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De Gaulies Wacht am Rhein

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„Schweig, Sancho“, antwortete Don Quijote seinem Knappen Sancho Pansa, nachdem ihn ein Windmühlenflügel vom Gaul gefegt hatte, „denn die Dinge des Krieges, mehr als andere, sind fortwährendem Wechsel unterworfen.“ Das entspricht im wesentlichen der Antwort, deren General de Gaulle seine internationalen Kritiker zu würdigen pflegt, wenn ihm der Anspruch auf eine nationale Atomstreitmacht vorgeworfen wird. Intransigenz, ja, Unduldsamkeit kennzeichnen in Fragen weltpolitischer Strategie die an sich schon von Legenden der Starrköpfigkeit umrankte Position des französischen Staatspräsidenten. Denn Stalins spöttische Frage nach den „Divisionen des Papstes“ — wem wurde sie öfter gestellt als de Gaulle; sie formuliert geradezu das Gesetz, nachdem er, der Militär, als Staatsmann angetreten ist.

In der Tat: Wie viele Divisionen besaß der unbekannte General, der am 18. Juni 1940 im Namen des freien Frankreichs in London seine Stimme erhob? Sein Heer machte traurige Figur, und der Ruf nach Donquichotterie lag auf der Zunge der Geschichtsschreibung. Aber er hatte ein unschätzbares Kapital nach England gerettet, dessen Gewicht er selber wohl nur ahnte, als er den sogenannten militärischen Realisten den Satz entgegenhielt: „England weiß, daß es nicht siegen könnte, wenn jemals die Seele Frankreichs zum Feind überginge.“ Damals legte sich seine hochfliegende politische Gedankenwelt wie eine eiserne Lunge um den vom Nationalsozialismus zerschmetterten Leib des französischen Staates, und in ihr vollzog sich jene mystische Personalunion zwischen „dem General de Gaulle“ — wie er sich selber in der dritten Person anspricht — und jener „gewissen Idee“, die er sich stets von Frankreich gemacht hatte. Es war die Geburt des gaullistischen Mythus.

Der Mythus hatte Raum in einem Europa, das sich 1945 am Ende eines der zur bösen Tradition gewordenen Lokalkriege wähnte und von den überseeischen Mächten kurzerhand erwartete, daß sie sich zurückzögen, um die Europäer unter sich über Europa sprechen zu lassen. Allein, de Gaulies Anspruch auf eine Großmachtstellung Frankreichs in Europa verhallte unge-hört, und von den drei Mächten USA, Großbritannien und Sowjetunion, die über das Schicksal Europas befanden, zählte de Gaulle nur die, letztere als europäische Macht. Auch die 1945 geschlossene „schöne und gute Allianz mit der mächtigen und tapferen Sowjetunion“ brachte nicht das Europa vom Atlantik bis zum Ural“, in dem sich nach de Gaulies Auffassung „Slawen, Germanen, Gallier und Lateiner“ assoziieren sollten, während England im angelsächsischen Lager zwischen Amerika und Europa zu wählen hätte.

Welche Rolle war Deutschland zugedacht in diesem Europa, das sich nur durch eine Verständigung Westeuropas mit der Sowjetunion, jenseits des amerikanisch-sowj etischen Wettstreits, realisieren könnte? De Gaulle hat dies noch 1948 in aller Schärfe formuliert; zu einem Zeitpunkt, da die Londoner Deutschlandkonferenz den Grundstein zur Bundesrepublik schon gelegt hatte: „Kein Deutsches Reich mehr ... ! Im Gegenteil, deutsche Einzelstaaten, deren jeder seine Einrichtungen, seine Eigenart und seine Souveränität hätte, denen es erlaubt wäre, sich untereinander zu verbünden und in eine europäische Gruppierung einzutreten, in der sie ihren Rahmen und ihre Entfaltungsmöglichkeit fänden...“

Warum wir in diesen schon angegilbten Blättern der Historie stöbern? Weil sich das Geschichtsbild de Gaul-les in seinen Grundzügen seither kaum verändert hat und weil sie den Schlüssel zum Verständnis dieses Staatsmannes liefern. Was er übersah, was ihm sein eigener Mythus verbaute, als er sich 1946 nach Colombey-les-Deux-Eglises zurückzog, das war der Umstand, daß Frankreich zwar nicht als Großmacht aus dem zweiten Weltkrieg hervorgehen konnte, aber daß ihm dafür der bedeutende geschichtliche Auftrag zufiel, als moralische Potenz für Europa sprechen zu können. Bis zu dieser Einsicht ist jedoch kostbare Zeit verlorengegangen, und die Bundesrepublik etablierte sich als politische Realität. Das französische Mißtrauen gegenüber dem östlichen Nachbarn beschränkte sich auf das außenpolitische Axiom, daß Deutschland nicht aus eigenem Antrieb politisch initiativ werden könne und dürfe. Im Kielwasser der Marshallhilfe folgte der Atlantikpakt und damit die Besiege-lung der militärischen wie politischen Abhängigkeit Westeuropas.

