Christlich Sozial - © Foto: Gianmaria Gava

Bettina Rausch und Maria Maltschnig: „Ist das christlich-sozial?“

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Die Coronakrise macht vieles sichtbarer. Betrifft das auch das Christlich-Soziale in der Regierung? Ein Grundsatzgespräch zwischen den Parteiakademie-Leiterinnen von ÖVP und SPÖ, Bettina Rausch und Maria Maltschnig.

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Die Coronakrise macht vieles sichtbarer. Betrifft das auch das Christlich-Soziale in der Regierung? Ein Grundsatzgespräch zwischen den Parteiakademie-Leiterinnen von ÖVP und SPÖ, Bettina Rausch und Maria Maltschnig.

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Zuerst hat die Coronakrise den Begriff der „Solidarität“ nach oben gespült, danach war es die „Eigenverantwortung“. Nun, angesichts steigender Fallzahlen, wird dieses Prinzip hinterfragt. Im Selbstverständnis der ÖVP hat es freilich einen zentralen Platz: Das zeigt sich auch in einem neuen Sammelband der Politischen Akademie der ÖVP, in dem namhafte Autorinnen und Autoren „Christlich-soziale Signaturen“ skizzieren und die Prinzipien der christlichen Soziallehre beleuchten. Doch wie merkbar sind Solidarität oder Eigenverantwortung in der konkreten Politik, zumal in der Krise? Die FURCHE hat Bettina Rausch, Präsidentin der Politischen Akademie, und Maria Maltschnig, Direktorin des Karl-Renner-Instituts der SPÖ, zum Austausch gebeten.

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DIE FURCHE: „Sozial ist, was stark macht“: Mit diesem Satz von Sebastian Kurz haben Sie, Frau Rausch, Ihren Buch-Beitrag über christlich-soziale Politik begonnen. Unterstreichen Sie diesen Satz, Frau Maltschnig?


Maria Maltschnig: Durchaus. Die Frage ist nur, was der Bundeskanzler damit meint. Ich vermute, dass er darauf hinauswill, dass man die Menschen nicht allzu gemütlich in ihrer Hängematte liegen lassen und sie lieber dazu motivieren sollte, wieder aufzustehen. Wenn man sich die konservative Sozialpolitik ansieht, ist das auch konsistent. Ich glaube allerdings, dass die Frage dieser Hängematte gesellschaftlich nachrangig ist. Denn Sozialpolitik meint ja in Österreich in erster Linie nicht Armutsbekämpfung, sondern das gesamte Sozialversicherungssystem, von dem fast jeder im Laufe des Lebens profitiert. Und hier unterscheiden sich schon unsere Menschenbilder: Wir würden den Menschen etwa nicht in erster Linie Faulheit unterstellen, wenn sie nicht in Beschäftigung sind, sondern wir gehen davon aus, dass die allermeisten selbst sehr darunter leiden.


Bettina Rausch: Da kommen wir tatsächlich zum Kern des Unterschiedes: Wenn man uns vorwirft, Menschen Faulheit zu unterstellen, würde ich entgegnen, dass die sozialdemokratische Rede von der „Ausgrenzung“ armer Menschen diesen zu viel Passivität unterstellt. Es geht doch darum, den Menschen etwas zuzutrauen und zu sagen: Nur Mut, du kannst es! Ja, Eigenverantwortung im christlich-sozialen Sinn ist auch eine Zumutung – aber eine im schönsten Sinn des Wortes, weil sie dem Menschen sagt: Du hast die Chance, dich mit deiner Situation auseinanderzusetzen. Wobei es in Österreich natürlich auch solidarische Handreichungen gibt, zu denen wir uns alle bekennen.


Maltschnig: Ihre Interpretation der „Ausgrenzung“ ist ein Missverständnis. Viele
der Armen in diesem Land sind Kinder, die zwar nicht unterernährt sind, aber etwa kein Geschenk mitbringen können, wenn sie zu einer Geburtstagsfeier eingeladen sind. Hier ist Armut wirklich ausgrenzend.

