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Österreichs Neutralität und die EWG

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Die EFTA-Verträge sind unterzeichnet. Österreich ist Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation geworden. Die lange Debatte scheint damit beendet. Fragen wir uns während dieses augenblicklichen Schweigens und ehe noch neue Schritte, die unausweichlich kommen werden, unternommen worden sind, warum Österreich nicht der EWG beigetreten ist, obwohl ein solcher Beitritt von weiten Kreisen der Industrie (und mit guten Gründen) als wirtschaftlich notwendig bezeichnet und mit entsprechendem Nachdruck gefordert wurde.

Die Antwort auf diese Frage hat Österreichs Außenminister gegeben: die immerwährende Neutralität Österreichs verbiete den Beitritt zur EWG. Gewiß, mit diesem einen Wort „Neutralität“ hat man die Diskussion um die wirtschaftlichen Gegebenheiten einfach abgeschnitten. Zu Recht oder zu Unrecht? Das ist die Frage, die im folgenden kurz behandelt werden soll. Ist nämlich die immerwährende Neutralität der Republik Österreich, wie sie vor gut vier Jahren feierlich proklamiert wurde, mit einer Mitgliedschaft bei der EWG unvereinbar, so erübrigt sich eine weitere Debatte über das wirtschaftliche Für und Wider, es sei denn, wir entschlössen uns, den Status der immerwährenden Neutralität aufzugeben, wobei sich daran' wieder die Frage knüpft, ob Österreich so einfach durch einseitigen Entschluß seinen Neutralitätsstatus aufheben könnte.

Welches Verhalten obliegt einem immerwährend neutralen Staat? In Kriegszeiten werden die Handlungen eines dauernd Neutralen, ebenso wie die jedes andern am Konflikt Unbeteiligten, durch die völkerrechtlichen Bestimmungen über die Neutralität, Normen positiven Rechts (V. und XIII. Haager Abkommen von 1907), geregelt, in Friedenszeiten durch dieselben Normen vorbestimmt. Ein immerwährend neutraler Staat darf keinen militärischen Bündnissen beitreten und nichts unternehmen, was ihn direkt oder indirekt in einen Krieg verwickeln könnte. Er muß aber darüber hinausfalle unterlassen, was ihn im Kriegsfall .<und damit im NeutralitäMÜall) an der strengen Beobachtung des Neutralitätsrechts hindern würde. Daher darf sich ein immerwährend neutraler Staat auch in Friedenszeiten weder rechtlich noch faktisch irgendwelcher Rechte begeben oder irgendwelche Verpflichtungen auf sich nehmen, wenn dadurch später eine integrale Neutralität in Frage gestellt wird. In diesem Sinn sind die Worte der Regierungserklärung zum Neutralitätsgesetz (1955) zu ergänzen. Es genügt nicht, zu sagen: „Der dauernd neutrale Staat ist in der Gestaltung seiner Außen- und Innenpolitik keinen weiteren als den oben angeführten Beschränkungen (Anm.: das sind Bündnisfreiheit, Stützpunkt-losigkeit, Beachtung des Neutralitätsrechts bei allen Kriegen) unterworfen. Die dauernde Neutralität ist mit der Zugehörigkeit zu internationalen Organisationen durchaus vereinbar, sofern diese nicht einen militärischen Charakter haben.“ Eine solche Interpretation der dauernden Neutralität erweist sich als zu eng. Sie steht in Widerspruch zum allgemeinen Völkerrecht, besitzt aber anderseits auch nicht die derogierende Kraft, einen eigenen Typus der (österreichischen) ewigen Neutralität zu schaffen.

Ein immerwährend neutraler Staat würde nämlich im Ernstfall zweifellos seine Neutralität verletzt haben, wenn er im Frieden Bindungen übernimmt, die ihm die genaue Einhaltung der völkerrechtlichen Normen über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Krieg unmöglich machen, genauso, wie er seine Neutralität durch mangelnde Bewaffnung selbst verletzen müßte. Denn die immerwährende Neutralität ist eine bewaffnete, und der immerwährend Neutrale muß seine Neutralität mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen. Er darf sie nicht bereits im Frieden kompromittieren!

Der Status der ewigen Neutralität legt also, wie wir sehen, zu allen Zeiten eine sogenannte Neutralitätspolitik auf, eine Politik, wie sie etwa die Schweiz seit 150 Jahren unangefochten durchführt. Die Entscheidungen, die im Rahmen dieser Neutralitätspolitik getroffen werden, welchen Lebensbereich sie auch immer regeln mögen, sind primär politische Entscheidungen, die aber durch das Neutralitäts-recht, durch die Rechtslage im Ernst-Kriegs-) Fall vorbestimmt sind. Es ist daher durchaus am Platz, im Rahmen der EWG-Diskussion neutralitäts rechtliche Erwägungen anzustellen und völkerrechtliche Argumente vorzubringen.

Das Neutralitäts recht muß der Maßstab jeder Neutralitäts p o 1 i t i k sein. Wie die Außenpolitik eines Staates innerhalb der Grenzen des Völkerrechts bleiben muß, so wird sich die Neutralitätspolitik eines immerwährend neutralen Staates in den Schranken des Neutralitätsrechts zu bewegen haben.

Niemand wird behaupten, die EWG sei eine militärische Organisation. Wäre also ein Beitritt Österreichs erlaubt? Bedenken wurden insofern erhoben, als sämtliche EWG-Staaten Partner des Nordatlantikpaktes sind. Demgegenüber wurde angeführt, daß Großbritannien, Hauptmitglied der NATO, auch Mitglied der EFTA sei; es bestünde hierin kein prinzipieller Unterschied zwischen EFTA und EWG, denn 4s sei nicht einzusehen, wieso eine ' Verflechtunfg der österreichischen Wirtschaft mit der englischen weniger gefahrvoll sein sollte als eine Verflechtung mit der Wirtschaft der EWG-Länder. Der Einwand ist berechtigt, solange von „Verflechtung“ gesprochen werden kann. Allein darauf kommt es an. Ein neutraler Staat, der einem Wirtschaftszusammenschluß beitreten soll, wird weniger auf die möglichen, zusätzlichen außenpolitischen Bindungen seiner künftigen Partner zu achten haben, als vielmehr auf die Art seiner eigenen künftigen Verpflich tungen im Rahmen der Gemeinschaft und auf die Ziele der Organisation. Diese müssen so beschaffen sein, daß sie die integrale Neutralität im Kriegsfall nicht einschränken.

Sind nun die Ziele der EWG und die Bindungen der Mitgliedstaaten untereinander derart, daß ein Beitritt des immerwährend neutralen Österreichs nicht in Frage kommt? Die Antwort wird bejahend ausfallen müssen.

Der Gründungsvertrag der EWG setzt gemeinsame Organe ein, deren Berufung zwar vom Willen der Mitgliedstaaten abhängt, die aber, einmal konstituiert, ihr Eigenleben führen und durch die Satzung damit betraut sind, rechtsverbindliche Anordnungen zu erlassen, die von den Einzelstaaten durchgeführt werden müssen (Art. 189). Als Ziele der Gemeinschaft, die bis spätestens zum Ende der zwölfjährigen Übergangszeit verwirklicht sein müssen, werden die vollkommene Freizügigkeit des Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehres, die Koordinierung der gesamten Verkehrs-, Konjunktur-, Wirtschafts-, Währungs- und Außenhandelspolitik, schließlich die Angleichung der Sozialpolitik der einzelnen Mitgliedsländer genannt. In allen diesen Bereichen vermögen Rat oder Kommission der EWG, in vielen Fällen stimmenmehrheitlich, bindende Beschlüsse zu fassen. Auf diese Weise ist die freie Entscheidung den Mitgliedstaaten zum guten Teil entzogen.

Sicher ist, daß ;m Konfliktfall durch diese rechtliche Abhängigkeit, die mit einer faktischen insofern Hand in Hand gehen muß, als die einzelnen Nationalwirtschaften dem größeren Ganzen eingegliedert werden, für einen immerwährend Neutralen schwere Gefahren entstehen, auf die bereits Professor Verdroß klar hingewiesen hat („Furche“ vom 28. November 1959). Der Neutrale steht in einem solchen Fall vor der Wahl, entweder seine Neutralitätspflichten zu verletzen oder einen völkerrechtlichen Vertragsbruch auf sich zu nehmen und dadurch gleichzeitig seine Existenz zu gefährden. Die Schutzklausel des Art. 223, welche die Angelegenheiten der nationalen Sicherheit den Einzelstaaten überläßt, vermag an dieser'Tatsache < nichts zu ändern.

Die EWG will eine innige Verflechtung der Einzelwirtschaften herbeiführen. Doch beschränkt sie sich nicht auf einen engen ökonomischen Bereich allein. Nach den Worten des Präsidenten Professor Hallstein „ist die EWG in ihrer jetzigen Form bereits eine politische Gemeinschaft“ (Jänner 1960). In der Tat soll die EWG als Vorstufe zu einer allgemeinen europäischen Integration führen, die die Mitglieder auch politisch umfaßt. Ist dieses Ziel auch nicht im EWG-Vertrag enthalten, so ist es doch faktisch der Gemeinschaft inhärent. In diese Richtung weisen auch das zugleich mit dem EWG-Vertrag unterzeichnete Abkommen über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften und der daraus resultierende, langsam fortschreitende organisatorische Zusammenschluß mit der Montanunion (EGKS) und der Atomgemeinschaft (EURATOM).

Als immerwährend neutraler Staat könnte Österreicher nie soweit gehen, solange sich die augenblickliche Weltlage nicht grundlegend ändert und eine wirkliche, totale, alle Staaten Europas umfassende Einheit in unmittelbare Zukunft gerückt ist.

Im Gegensatz zur EWG vermeidet die Freihandelsassoziation alle angeführten Gefahrenquellen. Es gibt weder einen einheitlichen Außentarif noch übernationale Organe mit Verordnungsbefugnis. Die Wirtschaft der einzelnen Mitgliedstaaten bleibt, mit Ausnahme der Verpflichtung zur Zollsenkung und Kontingentaufhebung, frei.

In diesem Zusammenhang mag ein Blick auf die Neutralitätspolitik der Schweiz lehrreich sein, denn die Eidgenossenschaft hat beim Eintritt in internationale Organisationen naturgemäß besondere Vorsicht walten lassen. So wurden beispielsweise auf Schweizer Verlangen in der Satzung der OEEC verschiedene verfahrensrechtliche Normen mit dem Ziel geändert, der neutralen Schweiz in bestimmten Fällen eine Stellungnahme zu ersparen, obwohl die OEEC von vornherein die einzelstaatliche Souveränität nicht beschränkt und gegen ihre Satzung keine neutralitätspolitischen Einwände zu erheben waren. Einen Beitritt zur EWG hat die Eidgenossenschaft kategorisch abgelehnt, der EFTA ist sie jedoch wohlüberlegt beigetreten.

Man wird fragen, ob nicht ein Austritt aus der EWG im Ernstfall dem immerwährend neutralen Staat, also Österreich, genügend Sicherheit biete. Nun sieht der Vertrag von Rom die Möglichkeit eines Austrittes überhaupt nicht vor. Er enthält zwar kein Austrittsverbot, aber auch keine Kündigungsklausel, die ein Mitglied zur einseitigen Aufkündigung des Vertrages berechtigen würde. Einer solchen Bestimmung bedarf es aber unbedingt, um in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Völkerrecht vom Vertrag zurücktreten zu können. Infolge des Fehlens einer ausdrücklichen Kündi-gungskjaus.ej ist ein Ausscheiden nur mit Zustimmung a 11 er Vertragspartner möglich. Jedes andere Verhalten, jeder einseitige Rücktritt, begründet als Völkerrechtsverletzung die völkerrechtliche Haftung des Vertragsbrechers.

