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Vor der Kraftprobe

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Der Rücktritt der fünf der katholischen Volksrepublikanischen Bewegung (MRP) angehörenden Minister der Regierung Pompidou war ein spektakuläres Ereignis, in dessen Licht vieles in Frankreich unvermutet veränderte Konturen zeigte. Die Krise pflanzt sich seither fort,-nur die Lücke in der Regierung konnte rasch gefüllt werden. Ein Minister wurde ernannt, die Agenden der restlichen vier demissionierten Kabinettsmitglieder wurden im Zuge einer Umgruppierung unter anderen Ressorts verteilt. Trotzdem kann man in gewisser Hinsicht von einer Wende in der französischen Innenpolitik sprechen, abgesehen von den Auswirkungen auf dem Gebiet der internationalen Politik, zumal nach letzten Meldungen auch die Unabhängigen den Schritt in die Opposition erwägen.

Die innenpolitischen Aspekte der Rebellion der fünf deuten das rasche Fortschreiten einer gewissen Normalisierung an, die zugleich ein Stärkerwerden bestimmter politischer Kräfte der Vierten Republik bedeutet und so manche Prognosen der letzten Jahre widerlegen dürfte. Dem sichtbaren Höhepunkt der Krise vom 16. Mai ging eine regelrechte demokratische Aktion in zahlreichen Parteiversammlungen des MRP voraus, und der Jahreskongreß am Ende dieses Monats in Dijon wird aller Voraussicht nach weitere Akzente Im Sinne der seit jeher konsequent verfolgten Europapolitik dieser Partei setzen. Seit diesem 16., besser gesagt seit dem 15. Mai, steht nämlich die europäische Politik Frankreichs im Mittelpunkt aller Debatten, trotz der weiteren Terroranschläge in Algerien, der soeben erfolgten Verurteilung des Exgenerals Raoul Salan und der in diesen Wochen auch auf Frankreich übergreifenden Streikbewegungen. Und es sind eben diese Debatten, die das Bild der französischen Innenpolitik auf Anhieb veränderten. Die Frage Krieg oder Frieden in Algerien hatte eine künstliche Aktionsmehrheit beinahe aller politischer Kräfte in Frankreich geschaffen. Daran änderte zunächst auch der Umstand nicht viel, daß manche Gruppen ihr offen bekundetes „Ja“ anläßlich des Algerienreferendums als „Ja, aber“ verstanden haben wollten. Denn auch im großen Lager der „Ja, aber“-Stimmen schienen Kommunisten, Sozialisten und MRP-Wähler nahe beieinander auf, ihr „aber“ bedurfte also offensichtlich der weiteren Differenzierung. Das ist nun bezeichnenderweise gerade im Bereich der Europapolitik mit aller Deutlichkeit geschehen.

Daneben hat es den Anschein, besonders nach den jüngsten Erklärungen des Präsidenten Kennedy, der die grundsätzliche Einheit des Westens trotz der Vielfalt der Ansichten betonte, daß der eigentliche Gegenstand der Kontroverse zwischen de Gaulle und den ihm in der Europa-Frage opponierenden Parteien von der Presse und auch von manchen der Politiker über Gebühr dramatisiert wurde. Dazu trug freilich auch der General selbst bei, der inmitten der Pracht des großen Festsaales des Elysee, vor beinahe tausend Journalisten, in Anwesenheit der Würdenträger des Staates seine jüngste „historische“, bewußt auch so inszenierte Pressekonferenz abhielt und dabei mit ironisierenden Bemerkungen über seine Kritiker in der Regierung, Anhänger des von ihm abgelehnten supranationalen Europa, nicht sparte. Es steht allerdings fest, daß der französische Staatspräsident nicht einmal daran denkt, sein Konzept von einem „Europa der Staaten“ aufzugeben, ein Konzept, in dem einem mit „nationaler Atomwaffe“ ausgestatteten Frankreich und ferner dem engen Bündnis zwischen Frankreich und der Bundesrepublik die wichtigsten Rollen zufallen, was den Widerstand eines Spaak im Namen der kleineren Staaten und die nachhaltende Verstimmung des um sein Integrationskonzept ringenden England ja verständlich macht.

De Gaulle sagte sogar den Tag voraus, an dem dieses Europa, als „dritte Kraft zwischen den beiden Kolossen ein Element der Weisheit“, die Rolle eines Schiedsrichters über den Weltfrieden übernehmen werde. Dazu meint man nun in England und auch anderswo, daß dieses Zukunftsbild einer politischen Union Europas der realen Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes unter Teilnahme Englands nicht eben förderlich sei und daß dies de Gaulle auch gar nicht wolle. Es handle sich also dabei eigentlich um eine kalte Absage an die europäische Integration.

Es ist jedoch schon heute klar, daß diese Kombinationen, einmal laut ausgesprochen, sogleich starke Gegenkräfte auf den Plan rufen müssen. Selbst der General wird die Möglichkeit einer wachsenden parlamentarischen Opposition gegen seine Europapläne und die gewichtigen Stimmen des Auslandes nicht außer acht lassen können. Inzwischen ist auch bekannt geworden, daß Adenauer und de Gaulle im Lauf des Sommers beziehungsweise des Frühherbstes einander gegenseitig Besuche abstatten werden. Es ist geplant, daß die beiden Staatsmänner in öffentlichen Reden in französischen und deutschen Städten die enge Verbundenheit der beiden Länder feierlich manifestieren. Ist das alles nur die glänzende Fassade, hinter der sich schon ein wiederauflebender Nationalismus regt, der nach der Ära der „beiden Monarchen“ seinen Platz wieder einnehmen will? Anfang Juni kommt der britische Premierminister nach Paris. Seine Reise wird als das bisher wichtigste Unternehmen seiner Regierungszeit bezeichnet. Im Herbst soll dann ein Referendum in Frankreich über die Europapolitik stattfinden. Die entscheidende Kraftprobe steht also auf alle Fälle noch bevor.

Auf dem Terminkalender nimmt schließlich auch der Besuch Bundeskanzler Gorbachs in Paris einen gar nicht unbedeutenden Platz ein. Es ist auch für Österreich wichtig, zu wissen, daß die Fragen der europäischen Integration in Frankreich heute mehr als je im Vordergrund des Interesses stehen. Frankreich hält, wie, schon zur Zeit der Vierten Republik unter maßgeblicher Beteiligung der durch das MRP beschickten Regierungen, bei allen europäischen Entscheidungen eine Schlüsselstellung inne. Auch über die Bedeutung der Neutralen hat man in Paris wohl genaue Vorstellungen. Österreich dürfte gerade in dem gegenwärtig in Paris herrschenden politischen Klima willige, aufmerksame Gesprächspartner vorfinden.

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