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Europa auf der Couch

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Während Millionen von Franzosen wieder in ihre Büros, Werkstätten oder Verkaufsläden zurückkehren, ziehen die Politiker, Diplomaten und Kommentatoren die erste Bilanz dieses Sommers. Was selten stattgefunden hat, ist im Monat August zu vermelden gewesen: heftige Debatten und Diskussionen um Probleme der Verteidigung und der Außenpolitik zierten die Schlagzeilen in den Gazetten.

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Während Millionen von Franzosen wieder in ihre Büros, Werkstätten oder Verkaufsläden zurückkehren, ziehen die Politiker, Diplomaten und Kommentatoren die erste Bilanz dieses Sommers. Was selten stattgefunden hat, ist im Monat August zu vermelden gewesen: heftige Debatten und Diskussionen um Probleme der Verteidigung und der Außenpolitik zierten die Schlagzeilen in den Gazetten.

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Es war bisher Ui.is, derartige Auseinandersetzungen in den Spätherbst zu verlegen. Als im Oktober 1972 neun Staats- und Regierungschefs der erweiterten EWG in Paris eine Gipfelkonferenz abhielten, und Übereinstimmung erzielten, atmeten die Europäer befriedigt auf. Die Integration Großbritanniens, Irlands und Dänemarks schien gelungen und die deutsch-französische Front hatte sich neuerlich bewährt.

In diesem Jahr sollte jener Vertrag feierlich gewürdigt werden, der als Grundlage der westeuropäischen Einigung gilt — also das Bündnis, welches General de Gaulle mit Konrad Audenauer vor zehn Jahren besiegelt hatte.

Nun ist gerade dieses Verhältnis zwischen der V. Republik und dem westlichen Deutschland einer schweren Prüfung unterzogen worden — man muß sich fragen, wie das außenpolitische Jahresende sein wird. Einflußreiche französische Zeitungen wie „Le Monde“ raten der Dame Europa sogar, die Couch eines Psychoanalytikers zu konsultieren...

Verfolgt er die Enuntiationen der französischen und deutschen Staatsmänner, so muß der Beobachter abendländischer Integrationspolitik den Kopf schütteln. Zu Beginn der Ferienzeit pilgerte der Präsident der französischen Kammer, Edgar Faure, in das Mekka Moskau und verkündete nachher ungeniert, eine Neutralisierung Westdeutschlands würde ihn nicht erschrecken. Mitte August erklärte der Landwirtschaftsminister Jacques Chirac, er sehe eine immer weitere Distanz Bonns gegenüber Europa. Nachdem dieses Mitglied des Kabinetts Messmer das besondere Vertrauen des Staatspräsidenten Pompidou genießt und bisher vom Elysee-Palast nicht desavouiert wurde, darf mit Fug und Recht angenommen werden, daß er die Meinung seines Herrn und Meisters aussprach.

Aus verschiedenen gezielten Indiskretionen, die seit Wochen systematisch in Paris kolportiert wurden, geht hervor, daß Georges Pompidou mit gesteigerter Unruhe die Früchte der Ostpolitik Willy Brandts beurteilt. Handelt es sich nur um die Laune eines Staatsmannes, der selbst die erste Mittlerrolle zwischen Ost und West spielen möchte? Ist es der „deutsche Komplex“ in der französischen Politik, wie es einer der hervorragenden Pariser Experten, Alfred Grosser, stipuliert?

Nach wie vor hängt von den Beziehungen zwischen Paris und Bonn die Zukunft jeder europäischen Einigung ab, mag auch das Gewicht Londons innerhalb der EWG im Wachsen begriffen sein. In den zahlreichen Meinungsäußerungen und Interviews, zuletzt des Bundesministers Walter Scheel in „Le Monde“, ist sicherlich ein roter Faden zu erkennen.

Dabei wurde die deutsche Ostpolitik bereits von General de Gaulle der damaligen Bonner Regierung mit Nachdruck empfohlen. Allerdings stellte sich Paris damals vor, der Quai d'Orsay werde federführend diese Annäherung zwischen der Bundesrepublik, den sozialistischen Staaten und der Sowjetunion kontrollieren. Nun hat diese vielumstrittene Ostpolitik eine eigene Dynamik entwickelt, die nach französischer Meinung Perspektiven eröffnet, die mit einem gesamtdeutschen Konzept nicht mehr zu vereinen sind.

Was seit langem unter der Oberfläche als französische Befürchtung gloste, ist in diesem August sehr vehement an den Tag getreten. Paris hat Angst vor einem neuen Tauroggen oder einem besseren Rapallo. Es ist überraschend, daß diese historischen Beispiele an der Seine mit solcher Virulenz wieder aktuell werden.

Gemäß dieser Auffassung würde die Bundesrepublik — Landwirtschaftsminister Chirac hat nur laut ausgesprochen, was alle anderen dachten — eine immer prinzipiellere Distanz zum Gemeinsamen Markt nehmen. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit könne gemäß dieser französischen Auffassung nur in einer Allianz zwischen Bonn und Moskau erzielt werden. Es ist klar, daß eine Verschmelzung der Bundesrepublik mit der DDR, patroni-siert vom Kreml, dem westlichen Europa den Todesstoß versetzen würde.

Eigenartigerweise wird jedoch an der Seine nichts unternommen, um diese Illusion zu bannen und eine solche Entwicklung zu bremsen. Die Gefahr wird zwar analysiert, aber die Premissen einer derartigen Evolution werden einfach hingenommen. Die V. Republik klagt zwar sehr oft ihre EWG-Partner an, sie praktizierten ihren europäischen Glauben zu wenig: aber jedesmal, wenn der Versuch unternommen wird, die Relationen, wie die EWG sie herausgebildet hat, im Geiste der Pariser Gipfelkonferenz zu revidieren und eine politische Union anzupeilen, zeigt Paris deutliche Reserven und bekundet ein nicht zu übersehendes Mißtrauen.

Die Verstärkung der supranationalen Einrichtungen, der Wille, Souveränitätsrechte abzubauen, stößt nach wie vor bei den Erben de Gaulles auf erheblichen, ja unüberwindlichen Widerstand. Die gegenwärtige Krise in der EG — und sie sollte nicht verniedlicht werden — kann nur eine Lösung finden: wenn Frankreich neue Initiativen im Hinblick auf eine politische europäische Union unternimmt und die Bundesrepublik ihre Treue zur westlichen Einigung bekundet.

Bonn hat diesbezüglich Ende August den Ball aufgenommen und ihn wieder in Richtung Paris geschossen. Wie man erfuhr, wird Staatspräsident Pompidou Ende September neue Vorschläge für die europäische Einigung unterbreiten. Wird es diesmal wieder nur bei einer Bestandsaufnahme, bei der Aufzählung von Befürchtungen bleiben, oder ist Paris tatsächlich entschlossen, an Stelle frommer Wünsche Zeitpläne m-it praktischen Hinweisen dem EG-Partner vorzulegen?

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