"Die Ideologie heißt heute Wettbewerb“

Werbung
Werbung
Werbung

Ist die Zeit des Lagerdenkens in Österreich vorbei? Braucht die Politik neben neuen Ideen auch neue Ideologien? Eine Debatte junger politischer Vordenker.

Das Gespräch führten Oliver Tanzer und Sylvia Einöder

Die Auseinandersetzung mit den Kämpfen des Februar 1934 wurde von der Politik sehr lang gar nicht geführt. Heuer soll es erstmals ein parteiübergreifendes Gedenken geben. Zeit, den politischen Nachwuchs zum Thema Ideologie zu befragen.

Die Furche: Die Ereignisse des Februar 1934 waren für das offizielle Österreich lange tabu. Sind diese parteipolitischen Gräben zwischen SPÖ und ÖVP für die junge Riege noch spürbar?

Georg Hubmann: Der Konflikt war eine zentrale Auseinandersetzung um die Demokratie und der einzige bewaffnete Widerstand gegen die faschistische Machtübernahme in vielen Ländern Europas. Wenn heute das Vertrauen in die repräsentative Demokratie und die Wahlbeteiligung sinken, ist es ganz wichtig, systematisch zu schauen, unter welchen Umständen die Demokratie zustande gekommen ist, und darüber nachzudenken, wann Demokratie gefährdet ist.

Die Furche: Herr Mahrer, ist es ein Zeichen politischer Reife, dass es nach einem kurzen Intermezzo in den 1970er-Jahren 50 Jahre brauchte, um heuer einen Akt gemeinsamen Gedenkens auf dem Zentralfriedhof zustandezubringen?

Harald Mahrer: Ich weiß nicht. Sicher ist, dass die ÖVP nicht die Nachfolge-Organisation der Vaterländischen Front ist. Ich glaube, dass nach dem Krieg Persönlichkeiten aus beiden Lagern erkannt haben, dass man das Land nur durch Zusammenarbeit weiterbringt. Dennoch hat sich ein Lagerdenken erhalten, weshalb es wohl so lange dauerte mit einer Versöhnungsgeste. Ich meine, dass das 34er-Jahr auch für viele politisch Tätige einfach kein Thema ist.

Sigrid Maurer: Schon richtig. Aber die ÖVP hat noch immer ein Dollfuß-Bild im Parlamentsklub hängen, und das halte ich für die aktuelle Diskussion für sehr relevant. Die Aufarbeitung hat nie stattgefunden. Ich selbst habe in der Schule von den Februarkämpfen gar nichts gehört.

Die Furche: Aber welche Bedeutung haben Ideologien heute im politischen Diskurs und was ist mit den Ideologien von damals geschehen? Hubmann: Ich finde es wichtig, die eigene politische Identität mit einer historischen Basis zu versehen. Man sieht ja schon in der Ersten Republik die Auseinandersetzung um die gemeinsame Schule oder Gesamtschule - eine Diskussion, wie sie bis heute geführt wird. Wenn man weiß, dass Bruno Kreisky dabei war, als bei der Justizpalast-Demonstration von der Polizei in die Menge geschossen wurde, versteht man die Schwierigkeit, auf Basis dieser Erfahrung die Zweite Republik aufzubauen.

Mahrer: Die Ideologie gibt es nach wie vor, darin steckt eine politische und gesellschaftliche Idee, eine Zielvorstellung, je nach den kulturanthropologischen Vorstellungen. Sie finden in den Parteiprogrammen ihren Niederschlag, auf Basis verschiedener Werte.

Die Furche: Wenn die Ideologie in den Parteien so verankert ist, wie konnte die FPÖ so stark zulegen?

Hubmann: Erstens: Der Neoliberalismus ist in die sozialdemokratischen Programme eingedrungen. Zweitens: Ich glaube, dass die Angst um die Jobsicherheit und das Einkommen eine große Rolle spielen. Aus dieser Unsicherheit heraus ist man für das Aufrührerische der FPÖ empfänglich. Dann heißt es: "Ausländer sind dort ein Problem, aber mein Nachbar ist eh ein klasser Kerl.“ Diese Emotionen müsste man ernster nehmen.

Maurer: Eine Ideologie-Schiene wie bei den beiden großen Lagern gibt es bei den Grünen nicht. Es ist wesentlich komplexer geworden. Die Hauptursache ist, dass viele kein Bewusstsein mehr dafür haben, was ihre eigentlichen Interessen sind und welche Partei diese Interessen am ehesten vertritt.

Mahrer: Die zunehmende Komplexität stellt die alten Parteien vor das Problem, klassische Gesellschaftsentwürfe dynamisch zu hinterfragen und die Wähler damit zu konfrontieren.

Die Furche: Glauben Sie, dass die Vertrauenskrise der Politik auch eine Folge der Ideologie-Krise ist?

