Im Anfang war die Meinungsumfrage

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"Früher begann der politische Alltag bei der morgendlichen Postsitzung, in der über das berichtet wurde, was in den Zeitungen über jene Politik geschrieben stand, die am Vortag stattgefunden hatte."

Im Anfang war das Wort". So steht es im Johannesevangelium. Davon, dass am Beginn die Umfrage steht, war in der Bibel jedenfalls nicht die Rede.

In der Politik hat sich viel geändert. Immer öfter wird zuerst die Umfrage in Auftrag gegeben. Man will wissen, wie die Mehrheit tickt, wo es Probleme gibt, welche Antworten präferiert werden. Erst dann macht man sich daran, die notwendigen Inhalte zu formulieren. Und noch ehe man an die Öffentlichkeit geht, wird die Marketingkampagne gezimmert, damit die Botschaft, die man vermitteln will, auch bei der richtigen Zielgruppe landet, vor allem die Stimmungslage in der Öffentlichkeit trifft.

Wir erleben das augenblicklich auch in Österreich in einer gewissen Form. Gerät eine Partei in Schwierigkeiten oder gar auf die Oppositionsbank, dann - siehe SPÖ - sucht man zuerst nach dem neuen Verkäufer und einer neuen Marketingstrategie. Irgendwo am Rande ist dann auch noch von sozialdemokratischen Grundsätzen die Rede. Wenn der Erfolg ausbleibt, so hängt das auch damit zusammen, dass Programm, Person und Propaganda keine Einheit bilden, in sich nicht kohärent sind.

Bürgerliche Mehrheit seit 1983

Damit ist der Erklärungsbedarf nicht erschöpft. Österreich war in der Zweiten Republik von 1945 bis 1966 sowie ab 1983 von einem ausgewogenen Verhältnis des Mitte-Links-und Mitte-Rechts-Lagers gekennzeichnet. Seit 1983 gibt es im Parlament sogar eine, wenn auch knappe Mehrheit für so genannte bürgerliche Parteien. Trotzdem gab es seither nur in sechs von insgesamt 34 Jahren einen ÖVP-Bundeskanzler.

Bei den Wahlen 2017 hat es im Grunde genommen einen mittleren Erdrutsch gegeben. Die drei von Mitte bis Rechts angesiedelten Parteien erreichten zusammen fast 63 Prozent. Da fand ein Ruck innerhalb der Bevölkerung statt. In der Volkspartei hatte eine entschlossene Gruppe, ja verschworene Gemeinschaft rund um die Person von Sebastian Kurz das Gespür für einen Trend, der sich schon seit einiger Zeit abzeichnet. Vor gut 30 Jahren begann der fast erratische Block der Stammwähler abzubröckeln. Heute sind die Wechselwähler ausschlaggebend. Es war eine perfekte Marketingstrategie, die auf-und durchgezogen wurde. Begonnen hatte es damit, dass man sich vom belasteten Begriff "Partei" etwas absetzte und als Bewegung deklarierte. Für den Erfolg sorgten zusätzlich zum Spitzenkandidaten vor allem populäre Themen, für die der Flüchtlingstsunami genügend Anlass bot. Das Programm selbst verspricht eine "bürgerliche" Politik und vergisst auch nicht, auf christlich-soziale Werte Bezug zu nehmen. In punkto Wirtschaftspolitik ist das Bekenntnis zu einer öko-sozialen Marktwirtschaft vielleicht nicht ganz so eindeutig, da lässt man sich die Tür zu einem industriefreundlichen Liberalismus durchaus offen.

Über allem stehen freilich das Marketing und die koordinierte Vorgangsweise. Wer den Primat der frühen Geburt hat, für wen die Zeitrechnung nicht erst mit dem Jetzt beginnt, der weiß, dass früher einmal Politik etwas anders ablief. Da gab es zunächst viele "Lipizzaner", die jeder für sich ihre eigene Pirouette drehen wollten. Es stand auch nicht diese Fülle an demoskopischen Untersuchungen zur Verfügung. Politik erforderte von den handelnden Personen das Sensorium für politische Weichenstellungen, ein Einfühlungsvermögen, den persönlichen Kontakt zur Bevölkerung. Ein populärer Abgeordneter war rund um die Uhr im Einsatz. Nicht umsonst verstanden sich so manche als die Sprecher der Wähler ihres Wahlkreises.

Keine Frage, es gab auch herausragende Persönlichkeiten, die eine Vision verfolgten und diese umsetzen wollten. Oft gab es beim ersten Anlauf nicht das erwartete Echo. Weil man aber überzeugt von der Idee war, versuchte man alles, argumentativ eine Wende herbeizureden, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Nicht umsonst lautete eines der gängigen Zitate, Politik ist das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß.

Absicherung des Erreichten

Und es galt in der Tat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in einem Land, das am Boden lag, große Ziele zu erreichen und damit Hoffnung zu erwecken: die Wiedererlangung der Freiheit, den Wiederaufbau des Landes, die Aufnahme in den Kreis des großen Europas. Was sind heute unsere Ziele - außer dass man das bisher Erreichte absichern will?

