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Zwei Kugeln bleiben im Spiel

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Ohne Zweifel: diesmal war es etwas anders. Die herbstlichen Wahlgänge, die wir nun glücklich hinter uns gebracht haben, setzten wohl auch die Rechenstifte flinker Parteimathematiker in Bewegung, Stimmen- oder Mandatsgewinne wurden der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten. Keine der beiden großen Parteien stellte ihr Licht unter den Scheffel. Dazu kam aber bald ein zweites. Früher, als man es erwartet hatte, setzte eine große Aussprache über die Grundlagen unserer Innenpolitik ein. „Zweiparteiensystem“ und „dritte Kraft“ waren die Schlagworte, die Anlaß zu manch vorschnellem Wort, aber auch zu ernsten Ueberlegungen boten.

Ausgelöst wurde diese Diskussion’ durch den überstürzten, da und dort sogar chaotischen Rückzug des VdU auf der ganzen innenpolitischen Front. Hatte man sich doch nach dem Auftreten dieser politischen Gruppe, nach ihrem bemerkenswerten Anfangserfolg 1949 und nach der Festlegung auf die „nationalen“ Kader in weiten politischen Kreisen damit abgefunden, daß mit der Wiederkehr der Republik und etwas ruhigerer Zeiten anscheinend auch die Politik wieder in Geleise kommen müßte, in denen sie zwischen 1918 und 1934 gefahren war. Menschen, die aus der Vergangenheit ihre Lehren zu ziehen verstehen, konnte dieser Fatalismus freilich wenig begeistern. Zu sehr fühlten sie sich wie Besucher eines Kinos, die mitten in der Vorstellung entdecken, daß sie diesen Film, eigentlich schon einmal gesehen haben — und dessen wenig gutes Ende ihnen noch lebhaft in Erinnerung ist. Deshalb auch ihre Zurückhaltung gegen die da und dort in Krisenzeiten der Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner mitunter aufgetäuchten Gedanken, das Experiment einer „kleinen Koalition“ auch in Oesterreich zu wagen und über den „koalitionsfreien Raum“ zum sogenannten „Bürgerblock" zurückzukehren.

Nun, solche Erwägungen sind heute müßig. Interessanter ist es schon, einmal zu überdenken, ob der „Tripartismus“ wirklich so „gottgewollt“ ist, wie es mitunter behauptet wird, und ob nicht vielmehr unter geänderten historischen und soziologischen Voraussetzungen Auswirkungen in die Tagespolitik — mag man sie bedauern oder begrüßen — unvermeidlich sind. Solche yeränderungen kommen freilich nicht von heute auf morgen; historische Prozesse sind nicht mit der Stoppuhr zu begleiten.

Wie ist überhaupt alles gekommen? Es geht nicht an, an dieser Stelle auch nur einen gedrängten Abriß über die österreichische Innenpolitik der letzten hundert Jahre zu geben. Fest steht aber, daß am Beginn des jungen parlamentarischen Lebens in Oesterreich ein Zweiparteiensystem stand, das durch den Kampfruf „Hie liberal — hie konservativ!“ gekennzeichnet war. Erst mit dem immer fühlbarer werdenden Unvermögen der alten Mächte, auf die virulenten sozialen und nationalen Zeitfragen gültige Antworten geben zu können, lösen sich einzelne Männer aus dem festen Gefüge, bildet sich allmählich eine „Volksbewegung“. Bald ist diese in drei Richtungen aufgespalten, die zunächst noch hie und da miteinander, dann sehr bald aber gegeneinander marschieren.

Marschieren! Das Wort ist diesmal keine Redewendung, sondern will wörtlich verstanden werden. Denn das Marschieren, zunächst im zivilen Fest- oder auch Demonstrationszug mit der Kornblume, der weißen oder der roten Nelke im Knopfloch, eine Generation' später in der Doppelreihe der Heimwehr, der SA oder des Schutzbundes: das ist der sichtbare Ausdruck des Siegeszuges eines hauptsächlich von der Ideologie bestimmten politischen Denkens. Bis auch hier die Feder überspannt wurde.

