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Was ist los in Österreich?

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Die Älteren werden sich noch an folgende Anekdote aus den dreißiger Jahren erinnern: Ein Fremder fährt mit der Wiener Straßenbahn über die Ringstraße. Da sieht er auf der Fahrbahn eine Abteilung der Heimwehr marschieren^ Es ist die Zeit der Putsche und der ständigen Putschgerüchte und deshalb fragt der Fremde ein wenig besorgt den Schaffner: IST WAS LOS? Der Schaffner schaut nur kurz von seiner Fahrscheinkontrolle auf und sagt dann gelassen: NIX IST LOS. WENN WAS LOS WÄR, DANN TÄTEN WIR JA ÜBER DIE ZWEIERLINIE FAHREN. Wie gesagt, es war die Zeit, in der die Österreicher gegenüber einem sehr abwechslungsreichen Schicksal eine Lauerstellung einnahmen. Jetzt ist das Vergangenheit, „unbewältigte Vergangenheit“, die den Alten noch am Hals, anderen schon zum Hals heraushängt. Allerdings ist es eine Vergangenheit, die zuweilen . reproduziert wird, wenn man einem Menschen oder einer Sache ein Klampfl anhängen will.

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Die Älteren werden sich noch an folgende Anekdote aus den dreißiger Jahren erinnern: Ein Fremder fährt mit der Wiener Straßenbahn über die Ringstraße. Da sieht er auf der Fahrbahn eine Abteilung der Heimwehr marschieren^ Es ist die Zeit der Putsche und der ständigen Putschgerüchte und deshalb fragt der Fremde ein wenig besorgt den Schaffner: IST WAS LOS? Der Schaffner schaut nur kurz von seiner Fahrscheinkontrolle auf und sagt dann gelassen: NIX IST LOS. WENN WAS LOS WÄR, DANN TÄTEN WIR JA ÜBER DIE ZWEIERLINIE FAHREN. Wie gesagt, es war die Zeit, in der die Österreicher gegenüber einem sehr abwechslungsreichen Schicksal eine Lauerstellung einnahmen. Jetzt ist das Vergangenheit, „unbewältigte Vergangenheit“, die den Alten noch am Hals, anderen schon zum Hals heraushängt. Allerdings ist es eine Vergangenheit, die zuweilen . reproduziert wird, wenn man einem Menschen oder einer Sache ein Klampfl anhängen will.

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Wer hätte, ehe das Ganze anfing, etwa am Morgen des 4. März 1933 gedacht, daß sich an diesem Tag die „Selbstausschaltung des Parlamentes“ ereignen würde; daß es nachher jahrelang keine parlamentarische Demokratie geben würde; daß im Jahr darauf die Österreicher untereinander einen blutigen Bürgerkrieg austragen würden und daß von den im Jahre 1933 lebenden Österreichern sehr bald hunderttausende einen gewaltsamen Tod sterben würden? Das heißt, die Wende kann ebenso rasch wie gründlich eintreten. I

Idi will nicht den Teufel an die Wand malen. Niemand denkt heute in Österreich an eine Wiederholung derartigen. Geschehens. Österreich steht jetzt weder am Vorabend eines Umsturzes, noch einer Intervention von außen her, noch einer Katastrophe. Im Gegenteil: Die Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat zeitigt in diesem Jahr zufolge eigenen und fremden Könnens eine Zuwachsrate von sechs Prozent. Und wer hört schon auf die unruhigen Geister unter den jungen Intellektuellen. Am Abend des 1. März 1970 durfte edn Kommentator auf Grund des Wahlausgangs sagen: Die im Wahlkampf beschworenen Katastrophen sind ausgeblieben. ÖVP und SPÖ haben die Plätze getauscht. Sonst ist nichts passiert. Es ist nix passiert. Aber es geschieht etwas, etwas ist los. Das Wort lose bedeutet zunächst soviel wie nicht völlig befestigt, locker, dann aber auch mutwillig, durchtrieben, leichtsinnig, locker.

