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Drei Schritte vor, zwei zuruck

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Die französische Politik gleicht seit langem schon der Echternacher Springprozession: drei Schritte vor, zwei Schritte zurück. Vorwärts treiben die geschichtlichen Notwendigkeiten. Rückwärts ziehen die Affekte des französischen Durchschnittsbürgers (auf der Straße sowohl wie im Ministersessel), der glaubt, er könne diese Notwendigkeiten aus der Welt schaffen, indem er vor ihnen die Augen schließt. Die Lage eines französischen Ministerpräsidenten, der sich über die begrenzten Möglichkeiten seines Landes im klaren ist, aber weder über die äußeren Mittel noch die innere Kraft verfügt, eine diesen Möglichkeiten entsprechende Politik durchzusetzen (das war der Fall von Gaillard), ist äußerst schwierig. Er muß seine Politik ganz auf jene Leute einstellen, die von ihm das Halten unhaltbar gewordener Positionen fordern. Rufen sie ihm zu: „Du darfst nicht weichen!“ so muß er antworten: „Natürlich nicht, auf keinen Fall werde ich das tun ...“ Sobald jedoch die Erregung etwas abgeflaut ist, muß er auf den Fußspitzen ein Stück des Weges zurückzulegen suchen, auf den ihn die sachlichen Notwendigkeiten zwingen. Mit Vorliebe tarnt er das mit unnachgiebiger Haltung auf einem Nachbargebiete. Oder er deckt das, wozu ihn die Wirklichkeit zwingt, als kühne französische Initiative ab.

So war es nach dem Bombardement von Sakiet, als Frankreich vor der Weltöffentlichkeit in den Anklagezustand versetzt w*. Damals proklamierte der jetzt gestürzte Ministerpräsident die Notwendigkeit einer französisch-maghrebinischen Föderation (wobei die Stellung Algeriens innerhalb dieser Föderation nicht zufällig im Unklaren gelassen wurde) und eines Westmittelmeerpaktes. Und da diese Vorschläge äußerlich die Form eines Gegenschlages gegen Bourgibas Abkehr von Frankreich angenommen hatten, wurden sie von der Mehrheit der Bremser geschluckt. Die Föderationspläne, die man heftig befehdet hatte, solange Mendes-France sie allein vortrug, galten nun plötzlich als überlegenswert. Und die in der Idee eines •Westmittelmeerpaktes beschlossene Internationalisie-rung des Algerienkonfliktes . stieß nicht mehr auf dieselben unüberwindlichen Widerstände, weil es eine limitierte Internationalisierüng war, welche nicht nur praktisch die UdSSR, sondern zum mindesten formal auch die USA ausschloß. Das alles erinnert an den sarkastischen Spruch, daß in der französischen Politik die richtigen Maßnahmen stets einmal durchgeführt würden — es komme nur darauf an, w a n n.

Die Nachteile dieser Politik springen in die Augen. Zuerst einmal bietet sie ein wenig erhebendes Bild: die in ihr steckende Unaufrich-tigkeit ist mit schuld an der Abneigung, die der Durchschnittsfranzose vor der Politik im allgemeinen empfindet, und an der fortschreitenden Entwürdigung der parlamentarischen Republik. Zum zweiten ist diese Politik für Krisenzeiten höchst ungeeignet: auch die richtigste Aktion wird unsinnig, wenn sie zu spät einsetzt. Und das ist in kritischen Situationen fast immer der Fall, weil dann die zu Konzessionen nötigenden Affekte am stärksten aufgeputscht sind. Drittens aber kann diese Politik der Springprozession nicht nur zu langsam sein — sie kann überhaupt entgleisen. Das hat der Sturz Gaillards drastisch vordemonstriert. Seit Sakiet ist die Räumung der militärischen Stützpunkte Frankreichs in Tunesien (mit Ausnahme des Sonderfalles Bizerta) unvermeidlich und nur nctfh eine Frage der Zeit. Der Ministerpräsident hätte jedoch die Zustimmung einer Kammermehrheit zur Evakuation nur dann erhalten können, wenn er einen sichtbaren Erfolg an anderer Stelle — in der Frage der Kontrolle der algerisch-tunesichen Grenze — hätte aufweisen können. Die Peitsche allein genügt nicht; es muß das Zuckerchen dazukommen.

Das Schlimme jedoch ist, daß, solange die gegenwärtige Kammer die französische Politik bestimmt, eine andere Politik als die der Springprozession gar nicht möglich ist. Die gegenwärtige Regierungskrise ist unter der Parole ausgelöst worden, daß man sich zwischen einer „Politik des Aufgebens“ (französischer Positionen) und einer „Politik der Stärke“ zu entscheiden habe. Aber diese Alternative ist eine Illusion. Es gibt innerhalb des parlamentarischen Rahmens gar keine Wahlmöglichkeit mehr. Mit einem kleinen Rechenexempel ist das sehr leicht zu beweisen.