Die Reaktion ließ lange auf sich warten, kam aber dann um so heftiger. Wir wissen, daß gerade ideal gesinnte junge Menschen, die sich im Widerstand gegen Hitler begegneten und von der Zukunft sprachen, den „historischen“ Parteien oft das Recht auf eine Wiedergeburt am Tage X absprachen. Der Tag X kam und am Tag Y auch zunächst die beiden großen Parteien. Sie hatten, auch wenn man die alliierte Förderung außer acht läßt, eine zähere Lebenskraft unter Beweis gestellt, als man es mitunter in verschiedenen Zirkeln wahrhaben wollte. Freilich zeigten sie veränderte Züge, die mit der Zeit immer offensichtlicher wurden. Sie verfielen in der geänderten Umwelt vielleicht gegen ihren Willen jenem Prozeß der Wandlung von der „Kampfgemeinschaft“ zur „Interessengemeinschaft“, den Adam Wandruszka an Hand verschiedener Einzelsymptome in einem klugen Aufsatz vor nicht so langer Zeit einmal diagnostiziert hat*. „Ideologische Verdunstung“: sehr gut, nur darf sie nicht so weit gehen, Ideologie mit Grundsätzen zu verwechseln und jede von Grundsätzen bestimmte Politik zugunsten eines reinen Pragmatismus, einer von Wahltag zu Wahltag rechnenden Taktik über Bord zu werfen. Das wäre wieder einmal Teufelsaustreibung durch Beelzebub. Doch davon ist heute nicht die Rede.

Zurück zu der durch die Ungunst der politischen Großwetterlage um vier Jahre verspäteten Renaissance des dritten „historischen“ Lagers der österreichischen Innenpolitik. Vielleicht hätte diese überhaupt nicht stattgefunden, wenn — wie unter anderem in den Spalten dieses Blattes gefordert wurde — der Nationalsozialistenfrage durch das individuelle österreichische Strafgesetz statt durch kollektive Maßnahmen, die oft gerade die Unschuldigen trafen, zu Leibe gerückt worden wäre. So fand die neue-alte Partei zwar nicht ein überwältigendes, aber immerhin beträchtliches Kader vor. Interessant ist, daß auch bei der Gründung des VdU Idealisten von einer „neuen, noch nie dagewesenen Partei“ träumten und schrieben. Wir bezweifeln nicht ihre Ehrlichkeit, wir kennen aber auch das Ergebnis: „Kornblumenball“ und „Julfeier“. In einer „Interessengemeinschaft“ und in einem „Traditionsverband“ sieht Adam Wandruszka, wie schon erwähnt, die Hauptelemente der Parteien in unserer österreichischen Gegenwart. Er könnte seine These durch das Schicksal des VdU stützen. Die alte Interessengemeinschaft ist weitgehend weggefallen — das Problem der NS-Gesetze kann heute als so gut wie liquidiert gelten —, bleibt nur der „Traditionsverband“. In Zahlen: Mehr als 100.000 Wähler weniger, die ihre neuen Interessen besser durch eine der großen Parteien vertreten sehen. Nun: der „Traditionsverband“ dieses einmal nicht unbeträchtlichen politischen Lagers wird bleiben, ob man nun auf dem angekündigten Bundestag des VdU bei der alten Firma bleibt oder ob man vielleicht einmal die Karten zusammenwirft, mischt und ein neues Spiel wagt. Allein, ob es nicht euphemistische Rede allein ist, von einer „dritten Kraft“ weiterhin zu sprechen — wie dies ausgiebig in den letzten Tagen in einer bestimmten Presse geschah —, wollen wir dahingestellt lassen. Nach unserer Meinung gebe es auf absehbare Zeit nur eines, was aus der dritten Gruppe wirklich wieder eine „dritte Kraft“ machen könnte: eine schlechte Politik der beiden großen Parteien.