Scheinbar unversehens sind die Österreicher in den letzten Jahren in eine Situation geraten, in der bisherige Verfestigungen wackelig, neu entstehende noch nicht vollends tragfähig wurden. Ob das Ereignis vom 1. März 1970 ein Zwischenfall im normalmäßigen Ablauf einer „vollentwickelten Demokratie“ gewesen ist oder ob es eine längst in Gang befindliche allgemeine Wendung sichtbar machte, ist noch umstritten. Ein Staat, auch ein Kleinstaat, kann nicht wie ein Ruderboot mit einigen Riemenschlägen auf neuen Kurs gebracht werden; wie ein großes Schiff ändern auch die Massen nur allmählich die Bewegungsrichtung, und die ersten Erschütterungen, die den Richtungswechsel anzeigen, erfolgen meistens so früh und so schwach, daß sich die meisten Menschen nicht darum kümmern. In der „Zeit dazwischen“, in der noch nicht endgültig entschieden ist, was fortan gewesen und was neu sein wird, treten Strukturschwächen auf. Das ist die Zeit, in der das Irreguläre, das Anormale, das Exzentrische, das Närrische wie das Verbrecherische eine Chance hat. Dann „ist was los“. Der exzentrische Ausbruch Franz Olahs aus seiner lebenslangen Gesinnungsgemeinschaft zeitigte unter anderem das atypische Wahlergebnis vom 6. März 1966; es geschah nicht eine Um-orientierung, sondern eine Des-örientierung, deren vorläufiges Finale die Skandalisierung der Dein okratie im Wiener Rathaus war. Für jeden, der im Sitzungssaal des Gemeinderates das „Eingreifen der Exekutive“ erlebte, war die gewaltsame Entfernung Olahs der Schock, den wir. die Alten, nie mehr zu erleben hofften. Ungefähr um die gleiche Zeit bricht aus einer ganz anderen Richtung und mit anderen Methoden der Terrorist Norbert Burger in das politische Leben des Landes ein. Es zeigt sich, daß ein verbrecherischer Exzeß der Zwergpartei Burgers ausreicht, um die parlamentarische Demokratie in Verwirrung und Unordnung zu bringen.

Der Wahlschwindel der Partei Burgers, der jetzt in drei Wahlkreisen Neuwahlen notwendig macht, beweist, daß das Perpetuum mobile der Demokratie Pannen haben kann; Pannen, die nicht mit juristischen, sondern mit politischen Mitteln repariert werden müssen; vorausgesetzt, daß es außer der Technik des Politischen eine politische Moral gibt und niemand daran denkt, Österreich und die Demokratie wegen eines juristischen Streites über das Vorhandensein oder Fehlen positiver Rechtsvorschrifter. aufs Spiel zu setzen.

Mit Juristerei oder Politologie allein geht es nicht. In diesen Wochen und Monaten werden zum Beispiel nacheinander in Wien und in Graz sogenannte prominente und populäre Richter straffällig. Und ein abgeurteilter Verbrecher kann nach seinem Ausbruch aus dem Justizpalast der Republik Österreich unter dem Staunen und Schmunzeln der Menge in aller Öffentlichkeit Anklage erheben gegen die Justiz; so als wäre er ein volksfreundlicher Räuberhauptmann wie der Grasel. Nicht wenige freuen sich über den Fall der Richter und über die Auferstehung des Verbrechers.

Über alldem stürzt der Staat noch nicht ein. Der Spießbürger fragt erschrocken: Ja, ist denn das erlaubt? Für die anderen, denen Ruhe nicht die erste Bürgerpflicht ist, entsteht eine Frage: Was geht in der Tiefe vor, wenn an der Oberfläche die Figuren und die Figuranten zu wakkein anfangen und umfallen? In einer Stunde wie dieser wird Reform wieder einmal groß geschrieben. Die Gebrannten, deren es genug unter uns gibt, warnen davor, die Risse an der Oberfläche mit Leukoplast-Reformen zu verkleben. Aber auch das populäre Reformkonzept der fünfziger Jahre: Neues Aktionsprogramm umgeschriebenes Grundsatzprogramm = anziehendes neues Image, zieht nicht mehr.

Wie tief muß die „Reform“ des Parteiwesen, des Parlamentarismus und wohl auch der altvaterisch gewordenen Teile der Demokratie ansetzen, damit sie in Schichten gerät, in denen „etwas los ist“? Genügt es, eine äußerliche wahrnehmbare neue Statur des Ganzen vorzuführen? Bedarf es neuer Strukturen, weil die bisherigen von 1945 für ganz anders gedachte Funktionen geschaffen wurden? Oder: Was ist die Funktion einer politischen Partei in einem politischen Klima, in dem die Tendenzen zur egalitären Demokratie Anleihen beim System der Räte machen?

