrichtungen kein anderer Sinn innewohne, als die Entwicklung der Persönlichkeit zu unterstützen. Der Sozialismus hingegen erweist sich als notwendig, weil “die volle Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit eben nur in der Gemeinschaft möglich sei. Wer diesen „per-sonalistischen Sozialismus“ bejaht, sei also „Sozialist, weil eY Personalist ist, und nicht umgekehrt“ („Je Maintiendrai“, „Weekblad voor personalisme“, 9. November 1945). Das Ziel der Gemeinschaft ist die Persönlichkeit und ihre Rechte werden immer durch die Würde und Berufung der menschlichen Person bestimmt und begrenzt werden.

Das Gedankensystem des Personalismus stellt erkennbar einen Versuch des Menschen dar, sich selbst nach einer Zeit der Knechtung und Entehrung wiederzufinden. Zwangsläufig muß diese in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellte menschliche Persönlichkeit zu den letzten Fragen führen, und damit zu jenen um die menschliche Existenz überhaupt. Menschliche Freiheit, Selbständigkeit, Geistigkeit, was bedeuten diese Begriffe, wohin führen sie?Sind sie um ihrer selbst willen gegeben? Von wem stammt das menschliche Leben und was ist seine Bestimmung? Hierauf muß der Personalismus, wenn er die Person nicht als Endziel in seinem Gemeinschaftsleben mit anderen sieht, jene konkrete Antwort geben, die allein aus der Metaphysik, vom Glauben her kommen kann. Ohne diese Antwort, die die wahre menschliche Persönlichkeit im Spiegel der christlichen Grundwahrheiten betrachtet, würde der personalistische Sozialismus den Menschen seiner wahren Würde entkleiden und seine ethischen Normen, wie gegenseitiges Vertrauen, Gemeinschafts- und Nächstenliebe, blieben ohne Verankerung in einer unveränderlichen obersten Norm, Die unterschiedliche ethische Schätzung der Persönlichkeit, die ewige, übernatürliche und die irdisch-natürliche, entscheidet aber auch schließlich über das Verhältnis zwischen def Pefsönlichkeit und den verschiedenen Gemeinschaftsformen.

Hier sehen wir vor allem die Schwierigkeit einer ideologischen Synthese der sozialen Auffassung christlicher und sozialistischer Prägung. Daneben besteht sicherlich die große Möglichkeit einer Zusammenarbeit um bestimmte konkrete Ziele, vor allem für eine soziale Wirtschaftsreform. Denn der Fehler der sozialistischen I d * ö 1 o^g i e liegt nicht darin daß sie sozial ist, sondern daß sie materialistisch ist.

Der Gegensatz der Auffassungen über die Persönlichkeit zwischen der christlichsozialen und sozialistischen Grundsatzlehre liegt aber letzten Endes auch in der Einstellung zum Begriff der natür-H c'h e n Freiheit, die der Person in ihrem Streben nach dem Endziei zu eigen ist. Das Problem der Freiheit und der Bindung findet in der freien Gebundenheit gegenüber der gebundenen Freiheit der Soziallsten seine Lösung, während die Frage des Verhältnisses Individuum— Gemeinschaft nicht durch die erstrangige Verpflichtung des Individuums im Dienste der Gemeinschaft, sondern durch die dienende Funktion der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum gelöst wird.

Die Formulierung des Begriffes „personalistischer Sozialismus“ bedeutet eine neue Etappe in dem Bemühen, die christlichsozialen und humanistisch-sozialistischen Strömungen einander beizuordnen. Aber noch ist nicht das letzte, das befreiende Wort gesprochen. Die Probleme unserer Zeit, bedingt durch die unglaublich stürmische technische Entwicklung und begleitet von einer vorherrschend materialistischen Lebens- und Weltanschauung streben nach Lösung. Sie wird der kommenden Periode der Weltgeschichte ihren Stempel aufdrücken. Die „personalistischen Sozialisten“ werden zu dieser Lösung aber wohl nur dann einen positiven Beitrag leisten können, wenn sie neben all dem Gemeinsamen auf sozialökonomischem Gebiet auch die tiefergehenden Unterschiede in den geistigen Werten zwischen den beiden großen sozialen Strömungen erkennen und nicht durch eine vage Terminologie den vorhandenen Wesensunterschied zwischen theözentrischer und anthropozentrischer Ethik zu verschleiern suchen.

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