Die Rede von ,Ausgrenzung‘ unterstellt zu viel Passivität. Es geht darum, Menschen etwas zuzutrauen.

Bettina Rausch
Christlich Sozial - © Foto: Gianmaria Gava

Bettina Rausch

Bettina Rausch ist eine österreichische Politikerin (ÖVP). Rausch war von 2008 bis 2013 Mitglied des Bundesrates für Niederösterreich und von 2013 bis 2018 Abgeordnete zum Landtag von Niederösterreich. Seit 2018 ist sie Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei.

Bettina Rausch ist eine österreichische Politikerin (ÖVP). Rausch war von 2008 bis 2013 Mitglied des Bundesrates für Niederösterreich und von 2013 bis 2018 Abgeordnete zum Landtag von Niederösterreich. Seit 2018 ist sie Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei.

DIE FURCHE: Bleiben wir noch bei der Eigenverantwortung: Die Regierung hat sie zuletzt als Motto ausgegeben, doch nun werden wieder Masken vorgeschrieben. Sind wir nicht eigenverantwortlich genug?


Rausch: Ich breche grundsätzlich eine Lanze für die Eigenverantwortung, die immer auch eine Schwester der Freiheit ist, denn ich kann meine Freiheit nur in Verantwortung für das Gemeinwohl ausleben. Ich verstehe den Gesundheitsminister deshalb auch, dass er von Verordnungen zu Empfehlungen übergegangen ist. Aber wir sehen jetzt auch, dass Eigenverantwortung ihre Tücken hat. Möglicherweise ist sie in einer Phase, in der vieles neu und unsicher ist, tatsächlich eine Zumutung.


Maltschnig: Ich denke, hier hat sich vor allem gezeigt, was passiert, wenn man nicht offen kommuniziert. Zuerst hat die Regierung gesagt, dass es außer in vier Ausnahmefällen verboten wäre, den öffentlichen Raum zu betreten; und dann stellt sich Wochen später heraus, dass das eigentlich nie verboten war. So etwas verunsichert zutiefst, sodass das Vertrauen gegenüber der Regierung infrage gestellt wird.


Rausch: Ich muss hier Rudolf Anschober in Schutz nehmen, der den Hauptteil der Kommunikation zu stemmen hatte. Man kann im Nachhinein akademisch diskutieren, ob das Bemühen um Klarheit und Verknappung richtig war – aber in der damaligen Situation gab es nur ein großes Ziel: nämlich Menschenleben zu schützen.


Maltschnig: Aber man hätte sagen können: Aus politischen Gründen und weil wir dem Menschen Eigenverantwortung zutrauen, wollen wir nicht unter Strafe stellen, dass jemand das Haus verlässt. Aber wir appellieren eindringlich, das nicht zu tun. Das wäre eine adäquate Kommunikation gewesen, die auch wiedergegeben hätte, was in der Verordnung gestanden ist.


Rausch: Ex post ist immer alles leichter, der Wissensstand der Entscheidungsträger hat sich ständig verändert. Doch einen adäquaten Kenntnisstand braucht es immer, um gute, eigenverantwortliche Entscheidungen treffen zu können – auch seitens der Bürgerinnen und Bürger. Das halte ich übrigens in Zeiten von Social Media und enormem medialen Grundrauschen für eine der größten Herausforderungen.

Der Islam ist eine Religion, die hier Rechte genießt, die ihr zustehen. Aber den Islamismus und die politische Rhetorik, die damit einhergeht, lehnen wir ab.

Bettina Rausch

DIE FURCHE: Kommen wir zum Prinzip der Solidarität: Die Pandemie hat viele wunde Punkte offengelegt: zuletzt in der Fleischindustrie. Wie ordnen Sie das ein?


Maltschnig: Diese Krise hat gezeigt, dass Entlohnung nur wenig mit Leistung zu tun hat. Am stärksten hat sie im Pflegebereich den Schmerzpunkt getroffen: Wir haben gesehen, wie hilflos unser Pflegesystem ohne die 24-Stunden-Betreurinnen aus dem Osten ist – denen man noch vor zwei Jahren die Familienbeihilfe gekürzt hat. Hier zeigt sich, wie fehlgeleitet eine Politik ist, die nach unten tritt.


Rausch: Natürlich kann man sagen, alle Kinder von Menschen, die in Österreich arbeiten, sollen gleich viel Geld bekommen. Aber wenn man sieht, dass in Rumänien, Bulgarien oder der Slowakei die Kaufkraft eine andere ist als hier, wäre das auch eine Ungleichbehandlung gegenüber den Kindern vor Ort. Deshalb kann ich zu dieser Entscheidung auch stehen. Aber ich möchte den Fokus auch auf das Heute richten: Wenn man sich die aktuellen Maßnahmen der Regierung ansieht – Steuerentlas tung, Einmalzahlung von 450 Euro beim Arbeitslosengeld oder Familienhärtefonds –, dann kommen sie jenen mit kleineren Einkommen überproportional zugute.


Maltschnig: Trotzdem verstehe ich nicht, was beim Arbeitslosengeld gegen eine Erhöhung der Nettoersatzrate von 55 auf 70 Prozent sprechen würde!


Rausch: Es ist aus unserer Sicht einfach kein aktivierendes Signal!


Maltschnig: Aber auf zehn Arbeitssuchende kommt derzeit nur eine offene Stelle, das heißt: Neun Menschen haben nicht einmal eine Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Und denen kann ich ja nicht sagen: Es gibt zwar keine Jobs, aber wir wollen dich irgendwie ermutigen!


Rausch: In der Krise haben wir sicher eine Sondersituation, deshalb gibt es ja auch viele zusätzliche Instrumente – darunter die Kurzarbeit. Und es gibt viele weitere Vorschläge, die im Parlament in den nächsten Wochen und Monaten diskutiert werden. Ich bin aber davon überzeugt, dass es besser ist, Menschen nicht durch Arbeitslosengeld zu alimentieren, sondern Arbeit als sinnstiftenden Teil des Lebens zu begreifen und alles zu tun, damit in Österreich Arbeitsplätze geschaffen werden.


Maltschnig: Da überschneiden wir uns. Auch wir wollen den Menschen kein Geld in die Hand drücken und sagen: Werde damit glücklich – sondern jenen, die keine Arbeit haben, den Weg in die Gesellschaft offenhalten, weil Arbeit eben sinnstiftend ist. Das war auch der Grundgedanke unserer „Aktion 20.000“ für Langzeitarbeitslose über 50 Jahre. Man hätte ihnen die Chance gegeben, ordentlich bezahlt zu werden und nicht ins Arbeitslosensystem oder in die Mindestsicherung zu fallen. Das wäre ein christlich-soziales Thema, bei dem wir zusammenkommen könnten.


Rausch: Das System der Kurzarbeit ist ja auch unter sozialpartnerschaftlicher Einbindung entwickelt worden. Wenn es gute Ideen gibt, verschließen wir uns nicht.

Diese Krise hat gezeigt, dass Entlohnung nur wenig mit Leistung zu tun hat. Am stärksten hat sie den Schmerzpunkt im Pflegebereich getroffen.

Maria Maltschnig
Christlich Sozial - © Foto: Gianmaria Gava

Maria Maltschnig

Maria Rosa Maltschnig ist Direktorin des Karl-Renner-Instituts, der politischen Akademie der SPÖ.

Maria Rosa Maltschnig ist Direktorin des Karl-Renner-Instituts, der politischen Akademie der SPÖ.

DIE FURCHE: Es gibt, unter anderem von der Katholischen Sozialakademie, seit jeher das Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das in Krisen existenzsichernd sei. Was halten Sie davon?


Rausch: Ich persönlich tue mich mit dem Begriff „bedingungslos“ schwer, weil das danach klingt, als würde man den Menschen von seiner Rolle als freies, aber auch verantwortliches Wesen entbinden. Es kann auch nicht sein, dass die Menschen bezahlt spazieren gehen. Die Arbeit wird uns ja nicht ausgehen – von Pflege bis Bildung. Die Frage ist daher vielmehr, wie wir diese Arbeit gestalten und entlohnen, sodass sie gerne und gut gemacht wird.


Maltschnig: Ich habe ein ganz anderes Problem: Wenn man jedem Menschen ein existenzsicherndes Grundeinkommen auszahlen möchte, würde das so viel kosten, wie unsere gesamten Steuereinnahmen ausmachen. Es wäre also eine Entscheidung zwischen Grundeinkommen und Sozialstaat – und da muss ich nicht lange überlegen, um mich für den Sozialstaat zu entscheiden. Natürlich kann man auch die Vermögens- und Erbschaftssteuern einführen – und ich halte es für einen Skandal, dass es die noch nicht gibt –, aber eine Staatsquote von 75 Prozent geht sich trotzdem nicht aus. Trotzdem bin ich der Grundeinkommens-Diskussion dankbar, weil sie viele wichtige Dinge auf den Tisch gebracht hat: etwa, dass Menschsein ausreicht, um nicht verhungern zu müssen – oder dass es soziale Leistungen ohne Stigma geben muss.

DIE FURCHE: Ein letzter Punkt zum Thema Solidarität betrifft den Umgang mit Geflüchteten und Migranten. Kritiker werfen der neuen Volkspartei vor, ihre christlichsozialen Grundsätze hier zu verraten. Wie weit muss Solidarität gehen, Frau Rausch?


Rausch: Hier muss man zwei Fakten sehen: Zum einen hat kaum ein anderes Land gemessen an den Einwohnern so viele geflüchtete Menschen aufgenommen wie Österreich. Zweitens gibt es viel mehr Menschen auf der Welt, denen es schlechter geht als uns, als wir in Österreich und Euro pa je aufnehmen könnten. Wir stehen also vor einem schier unlösbaren globalen Problem. Solidarität ist hier sicher ein Schlüsselbegriff. Aber diese Solidarität muss auch machbar sein und darf den Menschen nicht überfordern, wie Manfred Prisching in unserem Buch schreibt. Und ohne aktive Integrationsbemühungen kann die Aufnahme von Menschen nicht funktionieren. Christlichsoziale Politik bezieht diese Zumutbarkeit immer mit ein – und man sieht auch, dass wir keine endgültigen Antworten haben.


Maltschnig: Wenn man in puncto Flucht weiterkommen wollte, müsste man aber auch einmal bereit sein, ernsthaft an einer europäischen Lösung mitzuwirken. Und ja, ich glaube auch, dass Integration die erste Priorität ist, aber ich denke, dass man sie nicht in erster Linie über Strafen und Mindestsicherungskürzungen erreicht, sondern darüber, dass man von den Leuten Aktivität verlangt und auch fördert. Wir hatten einmal ein Integrationsjahr mit Sprachkursen und Qualifizierungsmaßnahmen, doch das gibt es seit Schwarz-Blau nicht mehr. Und ja, auch in der Integration kann man Eigenverantwortung verlangen. Nur ist es problematisch, wenn man die Themen Integration und Zuwanderung ausschließlich problematisiert und sich christdemokratische Parteien in aktiver Abgrenzung zum Nichtchristlichen, konkret zum Islamischen, positionieren, wie Regina Polak im Buch schreibt. Eine solche Kampagne sieht man auch bei der ÖVP.


Rausch: Das ist eine Unterstellung. Es wird immer klar gesagt: Der Islam ist eine Religion, die hier die Rechte genießt, die ihr als anerkannter Religionsgemeinschaft zustehen. Aber den Islamismus und die politische Rhetorik, die damit einhergeht, lehnen wir ab. Und damit kann ich sehr gut leben.

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