Positionsveränderungen und neue Orientierungszeichen an der Oberfläche des Politischen genügen wohl nicht. Auch die SPÖ kann nach ihrer Ziehung (halbrechts, auf die Mitte zu) nicht in einer Situation verharren, in der gleichzeitig große Teile ihrer Parteigänger die Ausgangslage des Klassenkampfes noch nicht verlassen haben, während andere das Manöver der von Technokraten gesteuerten Klassenlosen Partei mitmachen. Je mehr die SPÖ mit Teilen ihrer Formation über die Mitte hinaus nach rechts gerät, desto schwieriger wird es für sie, die radikalen Neubildungen auf der äußersten Linken unter Kontrolle zu haben. Die Tatsache, daß die SPÖ ganze Kader der KPÖ „inhaliert“, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß für die Neue Linke die SPÖ ebenso zum Establishment gehört wie der „ganze Rest einer zum Untergang bestimmten Gesellschaft“. Die Zivilcourage, mit der sich Bruno Kreisky und die Kulturpolitiker seiner Regierung den Aggressionen der jungen Intellektuellen stellen, ist nicht zu übersehen. Aber die Partei Bruno Kreiskys hält es mehr mit Leukoplast: Weg mit den Strapazen der Landesverteidigung, des Lernens, der politischen Bewährung vor der Kandidatur usw. In Großbritannien siegte bei der letzten Parlamentswahl ein von der Arbeiterpartei aussortierter Dreiundac'htzigjäh-riger als „Unabhängiger Sozialist“ über den Exponenten der jungen Generation der Arbeiterpartei; in den USA gründet man mit den in Staat, Wirtschaft und Schule pensionierten „Alten Herren“ neue Colleges und Departments, an denen studiert und nicht revoltiert wird; aber hierzulande ist für die Parteien das veraltete staatliche System der Pensionierung, die abrupte Überstellung der Menschen des „Dritten Lebensalters“ ins Reich der Hobbies, der Weisheit letzter Schluß. Man kann auch so das Generationenproblem lösen.

Es besteht aber auch bei denen kein Grund zur Freude, die zu den Christlichen Demokraten gehören, zu den Konservativen, zu denen, die nicht links und nicht rechts stehen möchten, sondern warten, wie sich die Sache in der Mitte einpendelt. Die Konservativen Großbritanniens haben im letzten Wahlkampf jene unheilbringende Methode an den Tag gelegt, die schon einmal ihr großer Patriarch Benjamin Disraeli als „konzessionär statt konservativ“ disqualifizierte. Jene konservativen Wahlversprechungen, mit deren Hilfe Harold Wilson in der letzten Runde überholt wurde, sind zum Teil geradezu Exzesse der Gefälligkeitsdemokratie. Serien dieser Versprechungen werden unerfüllt bleiben müssen; so wie jene, mit denen die SPÖ vor dem 1. März 1970 Stammwähler der ÖVP unruhig machen konnte. Wer denkt an dieser Stelle nicht an die Witwen punkto gerechter Besserstellung und an den Staat punkto Demoralisierung des Politischen?

Das Maiorzsystem hat nach dem 1. März 1970 noch einmal gesiegt. Aber: Die amtierende Regierung ist eine der Minorität. Und im Nationalrat kann das legendäre Majorzsy-stem nur dann funktionieren, wenn die Fünfmännerfraktion der FPÖ bald dieser, bald jener Großpartei ihre fünf Stimmen verhökert. So majorisieren und dirigieren in der Tat fünf Abgeordnete oft die „restlichen“ 160, und schon hört man, daß der Oppositionsführer in Österreich nicht Hermann Withalm heißt, sondern Friedrich Peter, FPÖ. Wer das „Koalitionsregime“ auf den niedrigsten Wert abgeschrieben hat, wird darin allerdings noch immer den Fortschritt erkennen.

Reformen, die anstehen, müssen in der Tiefe ansetzen, dort, wo „etwas los ist“. Solange die Parteien die ideologische Kastration betreiben, hängt ihr Erfolg von Fall zu Fall davon ab, welcher Partei es jeweils gelingt, die besseren Technokraten anzuheuern. Das aber reicht nicht aus für ein „besseres, mehr auf die Persönlichkeit der Kandidaten abgestelltes Wahlsystem“. Im Kombinat Wissenschaft + Politik einer sozial ungleichartig strukturierten Partei braucht es die ideologische Vertikale. Denn Ideologie ist nicht nur halbfertige wissenschaftliche Erkenntnis samt Anwendung, sondern das Bündel der Reflexe auf die Hoffnungen und Ängste, Wünsche und Erwartungen der jetzt lebenden Glieder der Gesellschaft. Fehlt diese Vertikale, dann ist etwas los, dann kommen die zentrifugalen und exzentrischen Kräfte los.

Es ist nie gut zu warten, bis man über die Zweierlinie fahren muß, weil auf der Ringstraße schon die „anderen marschieren“.

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