Auf diesem Kurse traf de Gaulle das französische Staatsschiff, als er 1958 inmitten der algerischen Stürme zum zweitenmal das Steuer übernahm. Erneut stieß sein Anspruch auf weltpolitisches Mitbestimmungsrecht im Kreise der Atommächte auf die spöttische Frage nach der militärischen Schlagkraft Frankreichs. Ihrer Beantwortung mußte die möglichst rasche Beendigung des unglückseligen Kolonialkrieges vorausgehen, der Frankreich unsinnige menschliche und finanzielle Opfer abforderte. De Gaulle hat dies unter Aufbietung seiner höchsten Konzentration und beinahe übereilt unter beträchtlichen Risiken erwirkt — nicht um sich im Kreise von Technokraten mit integrationistischen Sandkastenspielen zu bescheiden oder mit England eine Hegemonie in Westeuropa zu teilen, sondern um seine Rückkehr in die aktive Außenpolitik zu erzwingen. Der offizielle Besuch der Deutschen Bundesrepublik in diesen Tagen — darüber kann es keinen Zweifel geben — soll Frankreichs Comeback in die Weltpolitik einleiten.

Die Darstellung der aktuellen außenpolitischen Konzeption de Gaul-les hat ihre Tücken. Der französische Staatspräsident liebt es, seine Ziele auf Umwegen zu erreichen und dabei die dichten Nebel phantasievoller Exegese geschickt zu nutzen. Hat er nicht unlängst die versammelte Pariser Presse mit der Bemerkung verblüfft, er habe persönlich niemals von einem „Europa der Vaterländer“ gesprochen — und dies, nachdem Bibliotheken mit Abhandlungen über diese These gefüllt worden sind! Der vorausgeschickte kurze Abriß seiner politischen Laufbahn ergibt zusammen mit den jüngsten Erklärungen jedoch ein hinreichend deutliches Bild:

• Angelpunkt ist die Wehrpolitik mit der Schaffung einer französischen Atomwaffe, die Absage an die „Sirenen der Dekadenz“, die Frankreich empfehlen, sich in den Schutz anderer Nationen zu begeben. De Gaulle strebt dabei nicht den unrealisierbaren Gleichstand mit der atomaren Schlagkraft der Großmächte an, sondern begnügt sich mit der Befähigung, jede kriegerische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion aus eigenem Ermessen auf die Ebene der nuklearen Waffen verlegen zu können, womit er das Mitspracherecht im westlichen Atomklub erzwingt. Das klingt wie eine Neuauflage jenes alten Satzes an die Adresse der militärischen Realisten:Amerika weiß, daß es nicht siegen könnte, wenn jemals die Seele Europas zum Feind überginge.“

• Das atomare Prestige sichert Frankreich die politische Hegemonie in Europa, solange England den politischen Einigungsbestrebungen ferngehalten werden kann. De Gaulle versucht dies, indem er den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt zu einer Wahl zwischen Amerika und Europa macht. Entscheidet sich England für Europa — was kaum zu erwarten ist —, müßte es auf seine eigene Atomwaffe verzichten oder die amerikanischen Atomgeheimnisse mit Frankreich teilen.

• Die politische Einigung Europas muß möglichst schnell und hauptsächlich zwischen Paris und Bonn vorangetrieben werden, um einer Hinwendung der Bundesrepublik nach Osten zuvorzukommen. Dies ist die Absage an die kommunistischen Sirenen der Wiedervereinigung. Wie Odys-seus soll die Bundesrepublik an den .westeuropäischen Mast gefesselt werden, während sich die treuen Gefährten Wachs in die Ohren stopfen.Gleichzeitig muß dem westdeutschen Verbündeten die Gewißheit verschafft werden, daß die französische Atomwaffe ein zuverlässigerer Garant ist als die amerikanische. Es entspricht dies dem alten französischen Traum, der — nach dem Ausdruck de Gäul-les — Deutschland „nach Westen rufen“ will, „wie es schon das Christentum und Karl der Große taten“.

• Die Union westeuropäischer Staaten entwickelt sich zur „mächtigsten, blühendsten, einflußreichsten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Einheit der Welt“. Das „europäische Gleichgewicht“ ist hergestellt. Das geteilte Deutschland ist für Europa keine Drohung mehr.

Damit wären die Bedingungen erfüllt, da die europäischen Probleme „unter Europäern“ geregelt werden könnten, das heißt: de Gaulle sähe sich in der Lage, die bisher als a priori gefährlich bezeichneten Verhandlungen mit der Sowjetunion selb6t einzuleiten. Westeuropa, geführt von Frankreich, gälte als „planetarische Macht“.

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