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Kein dritter Weg

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Es gibt keine kirchliche Lehre auf gleicher Ebene neben oder über anderen sozial-theoretischen Systemen, die eine Art „dritten Weges“ zwischen liberalem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus wäre. An beiden Systemen ist — vom christlichen Standpunkt aus — gewiß Kritik zu üben. Aber diese Kritik wird nicht zu einer eigenen „christlichen Lösung“ in der Form einer synthetischen oder Zentrumsdoktrin. Die Anhänger des klassischen Soziialkatholizismus, vor dem Krieg oft in der Form eines christlichen Korporatismus, des Solidaris-mus, des Personalismus oder der Ideologie der christlichen Demokratie haben sich meistens auf das kirchliche Lehramt berufen, wie jetzt die linksorientierten Katholiken sich auf die letzten Enzykliken berufen. Mit Recht oft, alber oft auch mit Unrecht, insofern sie nämlich die Anwendung dieser Lehräußerungen für ihre Auffassung zu monopolisieren versuchen und gegen die anderen Auffassungen von anderen Katholiken ausspielen. Vor dieser Gefahr des Mißbrauches der kirchlichen Autorität warnt das Konzil sehr ausdrücklich. „Oftmals wird gerade ein christliches Sehen der Dinge den Gläubigen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden mit gleicher Gewissenhaftigkeit anders urteilen. Wenn dann die beiderseitigen Lösungen, auch gegen den Willen der Parteien, sehr leicht als eindeutige Folgerung aus der Botschaft des Evangeliums betrachtet werden, so muß mindestens doch klar bleiben, daß in solchen Fällen niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen.“

Welche Schlüsse ergeben sich daraus?

1. Jede soziale Doktrin, die sich christlich nennt, ist als eine mögliche, teilweise gültige Anwendung und Weiterlbildung bestimmter christlicher Prinzipien und Werte in einem bestimmten, jeweils verschiedenen sozio-kulturellen und ideellen Zusammenhang zu sehen, wobei keine die Virtualitäten dieses Prinzips erschöpft.

2. Im Prinzip ist sowohl eine christliche Interpretation des Liberalismus wie des Sozialismus und auch des Kommunismus möglich. Jede dieser Interpretationen ist ebensosehr oder ebensowenig spezifisch christlich zu nennen wie die Auffassung des sogenannten Sozialkatholizismus. Die Christen sind in sozialökonomischer Hinsicht aus der Sache heraus „pluralistisch“ eingestellt, „pluralistischer“ als nicht-gläubige Sozialisten* liberaler, weil gerade das Christentum als solches kein soziales oder politisches Programm, sondern ein Glaube, eine durch den Glauben inspirierte Ethik ist.

Was bedeutet dieser „Pluralismus“, der seit dem Konzil zum Schlagwort im Jargon der katholischen Erneuerungsterminologie geworden ist? Zunächst eine Tatsache, den Zustand eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem einerseiits ein Prozeß der Differenzierung und Segmentierung der Denk- und Handlungsformen stattgefunden hat und anderseits der ökonomische und technische Unterbau des Lebens und die stark gewachsene Kommuniheit und wechselseitige Abhängigkeit zustandebringt. Antagonistische Gruppen, miteinander streitende Auffassungen, konkurrierende Werterlebnisse können nicht mehr voneinander isoliert bestehen, sondern müssen zusammen, miteinander leben. Daraus ergibt sich das Problem der strukturellen und institutionellen Gestaltung dieses Zusammenlebens, das früher vielfach durch die Institutionalisierung der religiösen und weltanschaulichen Verschiedenheit gelöst wurde. Nicht funktionale, sondern weltanschauliche Kriterien entschieden über die Angehörigkeit, die Mitgliedschaft von Gruppen und Vereinen. Heute vertreten die sogenannten progressiven Katholiken die These, das Konzil oder zumindest die nachkon-ziliare Dynamik bedeute „das Ende des konfessionellen Christentums“ und die Aufgabe der Bildung eines „horizontalen Pluralismus“. Die konfessionelle politische Partei, die christliche Gewerkschaft, christliche Krankenhäuser, die katholische Schule — kurz: der „Verbände-Katholizismus“ wird prinzipiell in Frage gestellt.

Wie steht es mit dem Linkskatholizismus? Kann man behaupten, „Populorum progressio“ sei eine Art Kanonisierung der linken — sagen wir: sozialistischen — Interpretation der christlichen Botschaft? Eines ist, glaube ich, wohl deutlich: die allgemeine „Wende nach links“ in der katholischen Kirche. Dies ist aber nicht, wie es oft geschieht, primär und ausschließlich politisch zu deuten. Die Wende nach links hat zwar politische Konsequenzen, aber keine kation eine schnell zunehmende Einpolitischen Ursachen. Sie bedeutet primär vielmehr die Dynamisierung des Selbstverständnisses der Lehre und des Lebens der Kirche. Das historische Band, die Identifikation zwischen Christentum und Konservativismus wird bewußt aufgebrochen; die christliche Botschaft und der christliche Glaube werden als .eine progressive Kraft in der Geschichte gewertet. Nicht nur als Kraft der moralischen Erneuerung, wie es eigentlich schon immer der Fall war, sondern auch in struktureller, politischer und kultureller Hinsicht.

Wie manifestiert sich nun diese „Wende nach links“ in „Populorum progressio“? Meiner Meinung nach vor allem in der neu formulierten Sicht des ganzen sozialökonomischen Lebens, das hier im allgemeinen Rahmen einer „Theologie der Entwicklung und des Fortschrittes“ gefaßt wird. Dies ist eine ganz andere Sicht als die klassische Theologie der natürlichen Ordnungen, die wir noch in „Pacem in terms“ antreffen. Der Begriff „Entwicklung“, den die Enzyklika oft verwandet, dist nicht Ohne weiteres mit Fortschritt gleichzusetzen, und gewisse Kommentare verwirren allzu gerne Entwicklung und Fortschritt.

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