Hubmann: Ich glaube jedenfalls, dass eine Debatte über 200 Euro Familienbeihilfe die Menschen nicht unmittelbar berührt. Es vergeht viel Zeit vom Beginn einer medialen Debatte über den Gesetzesentwurf bis zu den realen Auswirkungen eines Gesetzes. Es wäre wichtig, bei jedem kleinen politischen Schritt klar zu sagen: "Das ist jetzt ein Schritt in Richtung dieses großen Ziels.“

Die Furche: Frau Maurer, wie vermittelt man die kleinen Schritte und die großen Ziele?

Maurer: Diese Kleinteiligkeit ist eine große Schwierigkeit im tagespolitischen Geschäft. Durch das Fehlen einer klaren Vision wird die politische Arbeit beliebiger. Der Rahmen ist sehr eng. Ich sehe es als Herausforderung, das große Bild nicht aus den Augen zu verlieren.

Mahrer: ... oder überhaupt eines zu haben. Wenn ich die Tagespolitik verfolge, kann ich oft gar keines erkennen.

Maurer: Es ist schwer bis unmöglich, so ein Bild zu formulieren. Wir sind so in diesem System verhaftet. Es gibt ein paar Grundannahmen, die als allgemein gültig gelten, aber eigentlich umgestoßen werden müssten: Wie sind die Produktionsverhältnisse und wie funktioniert diese Gesellschaft?

Hubmann: Also, Funktionäre auf der mittleren Ebene können genau definieren, warum sie sozialdemokratisch sind. Sie sind nicht entideologisiert. Sie setzen ihre Werte mit viel Einsatz in der täglichen Arbeit um. Man müsste mit der breiten Bevölkerung in Dialog treten und fragen: Was ist euch wichtig? Der Aufstieg der Rechtsnationalen rührt ja daher, dass die Menschen glauben, diese Fragen würden nicht beantwortet.

Maurer: Die gesamte Politik hat einen Rechtsruck vollzogen. Sehr oft werden politische Maßnahmen nationalistisch argumentiert, etwa beim Wettbewerbs-Standort. Ich will da die Grünen gar nicht ausnehmen. Aber man muss sich vor Augen führen, dass ÖVP und SPÖ Forderungen der FPÖ umsetzen.

Mahrer: Im wirtschaftspolitischen Bereich erlebe ich das gar nicht so. Da gibt es einen weitestgehenden Konsens beider Lager zur sozialen Marktwirtschaft. Wir befinden uns in diesem regulierten Marktmodell der Mitte. Wenn wir streiten, dann über Nuancen.

Maurer: Aber das ist ja genau das Problem. Dass man über die grundsätzlichen Probleme des Systems nicht spricht.

Mahrer: Das System hat doch zu einem großen Wohlstand geführt. In Verteilungs-Fragen ist Österreich eine Insel der Seligen. Wir bräuchten eine Debatte über eine ökosoziale Marktwirtschaft, also eine Wirtschaft mit mehr Verantwortung für die Umwelt und die Gesellschaft - und das bei Aufrechterhaltung der Eigenverantwortung. Dieser Diskussion hat sich das bürgerliche Lager viel zu wenig gestellt.

Die Furche: Herr Hubmann, was hat die SPÖ versäumt?

Hubmann: Ich wünsche mir, dass es einen breiten Diskurs in der Partei über den schon lange beschlossenen Programmprozess der SPÖ gibt. Wenn man von "Green Jobs“ redet, muss man auch von "Red Jobs“ reden: Wie gehen wir mit Pflegenden oder Menschen im Erziehungsbereich um? Wieso werden sie so schlecht entlohnt? Das sind die Zukunftsthemen für unsere klassische Wähler-Klientel.

Die Furche: Die Krise stellt die Wirtschaftsmodelle in Frage. Was kommt nach dem Neoliberalismus?

Mahrer: Da kritisiert die Linke den falschen Begriff. Die eigentliche Idee des Neoliberalismus war die theoretische Grundlage für das, was wir heute das Erfolgsmodell der Soziale Marktwirtschaft nennen.

Die Furche: Innerhalb des bürgerlichen Spektrums gibt es viele Lager. SPÖ und Grüne haben es leichter, eine ideologische Position zu entwickeln. Wo wird sich denn die ÖVP in Zukunft ansiedeln?

Mahrer: In unserer sehr divers gewordenen, offenen Welt gibt es die beiden Lager "die Arbeiter“ und "die Großbürger“ nicht mehr.

Die Furche: Aber es gibt noch immer sehr arme und sehr reiche.

Mahrer: Ja. Aber jene, die wenig verdienen, strömen verschiedensten Parteien zu: Von den Grünen bis zu den Freiheitlichen.

Maurer: Daran sieht man ja schon, es gibt heute eine totale Beliebigkeit. Der Kapitalismus durchdringt alle Lebensbereiche. Die dominante Ideologie lautet: Die Marktwirtschaft funktioniert. Ein Armer versteht eventuell gar nicht, dass es deshalb eine soziale Schieflage gibt. Vielmehr gibt er sich selbst die Schuld. Die ökosoziale Marktwirtschaft ist kein Alternativkonzept. Sie ändert an den Produktionsverhältnissen nichts.

