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Kiesinger tastet und testet

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Mit der Reise nach Paris setzt die außenpolitische Aktivität der neuen Bundesregierung ein. Die deutsche Öffentlichkeit blickt jedoch zurzeit mit weit größerer Spannung darauf, ob beziehungsweise wie es der Bundesregierung gelingen wird, die Wirtschafts- und Finanzlage in Ordnung zu bringen. Ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, jedermann hat das dumpfe Gefühl, daß die Entwicklung noch nicht am Ende angelangt sei, denn jedermann beginnt nachgerade ganz persönlich die Auswirkungen der Rezession zu spüren. Die Bundesregierung sieht auch genau, daß diese Probleme vor allen anderen den Vorrang haben und daß ihr eigener Erfolg oder Mißerfolg entscheidend davon abhängt, was sie auf diesem Gebiet erreicht.

Anderseits muß die Bundesregierung auch auf außenpolitischem Gebiet Ordnung schaffen. Daß die erste Reise des Bundeskanzlers zu de Gaulle führt, hat seinen guten und wohlerwogenen Grund. Man sagt sich in Bonn, daß erst einmal das deutsch-französische Verhältnis auf ein besseres Geleise gebracht werden muß, bevor nach anderen Seiten — Europa, USA und Osten — ausgeschritten werden kann.

Günstiger Augenblick?

Die Haltung der Bundesregierung wird also dadurch in keiner Weise vorweggenommen. Eher läßt sich die Baris-Reise Kiesingers, auf der ihn natürlich Außenminister Brandt begleitet, als Erkundung beschreiben. Die neuen Männer in Bonn wollen erst einmal abtasten, wie sich ihr Amtsantritt im außenpolitischen Gelände ausgewirkt hat und wie weit sich ihnen Möglichkeiten öffnen, die der deutschen Politik in den letzten Jahren verschlossen waren. Erst dann wollen sie ihre Marschroute im einzelnen festlegen.

Dabei wird sichtbar, daß Kiesinger offensichtlich die Zügel fest in der Hand behalten will — unter Berufung auf die Bestimmung des Grundgesetzes, wonach der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt.

De Gaulle hat gegenüber der neuen Bundesregierung große Aufgeschlossenheit an den Tag gelegt. Keine Frage, daß auch er darauf

Westmächten und der Bundesregierung über die deutsche Frage kennt, der weiß, was dies besagen will: Der Entspannungsbeitrag Bonns soll in der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und der „DDR“ sowie in einem erklärten Verzicht auf Nuklearwaffen bestehen. Auch de Gaulle sucht, sicherem Vernehmen nach, einen Weg, um die Beziehungen zwischen West- und Mitteldeutschland aufzulockern, und erblickt in einer deutschen Konföderation keineswegs eine Lösung, die von vornherein undenkbar wäre.

Das alles sind natürlich Planungen, die einem direkt gezielten Anschlag auf die Grundpositionen der deutschen Politik mehr oder minder gleichkommen.

Was Europa anlangt, so hat die deutsche Bundesregierung den Plan eines Gipfeltreffens in Rom ebenso begrüßt wie de Gaulle, der auch bereits grundsätzlich seine Teilnahme zugesagt hat. Auch hat es den Anschein, daß die Bundesregierung bereit sei, die Verhandlungen über eine Politische Union, nach der in Paris wieder gerufen wird, dort wieder aufzunehmen, wo sie vor Jahren stecken geblieben sind.

Aber noch beharrt de Gaulle darauf, daß die Politische Union erst errichtet werden sollte, nachdem sich die Sechs über eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik geeinigt haben. Das wirft jedoch die Frage nach dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf. Die neue Bundesregierung ist indes ebensowenig bereit wie ihre Vorgängerin und die anderen EWG-Staaten, de Gaulle bis zu den letzten Konsequenzen seiner Amerika-Politik zu folgen, obwohl sie die Notwendigkeit enger politischer Zusammenarbeit Europas kräftig bejahen.

Frankreichs EWG-Partner sind deshalb dafür, zunächst einmal mit der Politischen Union anzufangen, um sodann eine gemeinsame Außen-und Verfeidigungspolitik zu erarbeiten. Holland und Belgien wollen überdies die Engländer schon zu den Vorgesprächen über die Schaffung der Union heranziehen, eine Absicht, die von de Gaulle schlankweg zurückgewiesen wird.

Unter diesen Umständen ist die Zusammenarbeit in der Ostpolitik zur Zeit wohl das attraktivste Element in den deutsch-französischen Beziehungen. Hier gehen die beiderseitigen Interessen ineinander über. Konzentriertes Vorgehen auf diesem Gebiet könnte zumindest für eine geraume Zeit verdecken, daß die Politik von Bonn und Paris in anderen wichtigen Purakten trotz der neuen Bundesregierung noch nicht in vollen Einklang gebracht ist.

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