Die Kammer zählt zur Zeit rund 600 Abgeordnete. Das, was die störrische Rechte als .Politik des Aufgebens“ bezeichnet und in Wirklichkeit der Wille ist, die unausweichliche föderalistische Reform des Kolonialreichs ohne Zeitverlust durchzuführen, so daß eine totale Internationalisierüng des Konflikts vermieden werden kann — diese Politik der Mendes-France und Mitterand hat allerhöchstens fünfzig Abgeordnete hinter sich. Sie wird darum keine Mehrheit finden. Die von einer „Politik der Stärke“ bramarbasierenden Rechtsgruppen von den „Unabhängigen“ Pinays und den Ex-Gaullisten bis zu den Poujadisten kriegen etwa 200 Abgeordnete zusammen. Auch das reicht nicht zu einer Mehrheit. Da die 150 Kommunisten die konsequenten Spielverderber sind und es vor allem darauf anlegen, der parlamentarischen Republik das Bein zu stellen, als mögliche Partner also ausfallen, steht sowohl der kolonialistischen Rechten wie den antikolo-nialistischen Mendesisten nur ein Weg offen: mit der vierten Gruppe zu paktieren. Diese restlichen 200 Abgeordneten finden sich vor allem bei den Sozialisten und den katholischen Volks-rcpublikanern. Sie sehen zwar ein, daß es mit der vielzitierten „Stärke“ nicht mehr geht, aber sie haben auch nicht den Mut, sich offen zur Politik von Mendes-France zu bekennen (die insgeheim von einer Mehrheit unter ihnen gebilligt wird). So kann man mit ihnen nur eine Politik machen: die der Springprozession. Nur die Hintergedanken wären anders dabei. Tritt die Rechte in eine solche uneinige Mehrheit ein, so tut sie das mit der Gewißheit, daß der Bremser auf die Dauer der Stärkere sein wird. (Im Fall der Regierung Gaillard hat sie damit recht gehabt.) Die föderalistischen Reformer ihrerseits hoffen, daß ihnen in einer solchen monströsen Mehrheit (die zudem nur mit dem Zulauf vereinzelter vernünftiger Köpfe aus dem Lager der Rechten möglich wäre) die Logik der Tatsachen die Oberhand verschafft. Auf lange Sicht gesehen, kann diese Ueberlegung die richtigere sein. Aber das, was sie voraussagt, kann eben — wie schon gesagt — zu spät kommen ...

Im übrigen ist die „Politik der Stärke“ auch, abgesehen von allen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen, eine Illusion. Ihre Wortfuhrer Bidault, Soustelle, Morice stellen sie sich ja allzu offensichtlich nach dem Muster der Trompeten von Jericho vor: man müsse nur stark genug auftreten, dann würden die Mauern der anderen schon zusammenstürzen. Der Bluff, der darin steckt, ist jedoch denen, die gemeint sind, nicht verborgen geblieben. Bisher hat nämlich keiner jener Wortführer auch nur im Wort die Konsequenzen zu ziehen gewagt. Diese Konsequenzen bestünden nicht nur in einer offen ausgesprochenen Forderung nach Wiedereroberung von Tunesien (und Marokko). Sie bestünden auch darin, daß Frankreich der ganzen Welt das Wort zuruft, das Cambronne bei Waterloo von sich gegeben haben soll. Und zwar müßte es vor allem gegenüber den beiden Staaten ausgesprochen werden, von denen man sich (wenn auch teilweise auf dem Umweg über internationale Institutionen) finanzieren läßt: der USA und der Bonner Republik. Vor allem aber müßte diese „Politik der Stärke“ sich zuerst ihre Grundlagen in Frankreich verschaffen: sie müßte eine Kriegswirtschaft einführen, samt „Austerite“ — das heißt, sie müßte vom Franzosen verlangen, daß er seinen ganzen Lebensstil ändert. Das auch nur zu nennen, heißt schon, die Unmöglichkeit dieser ganzen Politik aufzeigen. Gerade die Rechte ist es ja, die jeweils empört aufschreit, wenn der Staat erhöhte Opfer des einzelnen fordert, handle es sich nun um eine Steuererhöhung oder um eine Verlängerung der Dienstzeit. Von den zahlreichen Franzosen unter unseren Bekannten, die eine „Politik der Stärke“ fordern, ist bisher keinem einzigen eingefallen, um dieser Stärke willen seinen gewohnten Lebensstil einzuschränken.

Vielleicht ist eine Politik der Stärke mit all den Opfern, die sie verlangt, immer nur eine Angelegenheit einer Minderheit. Wir übersehe nicht, daß eine größere Anzahl gerade jünger Franzosen zu solchen Opfern bereit wäre. Ar der Gesamtheit gemessen ist aber ihre Zah doch recht klein. Man mag einwenden, daß es auf die Zahl nicht ankomme, nur auf den Wil len. Damit ist aber auch gesagt, wo eine solch „Politik der Stärke“ allein möglich wäre: außer halb des parlamentarischen Systems. Dies( Möglichkeit besteht. Und je länger die gegen wärtige Regierungskrise dauert, desto nähei rückt sie. Man hat jedoch nicht den Eindruck daß die Parlamentarier, die Gaillard gestürz haben, sich bewußt sind, wie sehr sie mit den Feuer spielen.

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