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Ohne Marx und ohne Jesus

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Bruno Kreisky: „Den Sozialdemokraten geht es mit ihren sozialpolitischen Ideen so wie den Liberalen mit ihren liberalen: allmählich werden sie Gemeingut aller demokratischen Parteien.“ (Autorentagung des Econ-Verlages in Salzburg, September 1971.)

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Bruno Kreisky: „Den Sozialdemokraten geht es mit ihren sozialpolitischen Ideen so wie den Liberalen mit ihren liberalen: allmählich werden sie Gemeingut aller demokratischen Parteien.“ (Autorentagung des Econ-Verlages in Salzburg, September 1971.)

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In seiner inzwischen klassisch gewordenen Untersuchung der politischen Struktur Österreichs hat der Wiener Historiker Adam Wanduszka schon im Jahre 1954 aufgezeigt, wie der Liberalismus nach seiner politischen Entmachtung in der „Ideenwelt der Sieger“ (Sozialdemokraten, Deutschnationale, Christlichsoziale) aufging und dort bis dato in verschiedener Intensität Urständ feiert. Diese befruchtende Wirkung der liberalen Idee kostete allerdings einen mörderischen Preis: Bereits nach 1918 hat es in Österreich eine liberale Partei überhaupt nicht mehr sich, namentlich anläßlich der Nationalratswahlen 1970 und 1971, sie werde geschichtlichen Veränderungen Rechnung tragen und die Formel: national-freiheitlich unter Verzicht auf die „Wahrnehmung nationaler Belange“ im Sinne von freiheitlich = liberal lösen und die liberale Partei werden.

Die Österreicher gehen solche Fragen der politischen Orientierung eher pragmatisch als theoretisch an. Und so ist hierzulande „liberal“ vorläufig meistens noch zu dem Zweck im politischen Handel, um einer gewissen Abneigung gegen bisherige

Westen, wo das traditionelle Zweiparteiensystem da und dort zur Revision ansteht.

Das Zweiparteiensystem mit seinen Wechselstellungen auf den Bänken der Regierung und der Opposition war in der Spätkrise der Koalitionsära das gelobte Land aller Reformer. Jetzt ist dieses Vorbild angelsächsischer Demokratie längst nicht mehr sakrosant. Politische Erfahrungen sollten jedenfalls davor warnen, im System des Parteienstaates derlei geschichtliche Gewor-denheiten als prinzipielle Notwendigkeiten einzuschätzen. Wahrscheinlich ist es richtiger, von einem gewissen Zyklus in der Geschichte des Parteienwesens zu sprechen: auf eine Periode der Stabilisierung folgt mit unabweisbarer Regelmäßigkeit eine Zwischenphase der Reorientie-rung, während welcher neue Ideologien und Zusammenhalte gesucht werden, bevor neuerlich eine Stabilisierung eintritt. In Österreich erfolgen solche zyklische Veränderungen seit den Anfängen der Parlamentarischen Demokratie (1860 bis 1866) im Durchschnitt im Abstand von einer Generation, also jeweils nach 30 Jahren.

