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Kara Tepe: "Solidarität birgt auch Gefahren"

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Wird moralischer Konsens überbewertet? Soziologe Vincent August über die Grenzen des Solidaritätsbegriffes, linke Parteien in der Zwickmühle und Bürgergremien als Kitt für Gemeinschaften.

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Wird moralischer Konsens überbewertet? Soziologe Vincent August über die Grenzen des Solidaritätsbegriffes, linke Parteien in der Zwickmühle und Bürgergremien als Kitt für Gemeinschaften.

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Wir neigen dazu, sozialen Zusammenhalt immer über die Form von Werte- oder Interessenskonsens zu denken, sagt Vincent August, Soziologe mit dem Forschungsschwerpunkt „Sozialer Zusammenhalt“ an der Humboldt Universität zu Berlin sowie regelmäßiger Autor von theorieblog.de. Auch für die Frage, ob Österreich Geflüchtete aus Kara Tepe aufnehmen soll oder nicht, sei das Solidaritätsargument zwiespältig. Im Interview erklärt er, warum.


DIE FURCHE: NGOs, Akteure aus der Zivilgesellschaft, diverse Bürgermeister fordern die Aufnahme von Geflüchteten aus Lesbos. Die ÖVP spricht sich dagegen aus und beruft sich auf eine Grundstimmung in großen Teilen der Bevölkerung. Hat Österreich ein Solidaritätsproblem?
Vincent August: Das Thema Lesbos bzw. die Zustände im Lager Kara Tepe werden jedenfalls als Solidaritätsproblem verhandelt. Von den Medien, von der Politik und nicht zuletzt von den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Solidarität spielt als Begriff in der Debatte eine entscheidende Rolle. Dort werden aber unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität verhandelt: Was heißt es, solidarisch zu handeln? Wer will oder soll mit wem solidarisch sein? Da setzen Probleme des Solidaritätsbegriffes an.

DIE FURCHE: Warum ist der Begriff Solidarität problembehaftet?
August: Solidarität birgt Chancen, aber auch Gefahren. Einerseits ist sie ein Versprechen auf soziale Einheit und Gerechtigkeit. Andererseits bedeutet Solidarität aber auch, einem moralischen Imperativ zu folgen – man soll solidarisch handeln und dafür Opfer erbringen. Folgt man dem nicht, kann das zu Ausschluss und Denunziation führen. Die Frage, wer Solidarität verdient, erzeugt zudem Konfliktlinien. Selbst wenn es um vermeintlich gesamtgesellschaftliche Solidarität geht, findet Ausgrenzung statt. Man konnte das in der Coronakrise gut beobachten.

DIE FURCHE: Inwiefern äußert sich das in der Flüchtlingsfrage?
August: Zum Beispiel, wenn europäische Solidarität mit der Forderung nach einer Festung Europa verbunden wird. Da wird der Solidaritätsbegriff benutzt, um eine Abschottung zu legitimieren.

DIE FURCHE: Viele sagen, Europa hätte eine moralische Verpflichtung, Menschen auf der Flucht zu helfen. Allerdings würde das wiederum implizieren, dass Europa tatsächlich aus einer Gesellschaft besteht. Ist das so?
August: Europa bildet sicher eine Art Gesellschaft, die sich auf Menschenrechte verpflichtet hat. Solidarität bezeichnet aber eine spezifische Form sozialen Zusammenhalts, die zwei Dinge verbindet: Einerseits beruft sich Solidarität auf ein Mitleiden mit anderen – weil man sich in ihr Elend hineinversetzt oder sich einer kollektiven Bedrohung, einem Virus etwa, gegenübersieht – und sie aktiviert so ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Andererseits leitet sie genau daraus einen moralischen Imperativ gegenüber dieser imaginierten Gemeinschaft ab.

DIE FURCHE: Gemeinschaft ist zunächst eine Imagination?
August:
Prinzipiell ja. Auf dieser Basis stellt sich dann die Frage: Wer ist diese Gemeinschaft überhaupt? Wer gehört dazu, wer nicht? Woran wird das festgemacht? Das wird sehr unterschiedlich gesehen. Darum ranken sich die politischen Konflikte.

DIE FURCHE: Die Frage, ob Österreich Geflüchtete aus Lesbos aufnehmen soll oder nicht, ist demnach eine Frage der Definition, wer Teil unserer Gemeinschaft ist?
August:
Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Zu Europa gehört die Vorstellung, dass wir – bei allem anderen – auch eine globale Gemeinschaft mit allen Menschen bilden. Und daraus ergeben sich auch Pflichten gegenüber all diesen Menschen. In der Coronakrise und auch in der Migrationsdebatte steht aber oft eine nationale Gemeinschaft im Vordergrund. Auch wenn Regierende mit dem Begriff der Solidarität werben, werden oft nationale Gemeinschaften fokussiert. Das hat die Forschung mehrfach gezeigt. Rechtspopulistische Strömungen spitzen das zu. Sie begreifen Gemeinschaft als abgeschlossenes Gebilde, das es gegenüber äußeren Einflüssen, vermeintlichen Gefahren zu beschützen gilt.


DIE FURCHE: Sie haben oben betont, dass Gemeinschaft durch eine kollektiv wahrgenommene Bedrohung gestärkt werden kann. Auch Geflüchtete wirken auf manche bedrohlich.
August
: Es ist vor allem die politische Strategie von rechtspopulistischer Seite, Geflüchtete als kollektive Bedrohung zu framen. Das ist der Versuch, eine interne
Gruppensolidarität – etwa die der Österreicher – zu generieren, die sich dann gegenüber einer angeblichen Gefahr zu positionieren hat
. Das ist ein Konstruktionsversuch, den es zu dechiffrieren gilt.


DIE FURCHE: Wie kann das gelingen?
August:
Dafür gibt es kein Patentrezept. Aber die Bedrohungsthese widerspricht zentralen Erkenntnissen aus der Migrationsforschung. Zudem kann man auf Normkonflikte hinweisen: Passt eine solche Haltung zur Migration mit unseren persönlichen und sozialen Normen zusammen? Die Verweigerung oder Reduktion von Asylansprüchen verstößt klar gegen den Normenhorizont der europäischen Gesellschaften, aber auch gegen eine christliche Haltung. Ferner sind Lager wie Kara Tepe strategisch unklug. Denn bei solchen Zuständen kommt es eher zu Radikalisierung.

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