Mahrer: Wir arbeiten daran, ökologische Verantwortung in den bürgerlichen Ansatz zu bringen. Aber wir glauben nicht an den egalitaristischen Narrativ der Gleichheit.

Maurer: Also ich weiß nicht, auf welchen Werten dein Weltbild fußt.

Mahrer: Auf Humanismus und auf der christlichen Soziallehre. Ich träume von einer offenen Gesellschaft, in der jeder in größtmöglicher Freiheit vom Staat seinen Zielen nachgeht, ohne andere einzuschränken - und trotzdem Solidarität und Verantwortung gegenüber der Umwelt lebt.

Maurer: Zur Frage der Gleichheit, nehmen wir das Thema Bildung: Linke gehen davon aus, dass die Sozialisation dafür eine große Rolle spielt, Bürgerliche glauben, es ginge vor allem um angeborenes Talent. An dieser Analyse orientieren sich auch die politischen Konzepte - ist Gleichheit möglich oder nicht?

Die Furche: Ideologie war früher einmal quasi "vererbbar“, heute ist das nicht mehr so.

Hubmann: Früher gab es wenig Konkurrenz durch andere Parteien. Wenn man am Land einen Baugrund brauchte, ist man zur ÖVP gegangen. Heute sind die Parteien auf neue Weise gefordert.

Die Furche: Wieso laufen der SPÖ und der ÖVP die jungen Leute weg?

Mahrer: Ich glaube, dass in der Volkspartei eine klare Vision fehlt. Sehr viel Aufholbedarf haben wir in der Bildung, wobei ich nicht für einen gleichmacherischen Ansatz bin, sondern für einen differenzierten. Bürgerliche Sozialpolitik soll unterschiedliche Voraussetzungen ausgleichen, aber strebt keine Ergebnisgleichheit an.

Die Furche: Herr Hubmann, wie könnte man mit Politik mehr junge Leute ansprechen?

Hubmann: Man müsste politische Räume für Junge aufmachen, sie mehr in die Gemein-Arbeit einbinden. Man müsste die Funktionsweisen der Parteien zeitgemäßer gestalten. Thematisch beschäftigt junge Leute: Welchen Job, welche Wohnung werde ich haben?

Maurer: Schon in der vierten Klasse Volksschule herrscht heute großer Notendruck. Junge Leute sind so indoktriniert: Ich muss was leisten und rennen, damit es sich für mich ausgeht. Der Wettbewerb ist heute die dominierende Ideologie.

Die Furche: Was wäre die Ideologie der Zukunft?

Mahrer: Ich wünsche mir ein Zusammenspiel von Staat und Markt, einen qualitativen Wettbewerb von staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Lösungen. Im bürgerlichen Lager muss man die ökologische Aufgabe und die Zivilgesellschaft ernst nehmen. Dann bräuchten wir die grüne Partei nicht mehr.

Hubmann: Es braucht eine gerechtere Verteilung, mehr soziale Sicherheit, damit Menschen sich trauen, etwas zu unternehmen. Im Spannungsfeld von Staat und Markt sind auch klug gestaltete Genossenschaften ganz wichtig. Menschen sollen in Entscheidungen über ihr Leben eingebunden werden. Das muss Kern einer Politik sein, die die Ideologie wieder attraktiv macht.

Maurer: Das Ziel muss eine Gesellschaft freier Menschen sein. Was das wirklich bedeutet, können wir uns gar nicht vorstellen. Man muss kontinuierlich daran arbeiten, was aber ganz schwierig ist. Die Aufgabe lautet für mich, die Widersprüche dieser Gesellschaft aufzuzeigen. Es geht um viel größere Fragen: Jene zu Staat, Kapital und Nation.

Die Diskutanten

Sigrid Maurer

Seit 2013 ist Sigrid Maurer Nationalratsabgeordnete der Grünen. Sie war von 2009 bis 2011 Vorsitzende der Österreichischen Hochschülerschaft. Seit 2011 studiert sie Soziologie. Innerhalb des grünen Parlamentsklubs ist sie Wissenschaftssprecherin.

Harald Mahrer

Von 1995-1997 war er ÖH-Vorsitzender an der WU Wien. Er leitet seit 2011 das Strategieberatungsunternehmen Cumclave. Seit September 2011 ist er Präsident des ÖVP-nahen Thinktanks Julius Raab Stiftung und Autor zahlreicher Publikationen.

Georg Hubmann

Er ist Geschäftsführer des Marie Jahoda - Otto Bauer Instituts der SPÖ und tritt immer wieder als Kritiker gegen die ideologische Verwässerung der SP auf. Zuletzt Organisator des Internet-Projektes zum Bürgerkrieg (http://12februar1934.at/).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung