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Fremder Eingriff — Bruch der Souveränität

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Unter diesem Gesichtspunkt vertrete ich die Ansicht, daß ein fremder Eingriff in das Gebiet des immerwährend neutralen Staates, mag der Eingriff sich noch nicht zur Kriegshandlung verdichtet haben, schon das spezielle Neutralitätsrecht, nicht nur das allgemeine Völkerrecht („Souveränität“) brechen kann.

Die Eigenart eines immerwährend neutralen Sta'ates erweist sich in der Staatengewalt der Gegenwart darin, daß er ausgerechnet in einer Zeit der allgemeinen, allmählichen „Souveränitätsdämmerung“ seine Souveränität besonders „eifersüchtig“ hüten muß. Seine Souveränität gestattet ihm nicht die Autonomie, die der Souveränität einwohnt: etwas von sich abzugeben, gar auf sich selbst zu verzichten. Der immerwährend neutrale Staat ist zu seiner Souveränität „verurteilt“, mag die internationale Interdependenz noch so dawiderstreiten.

Die Ansicht wird gestützt durch das Verstehen und Auslegen jener

Rechtserscheinung, die Kelsen als Quasi-Neutralität bezeichnet: Das Gebiet eines Staates gilt in einer Weise völkerrechtlich als unantastbar, als ob er den Stand der immerwährenden Neutralität genösse. Schulbeispiele: Art. 88 des Staatsvertrages von Saint-Germain, vom 10. September 1919, StGBl. Nr. 303/ 1920, und der Staatsvertrag von Wien, vom 15. Mai 1955, BGBl. 152/ 1955, namentlich die Präambel wie die Artikel 1 bis 5 (im Zusammenhalt). Unter demselben Gesichtspunkt können Erschütterungen im Innern des immerwährend neutralen Staates, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreiten, den Bestand dieses völkerrechtlichen Instituts gefährden und völkerrechtliche Folgen aiuslösen. Die praktischen, politischen Tücken dieser Ansicht sehe ich, muß sie aber in Kauf nehmen, will ich den internationalen Frieden, etwa den gesamteuropäischen Frieden, gar den Weltfrieden, als Sinn der immerwährenden Neutralität öster reichs verstehen, zumal ich die Interdependenz der Tatbestände ins Auge fasse, die geeignet sind, ihn zu bedrohen.

Der „völkerrechtliche Quasikontrakt“

3. Erklärt ein Staat die immerwährende Neutralität mit der Ab-

sicht, völkerrechtliche Folgen zu erwirken, ist wohl der Anhub selbst ein einseitiger Akt, doch tritt die offenkundig erstrebte völkerrechtliche Wirkung nicht eher ein, als andere Bedingungen erfüllt worden sind. Ihrer rechtsphänomenologisch freigelegten Struktur nach ist die Erklärung der immerwährenden Neutralität zunächst ein Versprechen, das als solches vernehmungsbedürftig und unwiderrujlich ist (Adolf Reinach, Rechtsphänomenologie, München 1953, Seite 37 ff., 49 ff., 54 ff.).

Zu dem gesellt sich, daß die Ver- sprechensatdressaten die nämliche einseitige Wfllenskundgabe annehmen. Die Annahme kann sich entweder ausdrücklich oder stillschweigend ereignen, das heißt, ohne Zurückweisung der sogenannten Notifikation durch den Staat, an den die Notifikation ergeht. Diesen zwei- fältigen Tatbestand, der sowohl zum Kreis der eindeutig einseitigen Rechtsgeschäfte wie zum Kreis der eindeutig zwei- oder mehrseitigen Rechtsgeschäfte (Verträge) gehört, nennt man „völkerrechtlichen Quasikontrakt“. Völkerrechtlich erwächst die immerwährende Neutralität erst dann in Rechtskraft, wenn der Großteil der adressierten Staatenwelt die Notifikation angenommen hat. In demselben Augenblick allerdings stellen sich Folgen wie nach einem Vertrag ein, obwohl die Quelle kein eigentlicher Vertrag, sondern ein völkerrechtlicher Quasikontrakt ist. Mit anderen Worten: Ist die immerwährende Neutralität eines Staates ein Tatbestand des Völkerrechts geworden, ist sie auch schon einseitig unwiderruflich! Das Institut der immerwährenden Neutralität kann, völkerrechtlich gesehen, gemäß dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts nur einvernehmlich, vertraglich oder quasikontraktlich aufgelöst werden. Träte zum Beispiel Österreich im Falle eines Krieges einer Kriegspartei bei, hörte es nicht auf, neutral zu sein, vielmehr setzte es ein völkerrechtliches Delikt.

Österreich bestimmt selbst

Was Österreich anlangt, ist zu sagen: Weder das Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 noch der Staatsvertrag von Wien vom 15. Mai 1955, BGBl. Nr. 152/1955 noch das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955, BGBl. Nr. 211, über die Neutralität Österreichs sind die unmittelbaren, völkerrechtlichen Rechtsquellen der österreichischen Neutralität; unmittelbare völkerrechtliche Rechtsquelle ist ein zig der Tatbestand des •völkerrechtlichen Quasikontraktes, der durch die Annahme der Notifikation zustande gekommen ist, in der Österreich seine immerwährende Neutralität der Staatenwelt, mit der es im diplomatischen Verkehr steht, bekanntgegeben hat.

Da die Initiative dazu von öster-

reich durch das Neutralitätsgesetz ausgegangen ist, steht es in erster Linie Österreich selbst zu, zu interpretieren, wo die durch Neutralitätsrecht gezogenen Grenzen seiner Neutralitätspolitik verlaufen.

Zurücknahme nicht ohne Volksabstimmung

4. Neben völkerrechtlichen Sperrklauseln wirken innerstaatliche

Gründe für eine gewisse Beständigkeit der Neutralität. Obwohl di Neutralitätserklärung in Form eines einfachen Verfassungsgesetzes (eines „Bundesverfassungsgesetzes“, BVG) ergangen ist, also ohne Volksabstimmung, könnte nach meiner Ansicht die Erklärung nicht ohne Volksabstimmung gemäß Art. 44 Abs. 2 BVG zurückgenommen werden. Denn die immerwährende Neutralität ist, dem demokratischen, rechtsstaatlichen, republikanischen, föderalistischen und parlamentarischen Prinzip gleich, a posteriori ein Baugesetz der österreichischen Verfassungsordnung geworden, dessen Wegschaffung eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinne des Art. 44 Abs. 2 BVG bewirkte. Was die Argumentation anlangt, muß ich auf meine angekündigte Arbeit verweisen. Daß die Bundesverfassung die Entscheidung über Krieg und Frieden einem andersgearteten ranghöheren, auf der Stuf unmittelbar unter dem Volk stehenden Organ, der Bundesversammlung, und nicht dem ordentlichen Parlament übertragen wissen will, gibt Art. 38 BVG zu erkennen. Die immerwährende Neutralität impliziert als Grund- und Hauptpflicht, sich auf allezeit von allen Kriegen fernzuhalten, den Status des Friedens nicht zu verlassen.

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