Es war zudem eine Zeit, in der Parteien ihre Politik aufgrund von programmatischen Grundsätzen ausrichteten, die auch als eine Art "Partei-Bibel" galten. Was eine andere Form des Wettbewerbs mit sich brachte, indem es abgesehen von der Überzeugungskraft des Politikers auch um die ideologische Ausrichtung der Parteien ging. Das Lagerdenken war ein bestimmender Faktor.

Sieht man sich die europäische Parteienlandschaft heute an, so haben die Traditionsparteien an Terrain verloren. Betroffen davon sind sozialdemokratische, aber auch viele konservative Parteien. Sogenannter ideologischer Ballast (von den Lehren Karl Marx' angefangen) wurde abgeworfen. Auch viele Christdemokraten versteckten im Zuge einer vermeintlichen Modernisierung ihren Wertekatalog.

Geschichtsvergessene Gesellschaft

Die Pflege des Gedenkjahres 2018 übertüncht, dass wir es mit einer geschichtsvergessenen Gesellschaft zu tun haben. Allzu viele halten den Frieden in Europa für den Normalzustand und leben in einer Welt, wo sich die Kommunikation viel zu sehr auf SMS und Internet reduziert. Dass die Ideologie der Partnerschaft (geprägt vom christlich-sozialen Vordenker Karl Vogelsang, dessen 200. Geburtstag heuer ansteht) über jene des Klassenkampfes den Sieg davon getragen hat, darf bei dieser Gelegenheit so nebenbei gleich in Erinnerung gerufen werden. Und zeigt, dass Geschichte viele Facetten hat.

Wenn man Vergleiche zieht, so muss man der heutigen Politik freilich zugute halten, dass sich das Umfeld allein bedingt durch die Entwicklung der Medienwelt und der Kommunikationstechnik gewaltig verändert hat. Früher einmal begann der politische Alltag bei der morgendlichen Postsitzung, in der über das berichtet wurde, was in den Zeitungen über jene Politik geschrieben stand, die am Vortag stattgefunden hatte. Nun wurde erst diskutiert und dann vielleicht entschieden, auf welche Themen man überhaupt reagieren soll, welche Argumente man aufgreifen oder welchen man entgegnen muss. Und irgendwann im Laufe des Tages gab es eine Presseaussendung, vielleicht sogar ein Radio-oder TV-Interview. Ein Ritual, das sich täglich wiederholte. Ebenso wie das Insistieren der handelnden Politiker, doch auch für den nötigen Niederschlag in den Zeitungen, in Radio und Fernsehen zu sorgen. Mitunter blieb die Meldung im eigenen Parteipressedienst der einzige Beleg für eine Aktivität. Das verstand man damals unter Verkauf. Groß angelegte Kampagnen waren Mangelware, erschöpften sich mitunter darin, eine politische Message wie mit einer tibetanischen Gebetsmühle zu wiederholen.

Das Internet hat es möglich gemacht, dass das Tagesgeschehen in Echtzeit passiert und kein Zuwarten mit der Reaktion verträgt. Heute geht es darum, so schnell wie möglich am Smartphone oder Tablet zu reagieren. Kaum ist ein Foto von einem Event auf Facebook zu sehen, wird auf Twitter die Message gepostet, und schon folgt auch die Antwort. Da geht es nicht um den Tiefgang, sondern primär darum, schlagfertig zu sein, die treffsicherste Wortwahl zu finden.

Dabei muss fast zwangsläufig etwas verloren gehen. Nämlich das Nachdenken über Probleme, die bewegen, die nicht im Handumdrehen zu bewältigen sind. Das Philosophieren über ein bestimmtes Thema mit durchaus ungewissem Ausgang. Das Feilen an Sätzen und Worten, um die Idee in verständliche Worte zu kleiden, damit sie auch in einem Meinungs-und Überzeugungsprozess bestehen kann.

Das Wort wieder an den Anfang stellen

Dieser Verlust des In-sich-Hineindenkens, des bewussten Suchens nach neuen Lösungsansätzen, des Abwägens von Für und Wider, auch des Abwartens (weil oft eine überstürzte Reaktion die Situation nur verkompliziert) spiegelt sich in der Tatsache wider, dass es heute viel zu wenig Think Tanks gibt. Wer weiß noch, um nur ein Beispiel zu nennen, dass das sogenannte Kummer-Institut einmal sozialpolitischer Taktgeber für die christlich-soziale Arbeitnehmerbewegung -für die FCG, den ÖAAB - und damit gesellschaftspolitischer Motor für die ÖVP war?

Heute geht es primär darum, sich mit Diskussionsveranstaltungen öffentliche Präsenz zu verschaffen und diese auch als Plattform für die persönliche Profilierung zu nützen, sich ein Netzwerk aufzubauen. Will man Nachhaltigkeit -um ein Modewort zu nennen -in der Politik erreichen, wird es wieder notwendig werden, dem überlegten Wort Priorität zu geben, es an den Anfang zu stellen.

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