Was aber, wenn man. eben durch Einfügung einer Sonderbestimmung gerade Österreich den jederzeitigen Austritt möglich machen wollte? Eine Meinung hält die rechtliche Möglichkeit des Austritts (im Ernstfall) für ausreichend, selbst dann, wenn — was nicht bestritten werden kann — der Austritt infolge der weitgehend gediehenen Verschmelzung der Volkswirtschaften nur nach langer Übergangszeit und schwerer Schädigung, später aber faktisch überhaupt nicht mehr erfolgen könnte. Ein derartiges faktisches Nichtbeitretenkönnen, so wird gesagt, hätte nicht im Neutralitäts recht seinen Grund, sondern in anderen Überlegungen, denn rechtlich gesehen wären solche Gefahren ohne Belang. Diese Auffassung übersieht, daß alle völkerrechtlichen Verhältnisse, selbstverständlich auch die Neutralität eines immerwährend neutralen Staates, der Regel von Treu und Glauben unterworfen sind. Wenn feststeht, daß das Verlassen einer Gemeinschaft, welche die integrale Neutralität nicht zu gewährleisten vermag, im Ernstfall faktisch unmöglich ist (und der Fall der Unzumutbarkeit infolge allzu großer wirtschaftlicher Schädigung ist hier ein-zubeziehen), so verstößt der dauernd Neutrale bereits durch den Eintritt in die Organisation gegen den Grundsatz der bona fides. Ja, der dauernd Neutrale würde dolos handeln, wenn, wie im gegenständlichen Fall, die faktische Unmöglichkeit von vornherein offensichtlich ist. Doch würde auch schon eine fahrlässige Verhaltensweise, ein Beitritt „auf gut Glück“, die völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründen, da der immerwährend neutrale Staat (im Hinblick auf seine Neutralität im Konfliktfall) in seinen außenpolitischen Beziehungen besondere Vorsicht walten lassen muß. Von dieser Verantwortung könnte sich eine Regierung nicht freisprechen, solange neben der rechtlichen nicht auch die faktische Möglichkeit eines Austritts gesichert ist. Mit einer Klausel, die toter Buchstabe bleiben muß und nicht ausgeführt werden kann, ist nichts gewonnen. Die rechtliche Kündigungsmöglichkeit allein wird Österreich nicht von der Bedachtnahme auf seinen Neutralitätsstatus zu allen Zeiten befreien können. Insoferne muß, was nicht oft genug betont werden kann, das Neutralitäts recht die Richtschnur unserer Neutralitätspolitik sein.

Für uns Österreicher mag es interessant sein, zu wissen, daß die Schweizer Völkerrechtslehre und -praxis den Beitritt der Eidgenossenschaft zu Wirtsohaftsunionen nach wie vor für unzulässig hält, auch dann, wenn die Möglichkeit einer einseitigen Kündigung eingeräumt ist. Der Zusammenschluß mit anderen Staaten zu einer engen Wirtschaftsgemeinschaft wird nur in dem Fall für möglich erachtet, als alle Partnerstaaten dieselbe Form der Neutralität wahren.

Letzte Frage: Wenn eine Vollmitgliedschaft Österreichs mit seiner dauernden Neutralität unvereinbar ist, wie steht es mit einer eventuellen Assoziierung an die EWG, die Österreich die Vorteile des Gemeinsamen Marktes sichern kann? Unter Assoziierung hätten wir eine Verbindung Österreichs zur EWG zu verstehen, die unser Land von allen Souveränitätsbeschränkungen des EWG-Vertrags ausnimmt. So bestehen keine Bedenken gegen den Abschluß eines bilateralen Vertrags zwischen Österreich und der EWG, der auf der Basis det Gegenseitigkeit Zollaufhebung und Abschaffung der Kontingente bietet, insofern dieser Vertrag weder Österreich den Organen der EWG unterstellt, noch die österreichische Wirtschaft mit der der EWG zu verflechten sucht. Wird aber der EWG ein solches Verhältnis annehmbar erscheinen? Die Äußerungen Professor Hallsteins auf der Jännersitzung des Europäischen Parlaments (1959) lassen eine positive Antwort nicht recht erwarten: „Die übrigen elf Länder möchten behandelt werden, wie sich die sechs untereinander behandeln, ohne sich jedoch deren Organisation zu unterwerfen, deren Regeln sie angenommen haben. Die sechs haben jedoch daran erinnert, daß ihre Gemeinschaft offensteht und daß diejenigen, die in den Genuß der Gemeinschaft kommen wollen, ohne deren Verpflichtungen zu übernehmen, die eigentlichen Verfechter der Diskriminierung sind.“

Die vorstehenden Überlegungen sollten die völkerrechtliche Seite des Problems „Österreich—EWG“ näher beleuchten. Nach Meinung des Verfassers ist diese Frage rechtlich wie politisch durch den Neutralitätsstatus unseres Landes im oben angedeuteten Sinn bestimmt.

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