Zwei Kugeln bleiben also im Spiel. Noch — oder wieder. Was liegt näher, als dieser Tatsache ihre unbestreitbar vorhandenen Vorteile abzugewinnen — und ihre möglichen Fehlentscheidungen rechtzeitig abzuriegeln. Das System, dem Oesterreich seine Freiheit und seinen Wiederaufbau in einem Meer von Gefahren verdankt, die „Koalition“, entspricht dem gegenwärtigen politischen Belagerungszustand. Allein sie hat bestimmt nicht Ewigkeitswert. Sie kann es gar nicht haben, soll nicht die Demokratie durch das Fehlen einer wirklichen Opposition um ihr Salz kommen. Rechtzeitig und mit Phantasie wird man sich daher bemühen müssen, über den Tag hinaus an die Zukunft zu.denken. Und bei solchen Ueberlegungen wird man immer wieder, auf die Frage einer Aende- rüng des Wahlrechtes zu sprechen, kommen, die Ersetzung des Verhältnis- durch das Mehrheitswahlrecht ernstlich in Betracht ziehen müssen. Wir verhehlen uns nicht, daß solch einer einschneidenden Aenderung Widerstände in allen Parteien gegenüberstehen. Und das bestimmt nicht nur allein aus selbstsüchtigen Motiven. Zu wach ist noch, das Mißtrauen, daß der andere Partner, einmal im Besitz der vollen Macht des Staates, es so einzurichten weiß, daß seine Regie-- rung auf lange Zeit ungefährdet ist. Es gibt für eine skrupellose Politik genügend Mittel, und Wege, auch bei formal freien Wahlen, auf verschiedene Weise (z. B. Einteilung der Wahlkreise) das Glück zu korrigieren. Das Mißtrauen erhält Auftrieb, wenn dfet führende Publizist der Sozialistischen Partei es für notwendig findet, seinen Ausführungen über das „Zweiparteiensystem“ einen Kommentar folgen zu lassen, in dem wiederum zu lesen ist: „Wir haben schon darauf hingewiesen, daß dieses System aber auch hier in absehbarer Zukunft dazu führen kann, daß, konkret gesprochen, die Sozialistische Partei zunächst die Führung der Regierung übernimmt und dann dauernd die Führung, schließlich die Alleinregierung behält.“ Die Ergänzung „alles auf dem Weg der Demokratie, auf dem Weg von der stärksten Partei zur Mehrheit" ist dann nicht viel mehr als ein Schönheitspflaster. Solche Worte, wie die eben zitierten, sind nur geeignet, jenen Auftrieb zu geben, die nach künstlicher Nahrung für die geschwächte „dritte Kraft“ rufen und bei Unterlassung das Gespenst einer sozialistischen Demokratur kommen sehen.

Ein gesundes Zweiparteiensystem erfordert etwas ganz anderes. Genau so wie sich die erste Regierungspartei mit dem Gedanken vertraut machen müßte, mitunter einmal auf vier Jahre Abschied von der Macht zu nehmen und — was in der Geschichte der Republik noch nie gewesen ist — in der Opposition neue, ungeahnte Kräfte zu gewinnen, genau so unerläßlich ist es, daß die zweite Regierungspartei schon an dem Tag ihrer etwaigen Machtübernahme die Bereitschaft hat, äbzutreten, wenn ihre Zeit um ist. Kommen und gehen: das ist das Gesetz der Demokratie.

. Sind dies müßige Tagträumereien? Halten wir, trotz des oft bereitwillig selbst ausgestellten politischen Reifezeugnisses, noch weit vor so einem großzügigen Umbau der Grundlagen unserer Innenpolitik? Vielleicht. Allein: noch nie wär die Zeit so günstig, eine große Inventur mutig in Angriff zu nehmen. Alle sind dazu eingeladen.

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