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Die 6. Republik auf dem Marsch?

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Wird in Frankreich die Fünfte Republik mit dem Friedensschluß oder, bescheidener gesagt, mit dem Waffenstillstand in Algerien ihre Aufgabe erfüllt haben? Ist also dann, in logischer Konsequenz, die Sechste Republik in Sicht? Wenn man bedenkt, daß in der Geburtsstunde der Fünften Republik vor drei Jahren und neun Monaten der General das Schicksal seines Landes mit dem einzigen erklärten Ziel vor Augen in die Hand nahm, in Algerien den Frieden herzustellen, dann muß man diese beiden Fragen zumindest für berechtigt halten. Und in der Tat: man hält sie für berechtigt. Diese Fragen nehmen in den französischen Zeitungen neben den täglichen Berichten über die Terroranschläge der OAS einen immer breiteren Raum ein. Man könnte vielleicht sogar etwas überspitzt sagen: die letzten Höhepunkte in der ununterbrochenen Kette von Bombenattentaten, Feuerüberfällen und sonstigen blutigen Streichen der Geisterarmee zwingen geradezu zu einem Überdenken der Situation, die sich dem europäischen Beobachter etwa wie folgt darbietet:

Während sich die französische Regie-lung unter dem Präsidenten de Gaulle und durch den in dessen Auftrag behutsam operierenden Staatsminister Louis Joxe immer mehr auf das noch unerprobte Terrain der Verständigung mit dem gestrigen Feind, der algerischen Exilregierung, vortastet, beweisen die tollkühnen und meist unge-sühnt bleibenden Terroraktionen der Organisation Armee Secrete (OAS), daß sich die Regierung veranlaßt sieht, daheim noch vorsichtiger zu sein als im Park-Hotel von Evian am Genfer See. Die reguläre französische Armee wird geschont, sie wird noch immer nicht voll gegen die OAS eingesetzt. Warum nicht? Das fragen unzählige Bürger im Mutterland und noch mehr geheime Helfer und Förderer der Aktionen der OAS in den großen Städten Algeriens. Sie. vor allem die letzteren, finden auch zumeist rasch die Antwort: Weil die Regierung der rückhaltlosen Verläßlichkeit der Truppe, vor allem des Offizierskorps, nach wie vor nicht ganz sicher ist. Sie will also dort, wo es möglich ist, vermeiden, daß die Loyalität der Armee auf die Probe gestellt wird.

Die Zwangslage der Regierung mag zumindest zum Teil eine eingebildete sein. Denn es kursieren in Frankreich Schätzungen, die beweisen wollen, daß höchstens nur 15 Prozent der Offiziere für die OAS seien. Die Mannschaften, die ihren Wehrdienst leistenden Zivilisten also (der vielberufene „Contin-gent“), engagieren sich nicht. In Kreisen dieser Nachkriegsgeneration, auf die es eigentlich ankommen müßte,

war der Algerienkrieg von vornherein denkbar unpopulär. Und es mehren sich die Anzeichen, wonach in der Armee selbst genügend Kräfte wachgerufen worden sind, die ihre Offiziere notfalls zur Befolgung ihres Treueeides zwingen würden.

Man hat diese französische Armee in letzter Zeit des öfteren mit einem hochempfindlichen Präzisionsinstrument verglichen. Diese Bezeichnung entspricht wohl in mehrfacher Hinsicht der Wirklichkeit. Frankreich verfügt heute zweifellos über eine in hohem Grad mechanisierte, äußerst bewegliche und schlagkräftige Armee, die allein in Algerien 500.000 Mann umfaßt. Diese Armee hat aber noch andere Eigenschaften, auf welche die Bezeichnung „hochempfindlich' \..im psychologischen Sinn zutrifft. Die französische Armee „denkt“: und gemeint ist damit noch am wenigsten die hohe Generalität, sondern die Armee in ihrer Gesamtheit, deren „Elementarteilchen“, die Offiziere und Unteroffiziere höheren und niedrigeren Grades und die Mannschaften, nicht aufhören und auch nicht dazu angehalten werden können, politisch denkende oder reagierende Einzelindividuen zu sein. Allerdings: so viele Einzelindividuen, so viele Schattierungen in den Antworten auf die Schlüsselfrage, die das Rätselraten über das Schicksal der Fünften Republik und das Gesicht einer etwa kommenden „Sechsten“ wohl mitentscheiden wird.

Für sehr viele Offiziere gilt die OAS, gelten die Aktionen der „Plasti-queurs“ als tabu. Man spricht nicht davon. Aber von den Aussichten eines etwaigen Putschversuches während der gefährlichen Übergangszeit zwischen dem Abschluß des Waffenstillstandes und der vollen Unabhängigkeit spricht man in den Kaffeehäusern von Paris oder Oran offen: Sie werden, „auf kurze Sicht“, als äußerst gering bezeichnet. „Die .Armee macht nicht mit.“ Es gibt keine Putschistengeneräle mehr, wie einst den bedeutenden, volkstümlichen Challe. Die Terroranschläge tut man mit einer halb verschämten, halb verachtenden Geste ab. Insofern scheinen also die Sorgen der Regierung unbegründet zu sein. Etwas anders lauten die Antworten, wenn man fragt, ob die Armee auch bereit wäre, notfalls auf die „Pied-Noirs“ — eine selbstgewählte Bezeichnung für die Siedler in Algerien, die ihre Verwurzelung im Heimatboden seit alters her meint — das Feuer zu eröffnen. Nein, das wieder nicht! Auf die „Pied-Noirs“ schießt man eben nicht Und so werde es wohl am günstigsten sein, wenn die Truppen nach Abschluß des Waffenstillstandes allmählich auf dem Land konzentriert und stationiert werden und die weit heiklere Aufgabe, die Sicherung der großen Städte, anderen Kräften anvertraut wird. (Man ahnt da einen Teil der Schwierigkeiten, mit denen die französische Delegation in Evian, wo es um die Frage der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in Algerien nachher ging, auch in den eigenen Reihen fertig werden mußte.)

Es gibt aber auch Stimmen, die der Armee eine „entscheidende Rolle“ bei der Gestaltung der Zukunft im Sinne einer „nationalen Einheit“ zubilligen wollen. Und hier fällt auch das Wort von der „Sechsten Republik“ viel entschiedener als in den tastenden Gesprächen bürgerlicher Politiker. Es sollte eben General Salan, der un-

sichtbare Führer der OAS, sein, der dieser Republik der Einheit und Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und wie die international gängigen Attribute einer Militärdiktatur noch heißen mögen, vorstehen werde. Wird es dazu kommen? Professor Maurice Duverger, eine international anerkannte Autorität auf dem Gebiet der politischen Wissenschaften, verneint dies. Er hat vor Jahresfrist ein Buch, „Über die Diktatur“, geschrieben, das deutsch vor kurzem in Wien erschienen ist. Er setzt sich hier besonders eingehend mit dem für Frankreich wohl aktuellsten Problem der „prätorianischen Diktatur“, also mit dem Mechanismus und den konkreten Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Diktatur des Militärs trotz größten Wohlstandes, den die neuere Geschichte Frankreichs kennt, auseinander. Die Gefahr war groß, meint Professor Duverger am Ende seiner Analysen, sie scheint aber vorüber zu sein. „Wenn de Gaulle den Frieden in Algerien herstellen kann, würde nach und nach alles wieder in Ordnung kommen. Es bliebe immer noch genug zu tun übrig, zum Beispiel diese Generation von intelligenten und tapferen Offizieren endlich nützlich einzusetzen. Dann würden die Franzosen nicht mehr um die Zukunft der Freiheit zittern...“

Der Krieg geht — in Frankreich nach 23 Jahren, davon sieben Jahre Algerienkrieg — also zu Ende, die Stunde der Politik, der politischen Parteien naht. Der General wird es sich nicht nehmen lassen, „seinen“ Frieden durch eine Volksabstimmung bestätigt zu sehen. Noch einmal werden ihn die Wellen nationaler Begeisterung emportragen. Der politische Alltag nachher sieht schon düsterer aus, auch wenn man von der konkreten Möglichkeit verzweifelter Putschversuche in Algerien absieht. Parlamentswahlen stehen vor der Tür. Das Kabinett Debre wird zweifellos bestrebt sein, die Wahlen, bei denen es viel mehr um ..prosaische“ Dinge gehen wird, möglichst nahe an das „Re-

ferendum“ folgen zu lassen. Das wollen jedoch alle jene Politiker verhindern, die der Meinung sind, es bestehe keine Veranlassung, den in den verschiedenen gar nicht schönen Begleiterscheinungen des Algerienkrieges „verbrauchten“ Premierminister auch an die Spitze eines französischen Kabinetts „nachher“ zu stellen, zumal dieses Nachher bald auch „nach de Gaulle“ bedeuten könnte. Es wäre also schon aus diesem Grund wichtig, meinen manche, wenn bis zu den Wahlen einige Monate verstreichen würden und in dieser Zeit die Parteien endlich Gelegenheit hätten, sich der Pflege und Entfaltung.-ihrer eigenen Aufbaukräfte zu widmen.

Andere, die niehr in den Kategorien einer der französischen Demokratie nie ganz fremd gewordenen Kabinettspolitik denken, wollen bereits Namen gehört haben. Da ist vor allem Monsieur Pompidou, einstiger Kabinettschef de Gaulles in der legendären Zeit nach 1944 und bis heute ein „perfekter Gaullist“, der jetzt als Generalbevollmächtigter des Bankhauses Rothschild dessen Interessen in zahlreichen der größten Industrieunternehmungen, vom Saharaöl angefangen bis zu den Eisenbahngesellschaften des Mutterlandes, vertritt. Georges Pompidou besitzt, so sagen viele, das Vertrauen des Generals in viel höherem Maße als Ministerpräsident Debre, und er hat dieses Vertrauen in vielen heiklen diplomatischen Missionen auch reichlich verdient. Die Annäherung der Standpunkte von Paris und der algerischen Exilregierung sei zum Großteil sein Werk. M. Pompidou hätte als Ministerpräsident die Aufgabe, die französische Innenpolitik aus einer Sackgasse hinausführen zu helfen, in die sie durch die Eigenwilligkeit und Unnahbarkeit des Generals und durch das Versagen der Regierungspartei, der UNR, nunmehr geraten ist. Die Lösung sei: eine Verbreiterung der Basis. Und da spricht man etwa von der erneuten Heranziehung des prominenten

Politikers der katholischen MRP Ex ministerpräsident Pierre Pflimlin als Heeresminister, des Radikalsozialisten und ebenfalls früheren Ministerpräsidenten Edgar Faure als Finanzminister, des bewährten Außenpolitikeis Maurice Schumann als Informationsminister und des Delegiertenführers von Evian, Joxe, als Außenminister. Ein weiterer MRP-Politiker, Buron, der bekanntlich mit zwei seiner Parteikollegen auch heute dem Kabinett angehört, ist ebenfalls in Kombination. Diese „Voraussagen“ stützen sich zunächst noch auf kaum etwas anderes als auf gelegentliche Gespräche des großen Einsamen des Elysee-Palastes mit dem einen oder anderen der scheinbar Aus-, erwählten. Man sieht förmlich die Szenerie vor sich: die strenge Architektonik des Präsidentenpalastes, auf den Dächern ringsherum Hakbatterieii wegen der latenten Putschgefahr, vor dem Eingang aber noch immer die biederen, blauroten Ausgehuniformen der Garde Republicaine. Weißbehandschuhte Lakaien geleiten den zur Audienz zitierten Politiker in das Hausinnere, und die schweren Vorhänge schließen sich ... Die Frage einer künftigen Regierung wird wohl noch einige Zeit ein Geheimnis: bleiben.

Mehr Anhaltspunkte hat man bei Voraussagen für den Wahlausgang. Man rechnet mit einem Rückgang der Stimmen für die UNR und mit einem Vorrücken der Parteien der Mitte, vor allem eben der christlichdemokirati-schen MRP. Die nichtmarxistische Linke hat sich in diesen Jahren des innenpolitischen Stillstandes nicht ge-hinden. die Stunde von Mendes-France scheint endgültig vorbei zu sein. Die Kommunisten haben den' Höhepunkt ihrer Machtentfaltung wohl ebenfalls hinter sich, und auch die Sozialisten vermochten sich noch nicht von ihrem einstigen, nicht nur für sie verhängnisvollen Engagement in Algerien zu erholen.

Die Vierte Republik wird nicht wiederkommen: darin sind sich fast alle Beobachter der Entwicklung in Frankreich einig. Der einflußreiche Bürgermeister von Marseille, Gaston Defferre, formuliert das so: De Gaulle soll bleiben, er ist schließlich der Monarch und als solcher unser mächtigstet Garant gegen ein faschistisches Abenteuer. Aber die Parteien haben jetzt wieder eine Chance. Nur daß die Jugend nicht wieder die alten Formen und Praktiken sehen will...

Welche Jugend? Algerien ist heute ein Niemandsland. Hinter den Fassaden der großen Städte „ausradierte“ Dörfer, verbrannte Erde, unbebaute Felder. Die OAS ist gut bewaffnet und wird durch viele Fanatiker unterstützt. In den großen Schulen von Paris mit berühmten Namen — nicht in den Hochschulen — erhält die OAS Nachwuchs. Die künftige Erziehungsarbeit der Parteien hat also ein reiches Tätigkeitsfeld vor sich. '

Politik will nun auch in Frankreich in eine neue Dimension transformiert werden. Zu diesem wohl entscheidenden Thema sagte der bekannte französische Jesuitenpater R. P, Danielou in einem Vortrag vor einem internationalen Auditorium vor kurzem folgendes: „Eine der schlimmsten Verzerrungen von heute ist die Politisierung sämtlicher Probleme. Die philosophischen, religiösen, künstlerischen Werte werden nur noch unter dem Gesichtswinkel ihrer politischen Wirkung gesehen. So wird durch eine dramatische Umkehrung die politische Linie zum absoluten Maßstab und das übrige wird relativ. Wir müssen gerade im entgegengesetzten Sinn wirken. Es geht darum, den Werten der Wahrheit, der Schönheit, des Geistes, dem ganzen unermeßlichen Bereich des privaten Daseins des Menschen, dem Bereich der Arbeit, der Religion, ihren Vorrang wiederzuverschaffen. Der Zweck der Politik ist, dies zu ermöglichen ,..“

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