Die von den liberalen Parteien beherrschte Lage dauerte von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte der neunziger Jahre. In der nächsten Generation rückte die christlichsoziale Bewegung auf, um 30 Jahre nachher, Mitte der zwanziger Jahre, in jene Krise zu geraten, der 1933 das Ende der Partei folgte. Nach der Zwischenphase der Konfrontation von Volksfront und Faschismus im Europa der dreißiger Jahre stand die Ära nach 1945 im Zeichen der Koalition ÖVP/SPÖ, die zuweilen geradezu den Charakter einer einzigen dualistischen Staatspartei annahm und quasi in zwei „Reichshälften“ regierte. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß in diesem gegeben; die „sozialen und demo- Parteiideologien nachzukommen; um Zyklus in der Mitte der siebziger kratischen Volksbewegungen''' aus den Eindruck zu erwecken, als Jahre, 30 Jahre nach dem Krieg, die den achtziger Jahren des 19. Jahr- würde jetzt nicht mehr politisiert, entscheidende Phase der Reorientie-hunderts hatten nämlich die libe- sondern vorurteilslos gearbeitet; und rung und Reorganisierung gekom-ralen Parteiformationen nach und als gebe es sozusagen so etwas wie men sein wird. Um diese Zeit wird nach ausgerottet. Wäre dem nicht so eine „entpolitisierte Politik“. Eine es sich erweisen müssen, ob im gewesen, dann wäre Bruno Kreisky solche Vulgärvorstellung von „libe- Sozialismus das Experiment Bruno wahrscheinlich nie an die Spitze der ral“ steckt im gängigen Wortge- Kreisky einmalige Verkörperung be-SPÖ gelangt. Er wäre, mit dem brauch der Publizistik und der deutet oder fortwirkende typenbü-Franz-Joseph-Orden ausgezeichnet Politik. dende Kraft. Dann wird auch in der oder nobilitiert, Honoratiorenpoli ÖVP das prolongierte Transitorium, tiker nach dem alten Kurienwahi- Der ,lberale Aufwind aus Westen dag zwiSchen der Verkörperung von recht oder Exzellenzherr geworden. Im Westen ist es anders. Etwa in Prinzipien (Figl, Raab) und der Neu-Jedenfalls erweckt die eingangs Ländern, in denen die Entideologi- Programmierung von Grundsätzen zitierte Parallelentwicklung eine sierung und wohl auch die innere sowie der Neuorganisation von fatale Vergleichsaussicht für die alte Schwäche sozialdemokratischer und Strukturen eintrat, zu Ende gekomchristlich-demokratischer Parteien men und getestet sein müssen, ein Vakuum entstehen ließen, in dem neue Orientierungen und Grup- Wer aber beerbt die Revolutionäre? pierungen vor sich gehen. Im Die Ziele und Methoden, die in den revolutionären Bewegungen der sechziger Jahre zutage traten, waren und sind in den Stabsquartieren der politischen Parteien nur mäßig beliebt geworden. Diesbezüglich ließ man einigen intellektuellen Hirnprothesen quasi Narrenfreiheit, um im übrigen die Technokratie zwecks Produktivitätssteigerung in den immer wiederkehrenden Phasen: investieren, produzieren, konsumieren, zur Entfaltung zu bringen.

Um so mehr interessierte und interessiert man sich in besagten die Leidenschaft zum Kochen bringen. Das heißt Rückgriff auf das Prinzip des Frühliberalismus: den Glauben, namentlich den religiösen, als Kriterium bei Entscheidungen in der Öffentlichkeit zu eliminieren.

Der advokatorische Kniff

Dem Mißtrauen gegenüber Ideologien, das den jungen Revolutionären der sechziger Jahre anerzogen wurde, kommt Revel entgegen: nicht die ideologisierte Politik bestimmt die Änderung der Gesellschaft, vielmehr ändert sich die Gesellschaft in sich und sie bedingt damit eine neue Politik. Mit dem advokatorischen Kniff: „Schafft die Ideologien fort!“ wird Raum geschaffen für eine neue Politik, die sich als Ausfluß der positivistischen Ideologie erweist.

Die Hoffnung auf ein Comeback des Liberalismus und der Liberalen ereignet sich zwischen einer Realität von heute und einer Promesse für morgen: Die Promesse besteht in der Tatsache, daß man es in den siebziger Jahren weniger mit einer New

Arbeiterpartei.

Die Präsenz des Liberalismus

Mag man darüber streiten, in welcher Dosierung liberales Ideengut in den Parteien und politischen Bewegungen des heutigen Österreich verbreitet ist — Tatsache ist, daß jetzt, zu Beginn der siebziger Jahre, jede der drei im Nationalrat vertretenen Parteien wohl oder übel auf einen liberalen Grundgehalt und ein liberales Image mehr oder weniger reflektiert. Im Umkreis der SPÖ entsteht der starke Eindruck, als habe die traditionelle Arbeiterpartei eher den Charakter einer „liberalen Volkspartei“ angenommen, wobei innerhalb dieser Partei die Ansichten über Wert oder Unwert einer Vermischung von Ideologien im Anschluß an Marxismus und Liberalismus auseinandergehen. Uber die ÖVP schreibt 1972 Wilhelm Böhm, die Volkspartei wolle „progressive Mitte“ sein und sie vertrete, zum Unterschied von den Christlichsozialen, eine „eher liberale Position“. Von der FPÖ erwarte man

Stabsquartieren für die Dynamik der jungen Aufrührer, etwas, das in apparatgesteuerten Massenparteien immer Mangelware ist. Und in der freien Welt des Westens, so in Frankreich, haben Liberale wie J. J. Servan-Schreiber („Frankreich steht auf“, 1968), J. F. Revel („La Fin de l'Opposition“, 1965 und „Without Marx or Jesus“, 1970) versucht, die Dynamismen einer „falsch verstandenen Revolution“ für ihre vom Positivismus entlassene liberale Ideologie zu gewinnen. Servan-Schreiber ist zunächst mit seinem Versuch einer Regeneration der Partei Gambettas, Clemenceaus und Daladiers gescheitert.

Antiklerikalismus, wie Gambetta ihn betrieb, Nationalismus, wie Cle-menceau ihn exzessiv verfolgte, oder Volksfrontpolitik, wie sie Daladier auf sich nahm, sind auch unter neuem Anstrich kein Background für eine liberale Partei Modell 1970/71. Anderseits haben die bürgerlichen Liberalen vom revolutionären Prinzip, das ihre Erfindung ist, genug, seit sie auf den Barrikaden von 1848 mit den proletarischen Mobilgarden in Konflikt geraten sind. Revels Absicht ist es, nach alldem, zwecks Gewinnung der jüngsten Revolutionäre den nach seiner Meinung sinnlosen Widerspruch zwischen Revolution und Reform aufzuheben. Für die Taktik im Konflikt gebraucht er daher den Begriff: „schöpferischer Wandel“, also: Wagnis des Neuen ohne Gewaltanwendung. Dazu gehört die Ausschaltung „sozialer und religiöser Philosophien“ im Politischen, die

Generation zu tun hat, als mit a new kind of generation. Es ist hier nicht Raum genug, um diese neue Art zu definieren. Man muß sich in diesem Zusammenhang aber wenigstens daran erinnern, daß es sich um die erste Generation handelt, die weniger von Eltern, Lehrern, Erziehern, Priestern und Jugendführern herangebildet wird, als vielmehr: vor dem Fernsehschirm. Und damit ist gesagt, daß das, was man Telekratie nennt, also: Herrschaft der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, eine ungeheure Durchschlagskraft bekommen wird.

Einmal hat das Bündnis von Besitz und Bildung einen Typ hervorgebracht, der, wie Wilhelm Röpke es formulierte, nicht nur Unvergängliches im Liberalismus geschaffen hat, sondern, etwa im Kulturkampf, auch sehr Vergängliches. Auch in dem heutigen Kombinat von Technokratie und Telekratie entsteht ein neuer Typ, wird dort begünstigt. Eine bloß oberflächliche Betrachtung zeigt sein modernes Image: cool, smart, clever. Aber die heutige Telekratie strahlt nicht nur Image und Mentalität aus, sondern: Ideologie. Und zwar in ganz konkreter Form. Denn sie ist geistiger Wurzelboden des Comeback der Liberalen. Mögen Politiker von gestern darüber streiten, ob der heutige ORF ihre oder die „andere“ politische Richtung mehr begünstige oder benachteilige. Morgen werden sie allesamt nicht mehr ins Bild kämmen, weil sie heute schon nicht mehr selbst im Bild sind — mit ihren Ansichten.

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