Wertschätzender Umgang MIT VIELFALT

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Trotz kultureller Differenzen gilt es, das Gemeinsame zu suchen. Übers schwierige Verhältnis europäischer Gesellschaften zu den Muslimen.

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Trotz kultureller Differenzen gilt es, das Gemeinsame zu suchen. Übers schwierige Verhältnis europäischer Gesellschaften zu den Muslimen.

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Keine Alternative zum Miteinander

Nach Kopftuch- und ähnlichen Debatten folgt nun der Wahlkampf: Österreichs Muslime werden auch darin Thema sein. Dabei ist nicht nur beim Würstelstand evident, dass das Miteinander von österreichischer und muslimischer Kultur längst gang und gäbe ist. Für die Gesellschaft insgesamt gilt das jedoch (noch) nicht. Ein FURCHE-Fokus zum Beginn des Ramadan (27. Mai).

Redaktion: Otto Friedrich

Im "globalen Dorf", zu dem die Welt zusammengerückt ist, wird es zunehmend schwieriger, den weltweiten Ereignissen und Entwicklungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, zu folgen, geschweige denn diese zu verstehen. Noch bevor wir ein Phänomen erfasst haben, werden wir von weiteren Ereignissen überrollt, sodass in vielen Fällen ein gesunder Umgang mit der Fülle an Informationen unmöglich erscheint.

Was oft übrig bleibt, ist eine kontinuierlich wachsende Unsicherheit, die in einer von Klarheit und Sicherheit geprägten Gesellschaft zu immer mehr Angst und Misstrauen gegenüber dem Unbekannten führt, was zwangsläufig große Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens hat. Diese negative Stimmung, die täglich zunimmt und deren Auswirkungen sich im Alltag bemerkbar machen, wird neben der Fülle an Informationen auch durch andere Faktoren stimuliert.

Verhärtung und Verunsicherung

Im globalen Kontext haben vor allem die inkonsistenten und intransparenten gegenwärtigen politischen Agitationen vieler demokratischer Staaten zur Verhärtung der Verunsicherung unter der Bevölkerung beigetragen. War es vor dem Zerfall des Kommunismus einigermaßen klar, wer wofür stand, wird mittlerweile immer unklarer, wer "Opfer" und wer "Täter" ist, wer unsere "Verbündeten" und wer unsere "Gegner" sind, welche Werte als "unsere" gelten und welche nicht bzw. was überhaupt mit "wir" gemeint ist und wer "die Anderen" sind. Im lokalen Kontext wird die negative Stimmung dadurch zusätzlich erhitzt, dass immer mehr Menschen sich durch die permanenten und rasanten Veränderungen ihres Umfeldes der eigenen Identität beraubt und entfremdet fühlen und empfänglich für Ideologien werden, die eine Wiederherstellung der alten und vertrauten Ordnung versprechen.

Angesichts der vielen terroristischen Anschläge und der Zunahme an politischen Kräften, die sehr an einer negativen Stimmung interessiert sind, um eigene politische Interessen durchzusetzen, die unter "normalen" Bedingungen kein Gehör finden würden, ist es nicht verwunderlich, dass sich trotz eines relativen Wohlstandes und des seit 50 Jahren andauernden Friedens in Europa viele Bürgerinnen und Bürger bedroht fühlen und in der Lage sind, eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Menschheitsgeschichte, die Europäische Union, zerstören zu lassen. Dass sich eine erhebliche Zahl von Menschen von populistischen Politikern überzeugen lässt, ohne zu bemerken, dass die versprochenen "Lösungen" nie verwirklicht werden können, ohne die Werte zu untergraben, auf die sich diese Politiker angeblich stützen, zeigt, wie sehr einige Menschen von der aktuellen Lage irritiert sind.

Diese Situation des Misstrauens und der Verunsicherung gegenüber dem Anderen hat zwangsläufig auch Auswirkungen auf den Alltag. Aktuell werden das Misstrauen und die Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft besonders rund um das leidige Thema Integration sichtbar, welches in den letzten Jahren ausschließlich in Verbindung mit dem Islam diskutiert wurde. Besonders nach den Anschlägen des 11. September 2001 vergeht kein Tag, an dem nicht das Zusammenleben mit den Muslimen in einer pluralen und multireligiösen Gesellschaft durch bestimmte Medien, Politiker, Wissenschaftler und andere Akteure in Frage gestellt wird.

Was aber kann getan werden, um die negative Stimmung einzudämmen und um zu mehr Sachlichkeit beizutragen? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, da komplexe Phänomene sich nicht einfach und monokausal erklären lassen. Trotzdem erscheinen einige Punkte von enormer Bedeutung für die Versachlichung der Diskussionen über die religiöse und kulturelle Vielfalt in unserem Land.

In den Diskussionen rund um die kulturelle und religiöse Pluralität fällt auf, dass oft vergessen wird, dass es bei den Debatten nicht um Religionen und Kulturen "an sich" geht, sondern um konkrete Menschen, die Teil einer bestimmten Kultur bzw. Religion sind. Denn "Kulturen sprechen nicht", wie Frank-Olaf Radtke schreibt, sondern es sind immer Menschen, die Kulturen und Religionen verkörpern und zur Sprache bringen.

Damit wird die Frage der Verantwortung freigelegt sowie die Frage nach den Kriterien des Handelns. Im Hinblick auf unsere Gesellschaft bedeutet das, dass die unantastbare Würde des Menschen als das wichtigste Fundament einer pluralen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaft einerseits und der meisten Religionen andererseits nicht außer Acht gelassen oder beschädigt werden darf. Dies wiederum impliziert auch die volle Anerkennung der Menschenrechte. Die aktuelle Herausforderung besteht darin, die Würde des Menschen und die daraus resultierenden Menschenrechte als Fundamente der Gesellschaft gemeinsam und kompromisslos zu verteidigen, unabhängig davon, um welches Menschenrecht es sich handelt und wer davon betroffen ist.

Nicht auf Kosten der Menschenwürde

Wir dürfen nicht zulassen, dass "Lösungen" auf Kosten der Würde des Menschen oder einzelner Menschenrechte durchgesetzt werden, unabhängig davon, ob diese "Lösungen" religiös oder säkular legitimiert werden. In diesem Zusammenhang ist die Mehrheitsgesellschaft herausgefordert, sich immer wieder auf diese Errungenschaften der Aufklärung zu besinnen, um nicht zu vergessen, dass die Aufklärung ein Prozess ist, der kontinuierlich gepflegt werden muss, damit diese Werte nicht verblassen. Die Überzeugung, Europa habe die Aufklärung hinter sich, ist trügerisch und blendet die Rückfallgefahr hinter die Aufklärung und die Notwendigkeit eines ständigen Kampfes zwischen Aufklärung und Rückständigkeit aus.

Aus muslimischer Perspektive betrachtet bedarf es besonders einer Auseinandersetzung mit theologischen Positionen, die in Widerspruch zur Würde des Menschen und den Menschenrechten stehen. Kein Dogma und keine religiöse Vorschrift kann, unabhängig von der ethnischen, kulturellen und der religiösen Zugehörigkeit der betroffenen Person, eine Grundlage für die Ablehnung der Menschenwürde sein bzw. die Einschränkung der Menschenrechte legitimieren.

In Anlehnung an die Würde des Menschen als konstitutives Element einer pluralen und demokratischen Gesellschaft bedarf es einer besonderen wertschätzenden Haltung zur Pluralität, um einen Zwiespalt innerhalb der Gesellschaft zu verhindern. Dies ist umso notwendiger, als die religiös - weltanschaulichen und kulturellen Unterschiede zunehmend als unüberbrückbare Differenzen dargestellt werden, mit der die These nach der Aussichtslosigkeit einer Koexistenz begründet werden soll. Gegenüber diesem Zugang zu Differenzsetzungen, der in der Menschheitsgeschichte sehr viel Leid verursacht hat, sind wir alle herausgefordert, Haltungen zu kultivieren und zu fördern, die es ermöglichen, in Vielfalt zu leben, die Differenzen wertzuschätzen und trotzdem das Gemeinsame zu suchen.

Gleicher Hass, verschieden begründet

Die Trennlinien verlaufen hier nicht zwischen den Religionen, Kulturen oder ethnischen Zugehörigkeiten, wie oft suggeriert wird, sondern zwischen verschiedenen Haltungen, die sich in allen Religionen und Kulturen zeigen. So sind Lösungen nicht ausschließlich im Inneren, innerhalb religiöser, kultureller, nationaler Bündnisse zu suchen, sondern - stärker als bis jetzt - mit Gleichgesinnten aus anderen Kulturen, Ethnien und Religionen: Denn Antisemitismus, Islamophobie und Christenverfolgung gründen auf derselben Geisteshaltung, auch wenn ihr Hass unterschiedlich begründet und auf unterschiedliche Gruppen projiziert wird.

Nicht zwischen bestimmten Religionen und Kulturen verlaufen also die Trennlinien, sondern zwischen jenen, die der Auffassung sind, die Wahrheit gefunden und in Besitz genommen zu haben, und jenen, die im Bewusstsein der Unverfügbarkeit der Wahrheit ständig auf der Suche nach der Wahrheit sind und sich somit als Suchende verstehen; auch zwischen jenen, für die die Welt aus Schwarzweiß-Kontrasten besteht, und anderen, denen die Komplexität der Welt bewusst ist; oder jenen, die die Vielfalt als gottgewollt betrachten und anderen, die das Fremde als einen zu eliminierenden Störfaktor ansehen. In diesem Sinne spielt die Haltung eine entscheidende Rolle, ob Menschen die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen oder ob die Menschenwürde für sie nur insofern eine Bedeutung besitzt, als sie den eigenen Interessen dient. Die Liste gegensätzlicher Haltungen könnte unendlich weitergeführt werden.

Wichtig ist jedoch dabei klar zu halten, dass es für unsere Gegenwart und Zukunft von existenzieller Bedeutung ist, ob wir in der Lage sind, Menschen nicht aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zu klassifizieren und zu beurteilen, sondern aufgrund ihrer Haltung zur Menschenwürde und den Menschenrechten, die unseren Kontinent zu dem gemacht haben, was er zurzeit ist und die in unsere Wissens- und Lebenskulturen sowie unsere Kulturen eines wertschätzenden Umgangs mit Vielfalt eingeflossen sind. Genau darin liegt das Potenzial Europas. Wir sollten es nützen und miteinander gestalten.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Uni Innsbruck

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