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Die Herausforderung an das christliche Erbe erkennen

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Bei den Völkern Europas wächst der Wille zum gemeinsamen Leben, bei aller Vielfalt der Kulturen, der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten. In dieser Lage kommt der Besinnung auf die geistigen Grundlagen und das historische Erbe, die diesen Völkern gemeinsam sind, eine besondere Bedeutung zu. Der christliche Glaube, die in ihm begründeten und geborgenen geistigen Werte waren eine einheitsstiftende Kraft, die Kirche hatte damit eine besondere europäische Sendung. Jüngste Erklärungen des bischöflichen und päpstlichen Lehramtes verweisen darauf. Wie geschichtsmächtig ist diese Sendung aber heute?

Eine Konstante im Werden Europas ist das Spannungsverhältnis von Kirche und Staat. Die Kirche ist dabei als eigene politisch wirksame Macht und geistige Herausforderung in Europa, aus dessen politischer Geschichte nicht wegzudenken. Die Linie der Rechtsphilosophie und der Menschenrechte, begonnen im hellenisch-römischen Kulturkreis der Antike, setzte sich im christlichen Denken des Mittelalters fort und mündet in die Formulierung der Menschenrechte bis in unsere Tage.

Mit der Prägung des Geistes Europas hat das Christentum die Idee von Freiheit und Demokratie mitbestimmt. Nach der christlichen Naturrechtstradition hängt das Menschenrecht nicht vom Menschen ab, nicht vom Kollektiv und nicht vom Staat. Das Christentum war immer auch Herausforderung an das Kollektiv und hat seine Grenzen aufgezeigt. Gleichheit war immer auch Achtung vor jedem Menschen und dem Seinen als Ausdruck der Gerechtigkeit, ob er nun alt, krank, arm oder andersdenkend sein mag und so seinen Anspruch auf menschenwürdiges Leben in die Gemeinschaft einbringt. Sozial heißt für den Christen als eine Wesensaussage über jeden Menschen, daß es kein Freund-Feind-Büd gibt, kein sich Abkapseln im Ohne-Mich-

Denken, daß es auch ein Wissen um soziales Versagen gibt, aber auch um eine Sinntranszendenz und damit um ein Überschreiten eines reinen Konsum- und Leistungsdenkens, daß es eben ein christlich-soziales Lebensethos gibt.

Im christlichen Erbe eingeschlossen ist aber auch die in der Wurzel lange zurückliegende Versuchung zum Säkularismus und Atheismus als rein innerweltlich versuchtes System der Weltbeherrschung, als Abfall von Glauben und Geist und in der Folge als Umsturz und Verlust aller gültigen Werte. Um diesem Säkularismus und in der Folge all den „Ismen” als Messianismen im Europa des Aufstands gegen seinen geistigen Urgrund zu entgegnen, gilt es, die christliche Seele Europas wieder zu erwecken. Das heißt nichts anderes, als in irgendeiner Form in der konkreten europäischen Gesellschaft von heute wieder den gesellschaftlichen Auftrag der Kirche lebendig zu machen.

Sicher ist dieser Auftrag im Politischen ein indirekter. Das II. Vatikanische Konzil hat dies mit der Eigenständigkeit der irdischen Sachbereiche in Kultur und Politik herausgestellt, ohne freilich diese aus der sittlichen Ordnung und letzten religiösen Bestimmung zu entlassen. Europäische Kirchen haben sich daher aktuell besonders der Diskussion um die Grundwerte, ihren Schutz, aber auch um deren konkrete Verankerung im politisch-sozialen Leben zugewandt, zumal unsere Zeit vor allem eine Kulturkrise durchmacht, es ihr an Gesinnung und Ethos angesichts der modernen Herausforderungen durch die technische Kultur und den begleitenden Lebensstil in einer vielfach bedrohten Welt und Umwelt fehlt Die Realisierung einer gesellschaftlich-politisch wirkenden Kirche in einem lai- kalen Staat mittels des Dialogs und der Zusammenarbeit mit anderen Kräften guten Willens unter anderen Bedingungen als im alten Corpus Christiano- rum ist uns heute zur Aufgabe gestellt. Diese Kirche braucht dazu aber so etwas wie einen Katholizismus als Wirkkraft im gesellschaftlichen Raum zur Umsetzung ihrer Mission.

Dies wird deutlich angesichts einiger Verwirrung in Ländern, wo die gesellschaftlich formende Kraft der Kirche, gerade in traditionell katholischen Ländern wie Frankreich und auch Spanien ohne Träger ist. Dort ist der Eurokommunismus und ein nebulöser Sozialismus Christen zur Versuchung geworden, im Marxismus das innerweltliche Heil zu erwarten und sich als (vorübergehende) Verbündete absorbieren zu lassen: Im einfachen Klartext gesagt: ohne „Hausmacht” geht die Animation der Kirche ins Leere. In Spanien etwa sind einstige katholische Eliten unter der Arbeiterschaft Führungskader marxistischer Gewerkschaften geworden und machen rein innerweltliche Politik und marxistische Aktion!

Angesichts der Versuchung zum Säkularismus und zum sozialistischmarxistischen Messianismus bedarf es der Rückbesinnung auf das christliche Menschen- und Gesellschaftsbild und der Herausarbeitung der wesentlichen Unterschiede zu den säkularistischen Gleichheits- und Freiheitsparolen. Die Notwendigkeit einer Distanz zur unmittelbaren Politik in Parteien und zu verkürzten Ideologien verlangt um so größere Wachsamkeit. Kirche und Christen, die ‘ihren gesellschaftlichen Anspruch ~ nicht’ verkürzen, sondern sich als Hüter der Einheit und des Geistes im Dialog mit allen positiven Kräften sehen, die selbst im „Gegner” wirken können, müssen bei den „offenen Grenzen” dennoch die geistigen Grenzlinien erkennen und es auch wagen, sich als gesellschaftliche Kraft unabhängig zu formieren. Dabei ist die Lage in den verschiedenen Ländern durchaus unterschiedlich, sind die Möglichkeiten, sich zu formieren, sehr verschieden. Im Überblick über die Zonen Europas steht der vielgeschmähte „Verbändekatholizismus” gar nicht so schlecht da, wie in der Bundesrepublik oder in Österreich. Zählen wir ruhig die hier als Katholische Aktion mehr auf kirchlicher Trägerschaft aufgebauten Bewegungen dazu. Anders ist die Stimme der Kirche Polens etwa, die heute kräftig auch nach mehr gesellschaftlichem Freiheitsraum und Präsenz ruft und als Kraft im Volk eine bedeutende Macht trotz mehr als 30 Jahren Kommunismus darstellt. Verschieden wieder ist die Lage in den romanischen Ländern Europas, wo bei der Formierung des Laienapostolats als Stimme eines europäischen Katholizismus noch viel Aufbauarbeit wartet, wo auch eine geistige Dereutierung in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus an der Basis noch wirksam ist, angesichts eines großen Rückstaus im sozialen und politischen Bereich und eines politisch laizistischen Erbes im Staat bei vielfach weiterwirkenden alten überholten konkordatären Privilegien.

Wir müssen die Herausforderung an das christliche Erbe in Europa erkennen, eine Herausforderung an alle, die aus diesem Geist heute mitgestalten können und wollen. Bei einer Tagung katholischer Sozialethiker am Sitz der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach Anfang Juni zum Thema: Europa zwischen marxistischer Reaktion und demokratischer Freiheit, hat es Kardinal Josef Höffner, Köln, so formuliert: Die Einheit Europas und seine Stellung in der Welt wird davon abhängen, wie es, seiner Geschichte bewußt, gelingt, seine christliche Seele wiederzuerwecken. Die Kirche aber kann nur gegenwärtig werden, soweit das Zeugnis der Christen reicht. Sie müssen in ihrer gesellschaftlichen Sendung und Verantwortung selber neue Ursachen für diese Wiedererweckung setzen.

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