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Neutralitätspolitik im Frieden

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Wenn ein Staat zu „immerwährender Neutralität“, das heißt zu Neutralität für alle, wann und wo immer geführten Kriege verpflichtet ist, wie die Schweiz und nach ihrem Muster Österreich, muß er bereits seine Politik in Friedenszeiten darauf einrichten. Der immerwährend neutrale Staat muß insbesondere schon im vorhinein völkerrechtliche Bindungen vermeiden, die ihn im Kriegsfall in Widerstreit mit seinen Neutralitätspflichten brächten. Das sind die zuerst in der Schweiz so genannten „Vorwirkungen“ der immerwährenden Neutralität. Sie bilden schlechthin den Inhalt der — vom Ermessen der neutralen Regierungen gestalteten — Neutralitätspolitik, zum Unterschied von den neutralitätsrechtlichen . Pflichten, insbesondere auf Grund des V. Haager Abkommens betreffend den Land- und des XIII. Haager Abkommens betreffend den Seekrieg vom Jahre 1907. Die Neutralitätspolitik ist vor allem Militärpolitik: Sie betrifft die Kriegsvorbereitungen. Der positiven Pflicht zu hinreichenden militärischen Vorkehrungen für den Ernstfall, wie sie die in Form eines Verfassungsgesetzes verlautbarte österreichische Neutralitätserklärung vom 26. Qktober 1955 verhieß, steht die negative der Freihaltung von militärischen Bündnissen und der Nichtdul-dun? fremder militärischer Stützpunkte gegenüber.

Auch die Ansicht, daß sich die Neutralitäts p o 1 i t i k immerwährend neutraler Staaten auf das militärische Gebiet beschränke, ist irrig und wird durch die Praxis der neutralen Staaten, zumal des neutralen Modellstaates, der Schweiz, widerlegt. Ebenso unbegründet aber ist auch das Bestreben kommunistischer Regierungen, die den immerwährend neutralen Staaten eine Art Friedensneutralität in Bereichen auferlegen wollen, die keine vernünftige Beziehung zu einem gegenwärtigen oder künftigen Krieg haben. Das trifft zum Beispiel für das Recht der freien Meinungsäußerung der Bürger der neutralen Staaten, für die Handhabung des Asyl- und des Fremdenpolizeirechts in diesen Staaten zu, gewiß auch für deren Mitgliedschaft in politischen oder wirtschaftlichen Staatenvereinigungen, soweit diese der Neutralität im Krieg keinen Abbruch tut. Anders als im Hinblick auf seine neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen entscheidet der immerwährend neutrale Staat in Fragen der Neutralitätspolitik souverän.

Der „Überstaat“ der EWG

Österreich ist einigen der bestehenden internationalen Organisationen beigetreten, die der Zusammenarbeit der europäischen Staaten dienen: dem Europarat, der einen allgemein politischen Charakter besitzt; der Europäischen Freihandelsvereinigung (EFTA), deren Mitglieder untereinander ein Freihandelsgebiet schaffen sollen; schließlich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), zu deren Hauptzwecken gleichfalls die Erleichterung des innereuropäischen Wirtschaftsverkehrs gehört. Gegen die Mitgliedschaft bei diesen internationalen europäischen Organisationen besteht weder vom Standpunkt des Neutralitätsrechtes noch auch kaum von dem der Neutralitätspolitik irgendein Einwand. Anders verhält es sich mit den sogenannten übernationalen Organisationen, von denen die wichtigste die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ist.

Ein immerwährend neutraler Staat wie Österreich würde durch einen solchen Überstaat der Verfügung über Maßnahmen zur Aufrechterhaltung seiner Neutralität beraubt. Ein Konflikt zwischen den Erfordernissen der Marktgemeinschaft, aus der im Kriegsfall eine Gemeinschaft der Kriegswirtschaft würde, einerseits, den Erfordernissen der Vorratswirtschaft des neutralen Staates und dessen wirtschaftlicher Neutralität im Sinne der Haager Abkommen anderseits, würde fast unvermeidlich. Nun machen die Art. 223 bis 225 des EWG-Vertrages Sonderregelungen der einzelnen Mitgliedsstaaten im Falle von Krieg oder Kriegsgefahr möglich. So können die

Mitgliedsstaaten zum Schutz ihrer Sicherheit Ausnahmemaßnahmen in bezug auf die Erzeugung und den Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial erlassen. Solche Maßnahmen der neutralen Mitglieder könnten alles, was im Sinne des V. Haager Abkommens „einem Heer oder einer Flotte nützlich sein kann“, betreffen. Allein in den berufenen Artikeln steht die Wirksamkeit derartiger Sonderregelungen im Zwielicht mit Maßnahmen der Gemeinschaft zum Schutze der „Wettbewerbsbedingungen im. gemeinsamen Manft4. .'

Ganz allgemein ergibt sich aber die Unvereinbarkeit der Verpflichtungen nach dem EWG-Vertrag mit neutralitätsrechtlichen Pflichten und einer auf den Ernstfall gerichteten Neutralitätspolitik aus der Unterordnung der Mitglieder unter die mit Stimmenmehrheit zustande kommenden Regelungen der EWG-Organe. Die immerwährende Neutralität dient, wie das auch in der österreichischen Neutralitätserklärung ausdrücklich gesagt ist, dem Zwecke der Unabhängigkeit und gebietlichen Unversehrtheit des neutralen Staates. Die österreichische Neutralitätserklärung beinhaltet im Wesen nur die Sicherung der österreichischen Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945: Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Schweiz. Staatliche Unabhängigkeit und „Supranationalität“ schließen einander aus.

Selbst Prof. S t r u y e, Präsident der politischen Kommission des Europarates, der die Mitgliedschaft der immerwährend neutralen Staaten bei der EWG in Friedenszeiten als zulässig erachtet, kommt aus Gründen der Haager Konvention zu dem Schluß, es könne sich das Ausscheiden der neutralen Mitglieder im Kriege als notwendig erweisen, damit diese nicht an diskriminatorischen wirtschaftlichen Maßnahmen der kriegführenden EWG-Staaten teilnehmen müssen. Aber wäre ein solcher Austritt bei Kriegsausbruch tatsächlich ' möglich, nachdem die Wirtschaft der Neutralen vielleicht durch Jahre, ja durch Jahrzehnte mit der der kriegführenden Mitglieder zu einem Ganzen verschmolzen wurde, gemäß dem ausdrücklich erklärten Ziel des römischen Vertrages?

Österreichs Vorbehalte

Österreich und die Schweiz handelten im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen, als sie, nachdem Großbritannien sich entschlossen hatte, Beitrittsverhandlungen mit der EWG zu beginnen, im Dezember 1961 ihrerseits bei deren Behörden in Brüssel Verhandlungen über eine Assoziation oder sonstige lockere Form der Zusammenarbeit beantragten. Das bloß faktisch seit fast 150 Jahren neutrale Schweden folgte bei seinem gleichen Antrag seiner überlieferten Politik. In wesentlicher Übereinstimmung mit den anderen zwei neutralen Regierungen haben die österreichischen Bundesminister Bock und K r e i s k y am 28. Juli 1962 vor dem EWG-Rat ein Bekenntnis zu den Zielen des Gemeinsamen Marktes, jedoch unter Vorbehalt der Pflichten aus unserer Neutralität (und einiger Beschränkungen des Staatsvertrages 195 5, hinsichtlich der Luftfahrt), abgelegt. Demzufolge verlangte Österreich

• eine gewisse handelspolitische Aktionsfreiheit,

• Jas Recht' der Suspendierung oder Kündigung der Mitgliedschaft im Falle eines drohenden oder ausbrechenden Krieges und

• das Recht auf entsprechende Vorratsmaßnahmen für Kriegszeiten. Am Rande des Zulässigen erklärten die österreichischen Vertreter, Mehrheitsentscheidungen der EWG-Organe bei Durchführung bestehender Pflichten nach dem EWG-Vertrag anzuerkennen. Bisher fehlt noch eine meritorische Antwort auf den Antrag Österreichs wie der anderen zwei Neutralen. Äußerungen führender Persönlichkeiten der EWG zur Frage der Assoziation waren wenig ermutigend.

Wirtschaftssorgen und Unabhängigkeit

Auch in der neuen Lage nach dem Scheitern der EWG-Verhandlungen mit Großbritannien kann Österreich von den wesentlichen Erfordernissen seiner Unabhängigkeit und Neutralität nicht abgehen, gleichgültig, ob es sich taktisch für einen „Alleingang“ nach Brüssel oder weiteres enges Zusammenarbeiten mit den anderen Neutralen entscheidet.

Gewiß sind Sorgen begründet, die man innerhalb der österreichischen Wirtschaft um die weitere Entwicklung unseres Ausfuhrhandels hegt, da

österreichische Erzeugnisse in den Ländern des Gemeinsamen Marktes steigender Diskriminierung begegnen. Nahmen diese Länder doch in den ersten neun Monaten des Jahres 1962 die Hälfte des Wertes unserer Gesamtausfuhr aufl Abgesehen von berechtigten Bedenken der Wirtschaft sind Europaidealisten treibende Elemente einer österreichischen Integrationspolitik, welche den Imperativen des Neutralitätsrechtes und der Neutralitätspolitik nicht gebührende Achtung schenken würde, daneben Kreise, denen es nie schwer fiel, auf Österreichs Unabhängigkeit zu verzichten. Weite Schichten des österreichischen Bürgertums unterliegen bewußt oder unbewußt diesen verschiedenen Einflüssen, während in der sozialistischen Linken derzeit aus parteipolitischen Gründen das Mißtrauen gegen die EWG überwiegt. Was aber in Österreich, zum Unterschied von der Schweiz und auch von anderen Weststaaten, in der Integra-tionsfrage kaum noch zutage tritt,ist eine starke Stellungnahme der traditionsbewegten Patrioten, denen vor allem die Erhaltung österreichischer Eigenart und Unabhängigkeit am Herzen liegen muß. Gewiß wird auch der österreichische Patriot das europäische Ideal unterstützen. Europa kann aber nicht als Erzeugnis einer zentralistischen, gleich-macherischen Wirtschaftsbürokratie wiedererstehen, sondern nur als Vereinigung geschichtlich gewordener politischer Individualitäten, deren ver-schiedentliche Daseinsbedingungen bei jeder einzelnen Nation gewahrt werden müssen.

,Die _ Daseinsbedingungen des 1945 wiedererstandenen unabhängigen Österreich erfordern immerwährende Neutralität. Ihnen müssen sich auch wirtschaftspolitische Erwägungen beugen, selbst wenn Opfer notwendig werden sollten. Letzten Endes gilt auch für eine realistische österreichische Wirtschaftspolitik der Satz des großen österreichischen Nationalökonomen Friedrich von W i e s e r: „Jede große Realpolitik ist immer auch Ideenpolitik.“ Unser Volk hatte nach 1918 keinen Glauben in die Lebensfähigkeit seines Staates. Es hat die Idee eines unabhängigen Österreich im Jahre 1945 wiedergefunden. Wenn wir den Glauben an sie- bewahren, wenn Österreich nur will, wird es sich einen Ersatz für etwaige Schmälerungen seiner derzeitigen wirtschaftlichen Grundlagen erarbeiten. Es wird weiterleben, mit der EWG oder mit der EFTA, noch besser mit den Ländern beider Vereinigungen zusammen, und wenn es sein muß, eine Zeitlang allein. Keine einzelne dieser Organisationen bedeutet schon die Integration des ganzen, nicht einmal die des abendländischen Europa. Ihm dürfen und sollen die Anstrengungen eines unabhängig-neutralen Österreich gelten.

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