6757073-1967_51_04.jpg
Digital In Arbeit

Neutralität und Universalität

Werbung
Werbung
Werbung

Man hat in den letzten Jahren das Wort „Neutralität und Solidarität“ geprägt, um damit die Pflichten des Neutralen gegenüber der Menschheit zu umreißen. Die Solidarität ist aber keine unmittelbar in der Neutralität begründete Pflicht. Sie ist ein Selbstverständnis, das sowohl für den einzelnen als auch für alle Völker und Staaten gilt. Der Neutrale kann freilich unter Umständen Aufgaben der Nächstenliebe besser erfüllen als andere, weil er frei von politischen Ambitionen ist und weil deshalb niemand ihn zu fürchten braucht. Und diese Aufgaben können ihm selbst unter Umständen helfen, die Isolierung zu überwinden, die ihn aus der Natur seines neutralen Zustandes ständig mehr oder weniger stark bedroht.

Ich habe am Anfang festgestellt, daß die Außenpolitik des Neutralen eine Politik der Selbstbeschränkung ist — sein muß. Dieser Imperativ liegt nicht nur in der Natur der Neutralität begründet, sondern auch in allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen. So darf, um nur an das Wichtigste zu erinnern, der Neutrale weder Militärbündnissen noch Allianzen beitreten, die den Großmächten direkt oder indirekt als politisches Instrument dienen oder in einem kritischen Moment dienen können. Selbst ein politisches Bündnis mit einem anderen Neutralen scheint nicht möglich zu sein.

Kann aber der Neutrale der globalen Friedensorganisation der Vereinigten Nationen beitreten? Die Frage wird in der Schweiz noch heute von der Mehrheit der Bevölkerung und der Experten verneint. Die Juristen sind der Meinung, daß das Prinzip der Universalität den Status der Neutralität ausschließt und daß die Satzung der UNO aus diesem Grunde auf die Interessen des Neutralen zu wenig Rücksicht nimmt.

Im Urteil der Bevölkerung fallen aber weniger rechtliche Argumente ins Gewicht. Für ihre Zurückhaltung gegenüber der UNO ist der Umstand

naßgebend, daß diese noch weit davon entfernt ist, universell zu sein, und daß ihr die Mächtigen bis jetzt die Autorität versagt haben, die sie benötigen würde, um den in der Charta verankerten Menschenrechten nach dem Prinzip der Egalität in allen Teilen der Welt Nachahmung zu verschaffen. Die Ohnmacht der UNO vor Macht und Gewalt hält das Mißtrauen des Schweizers wach. Und die Erfahrungen, die sein Land im Völkerbund machte tragen keineswegs dazu bei, es zv beseitigen. Gerade das Beispiel der im Abessinienkonflikt gegen Italien verhängten Sanktionen hat die Schweiz eindringlich gelehrt, weichen Gefahren die Neutralität durch kollektive Zwangsmaßnahmen ausgesetzt werden kann. Diese Lehre und die Ohnmacht des Völkerbünde? vor der Präpotenz der Achsenmächte hatten den Bundesrat noch rechtzeitig veranlaßt, von der „differenziel-len“ zur „integralen“ Neutralität zurückzukehren. Warum sollte die Schweiz in unserer Gegenwart, wo ständig ähnliche Verwicklungen mit ähnlichen Folgen drohen, sich nicht an das „Historia magistra vitae“ erinnern?

Der Verzicht auf ein politisches Engagement in den Vereinigten Nationen hat die Schweiz aber nicht daran gehindert, im Rahmen einer großen Anzahl weltweiter und regionaler Organisationen am allgemeinen Fortschritt der Menschheit mitzuarbeiten. Ja, die Erkenntnis, daß ihr in der außenpolitischen Betätigung durch die Neutralität ganz bestimmte Grenzen gesetzt sind, hat sie geradezu gezwungen, die Kontakte mit der Umwelt im wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Bereich zu verstärken und den fehlenden politischen Einfluß durch ein Maximum an Qualität der Leistung ziu ersetzen. So ist für die Schweiz und die Schweizer die Neutralität zu einer permanenten Herausforderung zur besseren Leistung und damit zu einer beständigen Quelle schöpferischer Arbeit in Freiheit geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung