6742887-1966_49_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Stunde der Wahrheit

Werbung
Werbung
Werbung

Jedem Volk schlägt mitunter eine Stunde der Wahrheit. Dann zerplatzen langgehegte Illusionen wie schillernde Seifenblasen, von unrealistischen Voraussetzungen abgeleitete Pläne lösen sich auf wie Schnee in der Sonne, die Reden und Leitartikel vieler Jahre werden zu Makulatur.

Die große Unruhe, die in den letzten Monaten das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland befallen hat und die in der schweren Regierungskrise nur ihre Widerspiegelung fand, ist miahts anderes als der Ausdruck dessen, daß die große Stunde der Wahrheit für die verantwortlichen Männer in Bonn wie für das ganze deutsche Volk immer näher rückt. Genaugenommen ist sie schon da: Es gilt, nach mehr als 20 Jahren — das ist die große psychologische Schwierigkeit —, die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs geistig zu ratifizieren.

Doch bleiben wir innerhalb der rotweißroten Grenzen. Vor einer Woche hat die Visite des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets in Österreich ihren Abschluß gefunden. Nikolai Podgorny ist in seine Heimat zurückgekehrt. Wir haben uns absichtlich Zeit gelassen, um aus der größeren Distanz und der aus ihr erwachsenden Gelassenheit die Frage zu stellen, welche Rückwirkungen aus dem Pod- gorny-Besuch für die österreichische Politik, für eine gute österreichische Politik, abzuleiten sind. War nicht aus all den Reden, Interviews und Kommuniques dieses Staatsbesuchs das Schlagen einer „kleinen Stunde der Wahrheit“ zu vernehmen, die den Verantwortlichen für die österreichische Politik und uns allen — vorausgesetzt, daß wir noch Ohren haben, um zu hören, „was es geschlagen hat“ — eine große bittere Stunde der Wahrheit mit all ihren politischen, geistigen und wirtschaftlichen Erschütterungen ersparen kann?

Die Situation ist bekannt: Die österreichische Wirtschaft beobachtet seit Jahren mit Unruhe das Wachsen der Zollmauern, die unsere Exporte in den EWG-Raum diskriminieren. Deswegen wird jede verantwortungsvolle österreichische Politik eine Möglichkeit suchen, zu verhindern, daß wir gegenüber einem Raum, in den wir einen beachtlichen Teil unserer Wirtschafts- und Agrarprodukte exportieren, abgemauert werden. Aus diesem Grund wurde seinerzeit von der österreichischen Bundesregierung der Beschluß gefaßt, mit dem Gemeinsamen Markt Verhandlungen aufzunehmen. Man strebte — die Worte und wohl ein wenig auch der Inhalt wechselten öfter — eine Assoziierung, ein Arrangement, einen Vertrag besonderer Art mit Brüssel an.

Im fernen Moskau hat man von allem Anfang diese Gespräche der österreichischen Bundesregierung mit Brüssel mit gemischten Gefühlen begleitet. Man gab sehr bald in Form von eindeutig offiziös inspirierten Artikeln, aber auch in diplomatischen Gesprächen zu verstehen, daß man einen Beitritt Österreichs zur EWG — auf Differenzierungen ließ man sich nicht ein — als mit der Neutralität und mit dem österreichischen Staatsvertrag nicht in Einklang zu bringen ansehe. Diese Schüsse vor den Bug des EWG- Schiffleins der österreichischen Bundesregierung markierten durch ihre Beharrlichkeit zwar eindeutig den sowjetischen Kurs, sie erschwerten jedoch die notwendig gewesene freimütige Diskussion kn eigenen Lande. Niemand läßt sich gerne nachsagen, er leiste den Sowjets Schützenhilfe. Und mit solchen und anderen pauschalen Verdächtigungen war man im Kreis jener sich in den letzten Jahren in Österreich immer stärker etablierenden EWG-Lobby nicht zimperlich. Diese — nennen wir sie „Maximalisten“ — gaben sehr bald zu verstehen, daß sie die Bindungen Österreichs an den Gemeinsamen Markt möglichst eng gestaltet sehen möchten. Den neutralen Status unseres Landes wollten zwar auch sie gewahrt wissen, doch hatten sie nichts dagegen, die Kurve möglichst knapp und riskant genommen zu sehen. Die Neutralität war und ist in diesen Bezirken eben keine Herzensangelegenheit, sondern eher ein aufgezwungenes Statut.

Diskutierte man mit einem solchen „Maximalisten“ — bleiben wir bei diesem Wort —, so wurde einem zunächst die EWG als das gelobte Land vor Augen gestellt, in das hinein Österreich, koste es, was es koste, geführt werden muß. Einwände, daß eine enge EWG-Bindung unseres Landes schon auf dem wirtschaftlichen Sektor neben unleugbaren Vorteilen auch nicht zu übersehende Negativa einbringen könnten, wurden mit Argumenten, wie „Gesundschrumpfen“ usw., vom Tisch gewischt. Und die Warnungen aus Moskau? Hier zeigten sich unsere Maximalisten unbesorgt. „Was kön- neh die Russen schon tun? Protestieren werden s’ halt.“ Bohrte man ein bißchen tiefer, kam das Gespräch darauf, daß es Österreich nicht gleichgültig sein könnte, seinen weiß Gott schwer errungenen neutralen Status von einer Signatarmacht des Staatsvertrages vielleicht in Frage gestellt zu sehen, so mußte man schon mit Erschrecken feststellen, daß der Gesprächspartner dies auch nicht als der Übel ärgstes ansehen würde... Gerade an diesem Punkt aber hört sich der Spaß auf und beginnt eine Leichtfertigkeit, die, würde sie herrschende Maxime, Volk und Staat leicht in Abenteuer führen könnte.

In der Bundesregierung — das sei ausdrücklich festgehalten — nahm man die Dinge schon ernster. Aber auch hier stand man — vor allem der Regierungschef — unter dem ständigen Druck jener „Maximalisten“, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Ziele verwirklicht sehen wollten. Hand in Hand ging dabei eine „Massage“ der öffentlichen Meinung, wie sie in der Geschichte der Zweiten Republik keine Parallelen kennt. Besonnene Stimmen waren unwill kommen. Deswegen wurden sie mit allen Mitteln des, wie Fritz Heer es nennen würde, „süßen“, aber auch „sauren Terrors“ niedergehalten. Am besten geht das hierzulande noch immer, wenn man im Stile des seligen McCarthy (oder Goebbels?) dem lästigen Mahner versucht, die Attribute „ostanfällig“, „linksgerichtet“ und andere mehr anzuhängen. Bezeichnend ist nur, daß die „Ostanfälligen“ beinahe ohne Ausnahme Männer sind, die in den düstersten Tagen der Besatzungszeit im Osten Österreichs im harten Ringen mit den Kommunisten und ihren Protektoren der Freiheit und Demokratie in diesem Land ihren festen Platz erkämpften, während ihre „öffentlichen Ankläger“ oft in stillen Hinterzimmem dem verflossenen Dritten Reich nachtrauerten oder jenseits der Enns der Tapferkeit besseren Teil erwählt hatten. Bei Generaldirektor Dr. Kam Je? und be. Generalsekretär Doktor Korinek tiat man sich besonders schwer. Den namhaften Alttheresianisten verschrie man deswegen ebenso wie den ehemaligen Bundesminister als „Protektio- nisten“, die der alleinseligmachenden freien Wirtschaft ihren Tribut verweigern wollen. Einer sachlichen Aussprache aber wurde der Boden restlos durch das inzwischen viel zitierte Wort des unglückseligen Dr. Pittermann von der EWG als „kapitalistischem Bürgerblock“ entzogen. Nun war das ganze Thema auch noch innerpolitisch auf geladen: Emotionen regierten, wo nüchterne Kenntnis der Weltpolitik mit ihren Imponderabilitäten sowie gesunder politischer Hausverstand das Feld hätte behaupten müssen.

Und dann kam Nikolaj Podgorny.

Es wäre übertrieben, zu behaupten, daß die Welt nach der Podgomy- Visite anders aussieht. Aber den Blick auf diese aus den Fenstern des Ballhausplatzes sollte sie ohne Zweifel geschärft haben.

Wer sich in bezug auf die negative Haltung der Sowjets zu den EWG- Plänen Österreichs der Illusion auf eine Wiederholung des „Staatsvertragswunders“ hingegeben hatte, dürfte aus allen Wolken gefallen sein. Wer aber sich zu keiner Zeit und durch keine Parole den Blick für die Realitäten vernebeln hat lassen, sondern das Wort Doktor Klaus’ am Vorabend des Staatsbesuches, „Neutralität vor allem“, allezeit für den untrügerischen Kompaß einer österreichischen Politik hält, braucht sich auch in Zukunft nicht bangemachen lassen.

Halten wir die wichtigsten Ergebnisse des Podgorny-Besuches zunächst fest:

• Die negative Haltung der Sowjetunion zu einer österreichischen EWG-Assoziierung ist unverändert. Zum Unterschied von früher wurde dieser Standpunkt aber nicht in vertraulichen diplomatischen Gesprächen eingenommen oder durch Leitartikler verdolmetscht, sondern von dem protokollarisch Ersten Mann der Sowjetunion gleichsam vor der Weltöffentlichkeit dargelegt. (Im übrigen hätte das doch sehr ungewöhnliche Fernsehinterview Podgor- nys vermieden werden können, hätten nicht die von uns oben als „Maximalisten“ apostrophierten Kreise Podgornys Hinweis in der Arbeitssitzung, Österreich möge seine wirtschaftlichen Interessen durch einen Handelsvertrag mit der EWG sichern, als grünes Licht für ihre Bestrebungen aufgefaßt und einer Euphorie gehuldigt, die durch nichts begründet war.)

• Seit dem Tod von Julius Raab war es bisher seinen Nachfolgern im Kanzleramt nicht möglich, bei den Sowjets solch ein Vertrauenskonto ainzulegen, wie es der „kleine Kapitalist“ aus St. Pölten besessen hatte. Um so erfreulicher ist es, daß es Dr. Klaus diesmal in stundenlangen persönlichen Gesprächen gelungen ist, eine erste Vertrauensbasis zu schaffen, die ausbaufähig erscheint.

Wie geht es aber weiter? Wie können die wirtschaftlichen Interessen Österreichs und die europäischen Interessen der Staatsvertragssignatarmacht UdSSR unter einen Hut gebracht werden? Kann wirklich mit Brüssel etwa nach der Devise „Sag’n ma, ’s war nichts“ auf der bisherigen Basis weiterverhandelt werden, wobei man Podgorny und die anderen Kremlführer im fernen Moskau ruhig gute oder, in diesem Fall besser gesagt, böse Männer sein läßt? Wer solches rät, riskiert nicht nur tatsächlich eine radikale Änderung in den Beziehungen zwischen der UdSSR und Österreich — nach dem Nikolaus kann eines Tages auch der Krampus kommen —, er riskiert auch, daß die Zweite Republik in der EWG-Frage denselben Refus erleidet, wie ihn die Erste Republik mit den Zollunionsplämen erlitten hat.

Man knüpfe auch nicht zu hohe Hoffnungen auf die anderen Signatarmächte des Staatsvertrages. „No troubles in Europe“: Das ist die Meinung, die man unverblümt in Washington hören kann. Und in Paris wird man zwar viel ausführlicher und in formvollendetem Französisch ungefähr das gleiche sagen.

Darum empfiehlt es sich schon, das Ende des von Podgorny mit „Handelsvertrag“ bezeichneten Fadens festzu- halten, auch wenn er fürs erste nicht allzu attraktiv erscheint. Wenn man ihn geschickt aufspult, kann er noch der Goldfaden eines soliden erweiterten Wirtschaftsvertrages werden. Auf das Geschick kommt es an.

Mit der Quadratur des Kreises verglich Friedrich Wlatnig das Problem der Integration. Nach dem Podgorny-Besuch ist daraus ein gleichschenkeliges Dreieck geworden. EWG, Österreich und Rußland heißen seine Seiten. Unser Land ist wieder einmal für alle als Scharnierstelle zwischen West und Ost in Erinnerung gerufen worden. Seine Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität sind Faktoren des europäischen Sicherheitssystems, auch wenn es so manche noch nicht zur Kenntnis genommen haben. Jetzt ist die Stunde der österreichischen Diplomatie. An den späten Enkeln Metternichs wird es liegen, jene Formel für einen Vertrag mit der EWG zu finden, der die Interessen Österreichs mit jenen Brüssels, aber auch der UdSSR, „harmonisiert“. Freunde sind hierbei als Helfer jederzeit willkommen. In letzter Zeit war von Frankreich öfters die Rede. Vielleicht werden die guten Dienste Frankreichs dabei zielführender in Brüssel als in Moskau zu bemühen sein.

Mit anderen Worten: Es gilt, jene „Politik der Notwendigkeiten“, von der erst unlängst Bundesminister Toncic schrieb, stärker als bisher zur Richtschnur einer verantwortungsvollen Außen- und Integrationspolitik zu machen. Im Lande selbst aber heißt es, wie es Hermann Polz in den zum Präsidenten des Nationalrats Dr. Maleta in einem besonderen Nahverhältnis stehenden „Oberösterreichischen Nachrichten“ schrieb, „die propagandistisch vorgetriebene EWG-Hysterie wieder abzubauen, ehe sie größeren Schaden im wirtschaftlichen Selbstbewußtsein des Österreichers anrichtet. Der Bevölkerung muß endlich der wirklichkeitsgetreue Maßstäb für dieses Problem gegeben werden.“

Glückliches Österreich, dem das Schicksal durch das Erkennen einer kleinen Stunde der Wahrheit eine große bittere Stunde ersparen hilft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung